L 13 SB 8/15

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 170 SB 2001/12
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 8/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. November 2014 wird zurückgewiesen. Eine Kostenerstattung findet auch für das Berufungsverfahren nicht statt. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren noch um die Zuerkennung der Merkzeichens G.

Im Jahr 2000 war bei dem 1947 geborenen Kläger ein Grad der Behinderung von 50 festgestellt worden. Am 13. Juli 2011 stellte der Kläger einen Verschlimmerungsantrag und begehrte die Zuerkennung der Merkzeichen G und RF. Der Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 24. Januar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 2012 ab: Es bestände bei dem Kläger kein Grad der Behinderung (GdB) von 80, auch die Voraussetzungen der Merkzeichen G und RF lägen nicht vor. Dem legte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:

a) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschäden, Nervenwurzelreizerscheinungen der Wirbelsäule (Einzel-GdB 30), b) Schwerhörigkeit und Ohrgeräusche, Tinnitus (Einzel-GdB 30), c) Bluthochdruck (Einzel-GdB 20), d) Nasenseptumdeviation, rezidivierende Nasennebenhöhlenentzündung (Einzel-GdB 10), e) Funktionsbehinderung des Hüftgelenks beidseits, des Kniegelenks beidseits, Knorpelschäden am Kniegelenk, Funktionsbehinderung des oberen Sprunggelenks beidseits, Funktionseinschränkung des Fußes beidseits, chronische venöse Insuffizienz (Krampfaderleiden des Beines beidseits) (Einzel-GdB 10), f) Funktionsbehinderung des Schultergelenks und des Ellenbogengelenkes links (Einzel-GdB 10), g) Sehminderung (Einzel-GdB 10), h) Reflux der Speiseröhre, Gallensteinleiden, Hämorrhoidialleiden (Einzel-GdB 10).

Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger die Merkzeichen G und RF begehrt, hilfsweise einen Grad der Behinderung von 80. Das Sozialgericht hat das Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. Sch vom 8. Oktober 2013 eingeholt, der den Gesamt-GdB zunächst auf 50 eingeschätzt hat, in der ergänzenden Stellungnahme vom 18. Februar 2014 dagegen einen GesamtGdB von 40 für angemessen gehalten hat. Mit Urteil vom 10. November 2014, das ohne mündliche Verhandlung ergangen ist, hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er sein Begehren zunächst weiterverfolgt, im Erörterungstermin vor dem Berichterstatter dann aber auf die Zuerkennung des Merkzeichens G reduziert hat.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des praktischen Arztes M vom 6. Juli 2015 mit ergänzender Stellungnahme vom 24. August 2015. Der Sachverständige hat nach Untersuchung des Klägers am 12. Juni 2015 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G verneint.

Der Kläger hat anschließend diverse ärztliche Unterlagen, u.a. den MRT-Befund vom 2. November 2015 und den Arztbrief des Vivantes Klinikums N vom 17. Februar 2016 bei Gericht eingereicht.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. November 2014 zu ändern sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 24. Januar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 2012 zu verpflichten, bei ihm mit Wirkung ab dem 13. Juli 2011 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist, soweit sie fortgeführt wird, unbegründet.

Das Sozialgericht hat insoweit die Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen. Die Entscheidung des Beklagten in dem angefochtenen Bescheid vom 24. Januar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 2012, den Antrag auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G abzulehnen ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Denn der Kläger hat hierauf keinen Anspruch.

Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX).

Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe BSG, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 7/06 R –, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die ge-sundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, – 9 RVs 1/96 –, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).

Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter, und zwar unabhängig davon, ob – wie überwiegend vertreten wird (so Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz, GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu § 69 SGB IX; LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 – L 8 SB 3119/08 – in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 – L 8 SB 2723/13 –; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –; offen gelassen von: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 – L 10 SB 154/12 –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 – L 13 SB 12/08 –) – die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" in Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen "G" unverändert aus den AHP übernommen hat. Den genannten Bedenken hat der Gesetzgeber inzwischen mit dem Gesetz vom 7. Januar 2015 (BGBl. II S. 15) Rechnung getragen, indem er in § 70 Abs. 2 SGB IX mit Wirkung ab 15. Januar 2015 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt hat, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts (Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21) verbleibt es für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung bei der bisherigen Rechtslage (vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/3190, S. 5).

Die Aufzählung der Regelbeispiele in Teil D Nr. 1d bis Nr. 1f der Anlage zu § 2 VersMedV enthält indes keine abschließende Listung der in Betracht kommenden Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer Fachrichtungen: Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat – über die genannten Regelbeispiele hin-ausgehend – vielmehr auch der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist (siehe BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21). Denn der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventions-rechtlichen Diskriminierungsverbots (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; Art. 5 Abs. 2 UN-BRK) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 a.a.O. unter Hinweis auf das Urteil vom 13.8.1997 – 9 RVs 1/96 –, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).

Gemessen an diesen Maßstäben ist der Kläger nicht erheblich gehbehindert.

Der Sachverständige M hat in seinem Gutachten nachvollziehbar herausgearbeitet, dass der Kläger die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G nicht erfüllt. Denn nach der überzeugenden Einschätzung des Gut-achters, der sich der Senat anschließt, ist das Gehvermögen des Klägers nicht behinderungsbedingt so weit eingeschränkt, dass er nicht Wegstrecken im Ortsverkehr in adäquater Zeit zu Fuß zurücklegen könnte. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vorgelegten ärztlichen Unterlagen, die keine Hinweise auf relevante Funktionseinschränkungen ergeben, die nicht bereits von dem Sachverständigen gewürdigt worden sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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