L 7 KA 51/15 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
7
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 79 KA 4101/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 7 KA 51/15 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1.) Die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit einer Sonderbedarfszulassung kommt nur dann in Betracht, wenn das öffentliche oder ein überwiegendes privates Interesse die Anordnung der sofortigen Vollziehung dringend gebieten, weil die Versorgung der Versicherten ansonsten nicht sichergestellt erscheint oder der betroffene Vertragsarzt oder Vertragspsychotherapeut in seiner beruflichen Existenz aus einem Grund gefährdet ist, der nicht in seinen Verantwortungsbereich fällt.

2.) Wegen der mit der Anordnung der sofortigen Vollziehung für das System der gesetzlichen Krankenversicherung jedenfalls für den Zeitraum der Geltung der Anordnungsentscheidung verbundenen Vorwegnahme der Hauptsache, kommt eine Anordnung nur dann in Betracht, wenn die dafür sprechenden Gründe erheblich über diejenigen hinausgehen, die die Erteilung der Sonderbedarfszulassung selbst rechtfertigen.

3.) Anders als bei der Zulassungsentscheidung selbst, erscheint es bedenkenswert, vor der vom Gesetz nur in Ausnahmefällen vorgesehenen Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit einer Sonderbedarfszulassung grundsätzlich das gesamte vorhandene Versorgungsangebot in den Blick zu nehmen.
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 14. Oktober 2015 wird zurückgewiesen. Die Antragstellerin trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen. Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 64.710,00 EUR festgesetzt.

Gründe:

1.) Nach § 155 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheidet der Vorsitzende über die Beschwerde allein, weil es sich um einen dringenden Fall i.S.d. genannten Vorschrift handelt. Von der Entscheidung, ob die sofortige Vollziehung der Zulassungsentscheidung des Antragsgegners anzuordnen ist, hängt es ab, ob die Antragstellerin von der Sonderbedarfszulassung des Antragsgegners jetzt sofort Gebrauch machen darf, so dass im Hinblick auf die Dauer der Anhängigkeit der Sache nunmehr sofort über die Beschwerde zu entscheiden war.

2.) Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 14. Oktober 2015 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat es zu Recht abgelehnt, dem Antrag der Antragstellerin zu entsprechen, die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Antragsgegners vom 10. Juni 2015 anzuordnen, mit dem der Antragsgegner der Antragstellerin eine Sonderbedarfszulassung als Fachärztin für Innere Medizin mit der Schwerpunktbezeichnung Rheumatologie erteilt hat.

3.) Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen. Im vorliegenden Fall hatte die Klage der Beigeladenen zu 1) gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 10. Juni 2015 aufschiebende Wirkung [vgl. § 97 Abs. 4 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V)] mit der Folge, dass die Antragstellerin von der Zulassung bis zum Eintritt der Bestandskraft des Zulassungsbescheides grundsätzlich keinen Gebrauch machen darf, solange der Antragsgegner gemäß § 97 Abs. 4 SGB V oder das Sozialgericht gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG die sofortige Vollziehung des Bescheides nicht anordnet. Während der Antragsgegner die sofortige Vollziehung des Zulassungsbescheides ausschließlich im öffentlichen Interesse anordnen darf, kann das Sozialgericht die sofortige Vollziehung sowohl aus Gründen des öffentlichen Interesses als auch dann anordnen, wenn sie im überwiegenden Interesse eines Beteiligten erforderlich ist (vgl. hierzu § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG). Diese Voraussetzungen liegen hier jedoch entgegen der Auffassung der Antragstellerin nicht vor. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist weder aus Gründen des öffentlichen Interesses noch wegen des Vorliegens überwiegender Interessen der Antragstellerin geboten.

4.) Welche Anforderungen an das Vorliegen öffentlicher oder überwiegender privater Interessen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsaktes bei der von den Sozialgerichten vorzunehmenden Interessenabwägung zu stellen sind, hängt zunächst davon ab, ob sich der Verwaltungsakt im Rahmen der Prüfung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren als (offensichtlich) rechtmäßig erweist oder ob das Obsiegen des Antragstellers im Hauptsacheverfahren unsicher ist; ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig, scheidet die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides aus. Denn an der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes besteht weder ein öffentliches noch ein überwiegendes privates Interesse. Erweist sich der Verwaltungsakt als rechtmäßig, sind die Anforderungen an das Vorliegen eines öffentlichen oder eines überwiegenden privaten Interesses als Voraussetzung für die Anordnung der sofortigen Vollziehung geringer als wenn der Ausgang des Hauptsacheverfahrens zum Zeitpunkt der Entscheidung der Sozialgerichte offen ist: Im letzten Fall sind an das Vorliegen eines öffentlichen Interesses oder eines überwiegenden privaten Interesses besonders hohe Anforderungen zustellen, weil der Gesetzgeber in §§ 96 Abs. 4 Satz 2 und 97 Abs. 4 SGB V als Regelfall das Eintreten des Suspensiveffekts bestimmt hat. In jedem Fall gilt: Nur wenn das öffentliche oder ein überwiegendes privates Interesse die Anordnung der sofortigen Vollziehung dringend gebieten, weil die Versorgung der Versicherten ansonsten nicht sichergestellt erscheint oder der betroffene Vertragsarzt oder Vertragspsychotherapeut in seiner beruflichen Existenz aus einem Grund gefährdet ist, der nicht in seinen Verantwortungsbereich fällt, kommt eine Anordnung der sofortigen Vollziehung in Betracht. Diese Voraussetzungen liegen hier jedoch nicht vor. Wegen der mit der Anordnung der sofortigen Vollziehung für das System der gesetzlichen Krankenversicherung jedenfalls für den Zeitraum der Geltung der Anordnungsentscheidung verbundenen Vorwegnahme der Hauptsache, kommt eine Anordnung nur dann in Betracht, wenn die dafür sprechenden Gründe erheblich über diejenigen hinausgehen, die die Erteilung der Sonderbedarfszulassung selbst rechtfertigen.

a) Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Sonderbedarfszulassung legt der Senat seine Urteile vom 23. Oktober 2013 ( L 7 KA 123/11 und L 7 KA 86/12; juris) zugrunde, die grundsätzlich für die Rechtmäßigkeit der erteilten Sonderbedarfszulassung sprechen dürften, weil die bereits zugelassenen Fachärzte für Innere Medizin mit der Schwerpunktbezeichnung Rheumatologie im Zulassungsbezirk Berlin keine ausreichende Versorgung gewährleisten dürften. Dass sich die tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse, die den Urteilen des Senats zugrunde lagen, zwischen Oktober 2013 und dem Juni 2015 so gravierend verändert haben, dass eine Sonderbedarfszulassung im vorliegenden Fall nicht erteilt werden durfte, ist im Rahmen des Beschwerdeverfahrens weder erkennbar geworden noch haben das die Beteiligten überzeugend dargelegt.

b) Ebenso wenig sind allerdings ins Gewicht fallende Gründe ersichtlich, die über die hinausgehen, die die Erteilung einer Sonderbedarfszulassung selbst rechtfertigen und die die Anordnung der sofortigen Vollziehung tragen würden. Der Senat stimmt mit dem Sozialgericht darin überein, dass die Antragstellerin bereits in ihrer derzeitigen hausärztlichen Tätigkeit mit einem halben Versorgungsauftrag rheumakranke Versicherte entweder selbst behandeln oder aber zur erforderlichen Versorgung weiterüberweisen kann. Vor diesem Hintergrund spricht nichts dafür, dass die Zulassung als internistische Rheumatologin mit einem weiteren halben Versorgungsauftrag die Versorgungslage erheblich und nachhaltig verbessern würde. Es erscheint in diesem Zusammenhang auch nicht schlechthin ausgeschlossen, dass für eine Weiterversorgung nach einer ersten internistischen Diagnosestellung und medikamentösen Behandlung durch die Antragstellerin zumindest teilweise nicht nur internistische Rheumatologen, sondern auch niedergelassene orthopädische Rheumatologen in Betracht kommen. Zu bedenken sein könnte auch, ob eine Versorgung im Rahmen der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung nach § 116b Abs. 1 Nr. 1 c) Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V), in Hochschulambulanzen sowie ggf. durch ermächtigte Krankenhausärzte möglich wären. Denn anders als bei der Zulassungsentscheidung selbst, erscheint es bedenkenswert, vor der vom Gesetz nur in Ausnahmefällen vorgesehenen Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit einer Sonderbedarfszulassung grundsätzlich das gesamte vorhandene Versorgungsangebot in den Blick zu nehmen. In diesem Fall müsste die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit nur dann erfolgen, wenn sich auch unter Berücksichtigung aller vorhandenen Versorgungsalternativen eine Versorgungslücke nicht einmal für die Übergangszeit zwischen der Zulassungsentscheidung und dem Eintritt ihrer Bestandskraft überbrücken ließe. Auch dafür sind keine ausreichenden Anhaltspunkte ersichtlich.

c) Schließlich erfordert auch das private Interesse der Antragstellerin nicht die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Sonderbedarfszulassung. Ihre schützenswerten Interessen werden durch die Versagung der Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht gravierend beeinträchtigt oder gar verletzt. Denn sie kann bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache ihre vertragsärztliche Tätigkeit im Anstellungsverhältnis, wenn auch nur mit einem halben Versorgungsauftrag, fortsetzen. Es lässt sich deshalb nicht feststellen, dass sie in ihrer beruflichen Existenz aus einem Grund gefährdet ist, der - anders als die Tätigkeit mit einem halben Versorgungsauftrag - nicht in ihren Verantwortungsbereich fällt. Die vorgetragenen finanziellen Einbußen wiegen deshalb nicht schwer genug, um abweichend vom gesetzlichen Regelfall die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Zulassungsentscheidung zu rechtfertigen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 197a SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO und entspricht dem Ausgang in der Sache. Die Wertfestsetzung beruht auf §§ 52, 53 GKG und ist vom Senat auf der Grundlage der Angaben der Antragstellerin vorgenommen worden. Der Senat trägt bei der Wertfestsetzung der Vorläufigkeit seiner Entscheidung dadurch Rechnung, dass nur der Jahresbetrag des erwarteten Honorars Berücksichtigung findet. Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden (vgl. § 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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