L 13 VE 46/12

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 17 VE 6/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 VE 46/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 12. September 2012 aufgehoben. Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 6. Januar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Juli 2009 verpflichtet, bei dem Kläger als Schädigungsfolge eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung festzustellen und ihm Versorgung gemäß § 21 Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz nach einer MdE von 50 vom Hundert bzw. einem GdS von 50 ab dem 12. Juli 2007 zu gewähren. Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens im vollen Umfang zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Gewährung von Versorgungsleistungen wegen zu Unrecht in der DDR erlittener Haft.

Der 1953 geborene Kläger beantragte im Juli 2007 beim Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung und legte hierzu einen Beschluss des LG Halle/Saale vom 14. Februar 1994 vor, wonach die Verurteilung vom 24. August 1972 wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts und die weitere Verurteilung vom 15. Juni 1977 wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall in Tateinheit mit versuchtem unberechtigten Eindringen in das Grenzgebiet der DDR für rechtsstaatswidrig erklärt und aufgehoben wurden, zugleich aber die am 15. Juni 1977 ausgesprochene Verurteilung zu 8 Monaten Freiheitsstrafe und die Erkennung auf staatliche Kontrollmaßnahmen wegen verbrecherischen Diebstahls zum Nachteil sozialistischen Eigentumes bestehen gelassen wurde. Das LG Halle erkannte dem Kläger für erlittenen Freiheitsentzug vom 17. Juni 1972 bis zum 24. Januar 1973 und vom 25. März 1977 bis zum 22. März 1978 einen Anspruch auf soziale Ausgleichsleistungen zu.

Der Beklagte zog Behandlungsunterlagen des Klägers auch aus der Haftzeit bei und beauftragte den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie Dr. R mit der Erstellung eines Gutachtens. Nach Untersuchung des Klägers am 4. August 2008 gelangte der Sachverständige zu der Einschätzung, der Kläger leide unter einer Persönlichkeitsstörung mit dissozialer Komponente und ängstlich-phobisch sowie rezidivierender depressiver Symptomatik, arterieller Hypertonie und einem degenerativen HWS-Syndrom bei Spondyloarthrose C5/C6. Die Gesundheitsstörungen seien nur zu einem kleineren Teil auf die zu Unrecht erlittene Haft zurückzuführen. Schädigungsunabhängig seien insbesondere eine frühe Persönlichkeitsstörung und spätere psychosoziale Probleme in Familie und Beruf. Eine wesentliche richtungsweisende Verschlimmerung der bereits bestehenden Gesundheitsstörungen sei nicht zu erkennen, könne aber auch nicht ausgeschlossen werden. Eine PTBS – wie vom Klinikum Bad B diagnostiziert – sei nicht zu erkennen. Der GdS betrage maximal 30 v.H., wobei schädigungsbedingt maximal ein GdS von 10 v.H. sei.

Mit Bescheid vom 6. Januar 2009 stellte der Beklagte fest, dass die Gesundheitsstörung "Ängstlich (vermeidende) Persönlichkeitsstörung" durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 21 StrRehaG hervorgerufen sei, jedoch keinen GdS von wenigstens 25 bedinge und lehnte bei gleichzeitiger Zuerkennung eines Anspruchs auf Heilbehandlung eine Rentengewährung ab. Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14. Juli 2009 zurück.

Auf die am 28. Juli 2009 erhobene Klage, mit der der Kläger die Zuerkennung von Versorgungsleistungen nach einem GdS von zunächst wenigstens 50, später jedoch wenigstens 40 begehrt hat, hat das Sozialgericht das in einem rentenrechtlichen Verfahren über den Kläger erstellte Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. C vom 27. April 2010 beigezogen. Darin hat der Sachverständige Hinweise für eine Persönlichkeitsschädigung in der Kindheit festgestellt, die er indes nicht näher hat spezifizieren können. Beim Kläger bestehe eine chronisch rezidivierende Depression mit erhöhten Ängsten und Somatisierungstendenzen. Das Sozialgericht hat daraufhin ein Gutachten des Facharztes für Psychiatrie/Neurologie Dr. K eingeholt. In dessen Gutachten vom 30. November 2011 ist der Sachverständige zu der Einschätzung gelangt, eine PTBS sei beim Kläger nicht gegeben, es handle sich um eine Persönlichkeitsstörung mit dissozialer und emotional-instabiler Charakteristik, eine Angsterkrankung mit phobischen Zügen, hauptsächlich Agoraphobie sowie rezidivierende depressive Episoden, gegenwärtig Disthymie. Die ängstlich phobischen und depressiven Gesundheitsstörungen seien mit Wahrscheinlichkeit durch die Haftzeit verursacht worden. Die MdE/derGdS für das Gebiet Psychiatrie betrage 50 ab 2007 und 40 ab dem 1. Januar 2009.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 12. September 2012, dem Kläger zugestellt am 15. Oktober 2012, abgewiesen und ist hierzu im Wesentlichen den Ausführungen des vom Beklagten beauftragten Sachverständigen Dr. R gefolgt.

