Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 17 SB 93/08
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 19/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Cott-bus vom 26. Oktober 2010 wird zurückgewiesen, soweit der Rechtsstreit nicht bereits erledigt war. Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten im vorliegenden – abgetrennten – Berufungsverfahren über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßen-verkehr).
Bei dem 1950 geborenen Kläger war 2004 ein Gesamt-GdB von 30 festgestellt worden. Auf dessen Verschlimmerungsantrag vom 7. August 2007 stellte der Beklagte bei ihm nach Auswertung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen mit Bescheid vom 12. Dezember 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 2008 einen Grad der Behinderung von 40 fest und lehnte die Zuerkennung der beantragten Merkzeichens "G", "B", "aG" und "RF" ab. Dem legte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
- Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, operierte Bandscheibe (Einzel-GdB von 30), - Taubheit des rechten Ohres, Schwerhörigkeit links, Ohrgeräusche links (Tinnitus) (Einzel-GdB von 30), - Funktionsbehinderung des linken Kniegelenks (Einzel-GdB von 25), - chronisches Ekzem (Einzel-GdB von 10), - Diabetes mellitus Typ II (mit Diät einstellbar) (Einzel-GdB von 10).
Mit seiner Klage bei dem Sozialgericht Cottbus hat Kläger zunächst die Feststellung eines GdB von mindestens 50 sowie des Vorliegens der Voraussetzungen für die Merkzeichen ‚G‘" und "aG" begehrt. Das Sozialgericht hat neben Befundberichten und medizinischen Unterlagen, u.a. dem Gutachten des Hautarztes Dr. S vom 2. März 2008 aus einem Rechtsstreit des Klägers gegen die Berufsgenossenschaft, das Gutachten des Sozialmediziners Dr. A vom 26. Januar 2010 mit ergänzender Stellungnahme vom 20. Juli 2010 eingeholt, der als Funktionsbeeinträchtigungen
- Funktionsbehinderung der Wirbelsäule bei Postdiskektomiesyndrom (Einzel-GdB von 30), - Taubheit des rechten Ohres, Schwerhörigkeit links, Ohrgeräusche links (Tinnitus) (Einzel-GdB von 30), - chronisches Kontaktekzem (Einzel-GdB von 30), - Diabetes mellitus Typ II (Einzel-GdB von 20), - Funktionsbehinderung des linken Kniegelenks (Einzel-GdB von 20), - arterielle Hypertonie mit Organbeteiligung (Einzel-GdB von 10)
festgestellt und für den Zeitraum ab Februar 2008 mit einem Gesamt-GdB von 50 bewertet hat.
In der mündlichen Verhandlung vom 26. Oktober 2010 hat der Kläger sein Begehren auf die Feststellung eines GdB von 50 und die Zuerkennung des Merkzeichens "G" ab Februar 2008 beschränkt. Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 26. Oktober 2010 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass ein höherer Gesamt-GdB von 40 nicht zu rechtfertigen sei. Es ist hierbei im Wesentlichen den Einwänden des Beklagten gefolgt, das chronische Ekzem, der Diabetes mellitus und die Hypertonie seinen jeweils nur mit einem Einzel-GdB von 10 zu berücksichtigen.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers (Az. L 13 SB 296/10), mit der er sein Begehren weiter verfolgt hat. Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Befundberichts der Hausärztin Dr. Z vom 9. Januar 2012 und des Gutachtens der Hautärztin Dr. R vom 8. Oktober 2014. Die Sachverständige hat auf ihrem Fachgebiet die Hautveränderungen sämtlicher Finger mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet.
Der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vom 15. Januar 2015 mit Wirkung ab Februar 2008 das Vorliegen eines Gesamt-GdB von 50 anerkannt. Hinsichtlich des Merkzeichens "G" hat der Senat mit Beschluss vom 15. Januar 2015 den Rechtsstreit abgetrennt.
Im vorliegenden Verfahren hat der Senat das Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. W vom 31. Mai 2015 eingeholt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 26. Oktober 2010 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 12. Dezember 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 2008 in der Fassung des angenommenen Teilanerkenntnisses vom 15. Januar 2015 zu verpflichten, bei ihm mit Wirkung ab Februar 2008 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, dass die sozialgerichtliche Entscheidung zutreffend ist.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist, soweit der Rechtsstreit nicht bereits erledigt war, unbegründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G".
Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX).
Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe BSG, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 7/06 R –, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die ge-sundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, – 9 RVs 1/96 –, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).
Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter, und zwar unabhängig davon, ob – wie überwiegend vertreten wird (so Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz, GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu § 69 SGB IX; LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 – L 8 SB 3119/08 – in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 – L 8 SB 2723/13 –; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –; offen gelassen von: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 – L 10 SB 154/12 –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 – L 13 SB 12/08 –) – die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" in Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen "G" unverändert aus den AHP übernommen hat. Den genannten Bedenken hat der Gesetzgeber inzwischen mit dem Gesetz vom 7. Januar 2015 (BGBl. II S. 15) Rechnung getragen, indem er in § 70 Abs. 2 SGB IX mit Wirkung ab 15. Januar 2015 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt hat, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts (Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21) verbleibt es für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung bei der bisherigen Rechtslage (vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/3190, S. 5).
Die Aufzählung der Regelbeispiele in Teil D Nr. 1d bis Nr. 1f der Anlage zu § 2 VersMedV enthält indes keine abschließende Listung der in Betracht kommenden Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer Fachrichtungen: Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat – über die genannten Regelbeispiele hin-ausgehend – vielmehr auch der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist (siehe BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21). Denn der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventions-rechtlichen Diskriminierungsverbots (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; Art. 5 Abs. 2 UN-BRK) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 a.a.O. unter Hinweis auf das Urteil vom 13.8.1997 – 9 RVs 1/96 –, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).
Gemessen an diesen Maßstäben ist der Kläger nicht erheblich gehbehindert.
Der Sachverständige Dr. W hat in seinem Gutachten vom 31. Mai 2015 überzeugend herausgearbeitet, dass der Kläger weder die medizinischen Voraussetzungen der genannten Regelbeispiele erfüllt noch unter Erkrankungen leidet, die den in Teil D Nr. 1d bis Nr. 1f der Anlage zu § 2 VersMedV genannten Regelfällen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion gleichzustellen sind. Insbesondere lassen sich weder aus neurologischer noch aus orthopädischer Sicht die von dem Kläger behaupteten Instabilitäten in beiden Knien erklären oder nachvollziehen. Der Senat folgt dieser Einschätzung des Gutachters. Hinzu kommt, dass der Kläger seinen eigenen Angaben zufolge in der Lage ist, mit dem Fahrrad eine Strecke von ca. 5 bis 8 km in einer halben Stunde zurückzulegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten im vorliegenden – abgetrennten – Berufungsverfahren über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßen-verkehr).
Bei dem 1950 geborenen Kläger war 2004 ein Gesamt-GdB von 30 festgestellt worden. Auf dessen Verschlimmerungsantrag vom 7. August 2007 stellte der Beklagte bei ihm nach Auswertung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen mit Bescheid vom 12. Dezember 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 2008 einen Grad der Behinderung von 40 fest und lehnte die Zuerkennung der beantragten Merkzeichens "G", "B", "aG" und "RF" ab. Dem legte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
- Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, operierte Bandscheibe (Einzel-GdB von 30), - Taubheit des rechten Ohres, Schwerhörigkeit links, Ohrgeräusche links (Tinnitus) (Einzel-GdB von 30), - Funktionsbehinderung des linken Kniegelenks (Einzel-GdB von 25), - chronisches Ekzem (Einzel-GdB von 10), - Diabetes mellitus Typ II (mit Diät einstellbar) (Einzel-GdB von 10).
Mit seiner Klage bei dem Sozialgericht Cottbus hat Kläger zunächst die Feststellung eines GdB von mindestens 50 sowie des Vorliegens der Voraussetzungen für die Merkzeichen ‚G‘" und "aG" begehrt. Das Sozialgericht hat neben Befundberichten und medizinischen Unterlagen, u.a. dem Gutachten des Hautarztes Dr. S vom 2. März 2008 aus einem Rechtsstreit des Klägers gegen die Berufsgenossenschaft, das Gutachten des Sozialmediziners Dr. A vom 26. Januar 2010 mit ergänzender Stellungnahme vom 20. Juli 2010 eingeholt, der als Funktionsbeeinträchtigungen
- Funktionsbehinderung der Wirbelsäule bei Postdiskektomiesyndrom (Einzel-GdB von 30), - Taubheit des rechten Ohres, Schwerhörigkeit links, Ohrgeräusche links (Tinnitus) (Einzel-GdB von 30), - chronisches Kontaktekzem (Einzel-GdB von 30), - Diabetes mellitus Typ II (Einzel-GdB von 20), - Funktionsbehinderung des linken Kniegelenks (Einzel-GdB von 20), - arterielle Hypertonie mit Organbeteiligung (Einzel-GdB von 10)
festgestellt und für den Zeitraum ab Februar 2008 mit einem Gesamt-GdB von 50 bewertet hat.
In der mündlichen Verhandlung vom 26. Oktober 2010 hat der Kläger sein Begehren auf die Feststellung eines GdB von 50 und die Zuerkennung des Merkzeichens "G" ab Februar 2008 beschränkt. Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 26. Oktober 2010 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass ein höherer Gesamt-GdB von 40 nicht zu rechtfertigen sei. Es ist hierbei im Wesentlichen den Einwänden des Beklagten gefolgt, das chronische Ekzem, der Diabetes mellitus und die Hypertonie seinen jeweils nur mit einem Einzel-GdB von 10 zu berücksichtigen.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers (Az. L 13 SB 296/10), mit der er sein Begehren weiter verfolgt hat. Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Befundberichts der Hausärztin Dr. Z vom 9. Januar 2012 und des Gutachtens der Hautärztin Dr. R vom 8. Oktober 2014. Die Sachverständige hat auf ihrem Fachgebiet die Hautveränderungen sämtlicher Finger mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet.
Der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vom 15. Januar 2015 mit Wirkung ab Februar 2008 das Vorliegen eines Gesamt-GdB von 50 anerkannt. Hinsichtlich des Merkzeichens "G" hat der Senat mit Beschluss vom 15. Januar 2015 den Rechtsstreit abgetrennt.
Im vorliegenden Verfahren hat der Senat das Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. W vom 31. Mai 2015 eingeholt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 26. Oktober 2010 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 12. Dezember 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 2008 in der Fassung des angenommenen Teilanerkenntnisses vom 15. Januar 2015 zu verpflichten, bei ihm mit Wirkung ab Februar 2008 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, dass die sozialgerichtliche Entscheidung zutreffend ist.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist, soweit der Rechtsstreit nicht bereits erledigt war, unbegründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G".
Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX).
Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe BSG, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 7/06 R –, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die ge-sundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, – 9 RVs 1/96 –, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).
Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter, und zwar unabhängig davon, ob – wie überwiegend vertreten wird (so Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz, GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu § 69 SGB IX; LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 – L 8 SB 3119/08 – in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 – L 8 SB 2723/13 –; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –; offen gelassen von: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 – L 10 SB 154/12 –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 – L 13 SB 12/08 –) – die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" in Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen "G" unverändert aus den AHP übernommen hat. Den genannten Bedenken hat der Gesetzgeber inzwischen mit dem Gesetz vom 7. Januar 2015 (BGBl. II S. 15) Rechnung getragen, indem er in § 70 Abs. 2 SGB IX mit Wirkung ab 15. Januar 2015 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt hat, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts (Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21) verbleibt es für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung bei der bisherigen Rechtslage (vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/3190, S. 5).
Die Aufzählung der Regelbeispiele in Teil D Nr. 1d bis Nr. 1f der Anlage zu § 2 VersMedV enthält indes keine abschließende Listung der in Betracht kommenden Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer Fachrichtungen: Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat – über die genannten Regelbeispiele hin-ausgehend – vielmehr auch der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist (siehe BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21). Denn der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventions-rechtlichen Diskriminierungsverbots (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; Art. 5 Abs. 2 UN-BRK) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 a.a.O. unter Hinweis auf das Urteil vom 13.8.1997 – 9 RVs 1/96 –, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).
Gemessen an diesen Maßstäben ist der Kläger nicht erheblich gehbehindert.
Der Sachverständige Dr. W hat in seinem Gutachten vom 31. Mai 2015 überzeugend herausgearbeitet, dass der Kläger weder die medizinischen Voraussetzungen der genannten Regelbeispiele erfüllt noch unter Erkrankungen leidet, die den in Teil D Nr. 1d bis Nr. 1f der Anlage zu § 2 VersMedV genannten Regelfällen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion gleichzustellen sind. Insbesondere lassen sich weder aus neurologischer noch aus orthopädischer Sicht die von dem Kläger behaupteten Instabilitäten in beiden Knien erklären oder nachvollziehen. Der Senat folgt dieser Einschätzung des Gutachters. Hinzu kommt, dass der Kläger seinen eigenen Angaben zufolge in der Lage ist, mit dem Fahrrad eine Strecke von ca. 5 bis 8 km in einer halben Stunde zurückzulegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
Login
BRB
Saved