Mit der am 7. November 2012 erhobenen Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. K. In dessen Gutachten vom 18. August 2014 ist der Sachverständige den Einschätzungen des Dr. K weitgehend gefolgt, insbesondere zur Kausalität der Haft, hat jedoch das Vorliegen einer PTBS angenommen. Den GdS für das psychische Leiden sieht er nach Hinzutreten der depressiven Symptomatik bei 50. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten Bezug genommen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 12. September 2012 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung seines Bescheides vom 6. Januar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Juli 2009 zu verpflichten, beim Kläger als Schädigungsfolge eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung festzustellen und ihm Versorgung gemäß § 21 Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 50 ab dem 12. Juli 2007 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise, ein weiteres medizinisches Sachverständigengutachten auf dem Gebiet der Psychiatrie einzuholen, das sich mit den Differenzen der drei Sachverständigen ausführlich auseinandersetzt, hilfsweise, die Sachverständigen Dr. R und Dr. K in einem weiteren Termin zu diesen Differenzen zu hören.

Er hält weiterhin an der Ansicht des von ihm beauftragten Facharztes fest.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist auch begründet, denn die Ablehnung der begehrten Feststellung und Versorgung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Anerkennung einer andauernden Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung als Schädigungsfolge und Gewährung von Versorgungsleistungen nach einer MdE von 50 v.H. bzw. einem GdS von 50 aus § 21 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 StrRehaG i.V.m. § 9 BVG. Danach erhält ein Betroffener, der infolge einer Freiheitsentziehung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen dieser Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes, wobei zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges genügt.

Im Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme ist der Senat davon überzeugt, dass beim Kläger eine andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung vorliegt. Der Senat folgt insoweit der Beurteilung durch den Sachverständigen Dr. Kr und sieht keinen Anlass für die vom Beklagten beantragte Beweiserhebung durch Einholung eines weiteren medizinischen Gutachtens. Auch war weder die Anhörung des außergerichtlich im Auftrag des Beklagten tätig gewordenen Facharztes Dr. R noch des in erster Instanz bestellten Sachverständigen Dr. K geboten. Das Fragerecht nach § 116 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bezieht sich weder auf Verwaltungs- oder Privatgutachten, noch auf Gutachten, die in einer anderen Instanz erstattet worden sind.

Der Sachverständige Dr. Kr hat nachvollziehbar und schlüssig dargelegt, aus welchen Gründen die von Vorgutachtern gestellte Diagnose einer Persönlichkeitsstörung bzw. dissozialen Persönlichkeitsstörung nicht den hierfür maßgeblichen Kriterien nach ICD-10 entspricht. Überzeugend ist insoweit insbesondere der Hinweis darauf, dass sich der Kläger durch Inhaftierung als Reaktion auf seine frühe Delinquenz hat beeindrucken lassen, also kein Andauern abnormer Verhaltensmuster festzustellen war. Zutreffend ist diesbezüglich der Einwand gegenüber dem Vorgutachter Dr. K, dass die wiederholte Inhaftierung als Jugendlicher gerade nicht auf einer erneuten Straffälligkeit nach der ersten Haftentlassung beruhte, sondern auf dem erst späteren Bekanntwerden weiterer, bereits vor der ersten Inhaftierung begangener Straftaten.

Der Senat hält weiter es weiter für wahrscheinlich, dass die zu Unrecht erlittene Haft wesentliche Ursache für die Gesundheitsstörung war. Wenn auch auf der Grundlage unterschiedlicher Annahmen über das festzustellende Krankheitsbild sind sich insoweit die gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. K und Dr. Kr darin einig, dass andere Ursachen als die unrechtmäßige Inhaftierung ernsthaft nicht in Betracht zu ziehen und insbesondere die beiden während der Haft unternommenen Suizidversuche des Klägers ein wesentlicher Indikator dafür seien, dass die psychische Gestörtheit in engem ursächlichen Zusammenhang mit der Haftsituation stehe. Der Sachverständige Dr. K legt insoweit eingängig dar, dass die sonstigen persönlichkeitsprägenden Konfliktsituationen im Leben des Klägers, namentlich im familiären Bereich im Sinne einer Schlüssel-Schloss-Konstellation die Grundlage dafür gebildet haben, dass der Kläger für das Erleiden der mit der ungerechtfertigten Haftsituation verbundenen Drangsalierungen sensibilisiert war. Der Sachverständige Dr. Kr fasst es prägnant zusammen, wenn er formuliert: "Nicht die biographischen Krisen und mögliche krankhafte Persönlichkeitsanteile lösen die Problematik aus, sondern die biographischen Probleme sind als Folge der Erkrankung zu sehen." Besonderes Gewicht für die Überzeugungsbildung des Senats hat insoweit die gesteigerte Sachkunde und langjährige Erfahrung des Dr. Kr bei der Beurteilung der Folgen von Haftsituationen in psychischer Hinsicht aus der Tätigkeit als Leiter eines Krankenhauses des Maßregelvollzugs.

Schließlich bedingt die erlittene Schädigung beim Kläger im hier maßgeblichen Zeitraum auch eine MdE von 50 v.H. bzw. einen GdS von 50. Hinsichtlich der Schwere der beim Kläger festzustellenden Gesundheitsstörung im psychischen Bereich sind sich die gerichtlich bestellten Sachverständigen für die Zeit bis zum Inkrafttreten der Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV) einig und bemessen ihn in der genannten Höhe. Soweit der Sachverständige Dr. K den Schweregrad abweichend von Dr. Kr ab dem 1. Januar 2009 mit einem GdS von lediglich 40 bemisst, folgt dem der Senat nicht, denn es ist keine Änderung der Situation des Klägers eingetreten. Auch liegt keine Veränderung in den Maßstäben der bis zum 31. Dezember 2008 anwendbaren AHP (hier Ziffer 26.3: schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit MdE-Grad 50-70) und den seither anwendbaren Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (hier B 3.7: schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einer GdS-Spanne 50-70) vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe gem. § 160 Abs. 2 SGG für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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