L 15 SO 273/16 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
15
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 195 SO 1402/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 15 SO 273/16 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. Oktober 2016 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab Zugang dieses Beschlusses per Telefax vorläufig bis zum 31. Mai 2017, längstens jedoch bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, Hilfe zur Pflege über den mit Bescheid vom 25. Oktober 2016 gewährten Umfang hinaus in folgendem Umfang zu gewähren: (LK = Leistungskomplex) LK 9 (Begleitung außer Haus): 3 mal monatlich gegen Nachweis LK 11a (kleine Reinigung): 3 mal wöchentlich LK 13 (Einkaufen): 1 mal wöchentlich (insgesamt 2 mal wöchentlich) LK 14 (warme Mahlzeit kochen): 3 mal wöchentlich Die Pflege kann auch, solange die Nebenbestimmung in dem Bescheid des Antragsgegners vom 25. Oktober 2016, die Pflegeleistungen dürften nicht durch den Pflegedienst "M GmbH" erbracht werden, nicht bestandskräftig ist, durch diesen Pflegedienst erbracht werden. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die Antragstellerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. Oktober 2016, mit dem dieses es abgelehnt hat, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Hilfe zur Pflege zu bewilligen, und zwar in dem bis zum 30. November 2015 bewilligten Umfang.

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Antragstellerin hat Anspruch auf - vorläufige - Bewilligung von Hilfe zur Pflege in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang für die Zeit ab der Entscheidung des Senats bis zum 31. Mai 2017.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis statthaft, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Voraussetzung hierfür ist regelmäßig, dass sowohl ein Anordnungsanspruch, d.h. ein materieller Leistungsanspruch, als auch ein Anordnungsgrund, d.h. eine Eilbedürftigkeit, gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht ist.

Der Antragstellerin sind Leistungen zur Pflege (§§ 19 Abs. 3, 61 Sozialgesetzbuch/Zwölftes Buch - SGB XII -) über das mit Bescheid vom 25. Oktober 2016 nunmehr gewährte Maß hinaus auf Grund einer Folgenabwägung zu bewilligen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seiner Entscheidung vom 12. Mai 2005 (Az. 1 BvR 569/05, dokumentiert in juris, weitere Fundstelle NVwZ 2005, 927 bis 929) ausgeführt, dass Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen könnten, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären" (BVerfG, a.a.O., juris Rn. 24). Das BVerfG führt weiter aus: "Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern" (vgl. BVerfG, a.a.O., juris Rn. 26). Die Folgenabwägung im vorliegenden Fall geht zu Gunsten der Antragstellerin aus. Die Nachteile, die ihr entstünden, wenn sie für einen längeren Zeitraum ohne die notwendigen Pflegeleistungen leben müsste, sind sehr viel gravierender als die Nachteile der öffentlichen Hand, die rein fiskalischer Natur sind und die entstehen, wenn der Antragstellerin die Leistungen zur Pflege tatsächlich nicht zustehen.

Die Aufklärung des Sachverhaltes ist dem Senat im einstweiligen Rechtsschutzverfahren in vertretbarer Zeit nicht möglich. Es dürften Ermittlungen, insbesondere die Einholung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, erforderlich sein. Der Pflegebedarf kann nach Einschätzung des Senats in diesem Fall nicht allein auf Grund der vorliegenden Individuellen ambulanten Pflegegesamtplanung (IAP) vom 4. Dezember 2015 festgestellt werden. Der Pflegebedarf wurde vor der IAP vom 4. Dezember 2015 in einem größeren Umfang, und zwar in dem, wie er sich aus dem Bescheid vom 28. Januar 2015 ergibt, angenommen. Dass der Pflegebedarf sich seitdem, obwohl die Krebserkrankung der Antragstellerin hinzugetreten ist, reduziert haben sollte, lässt sich nach Auffassung des Senats nicht lediglich auf die IAP vom 4. Dezember 2015 und den Hausbesuch vom 21. Oktober 2016, der den Pflegbedarf auch nicht im Sinne einer IAP dokumentiert, stützen. Die IAP vom 4. Dezember 2015 hat sich - ausweislich des Bescheides vom 25. Oktober 2016 - auch nach Auffassung des Antragsgegners bereits als nicht oder nicht mehr zutreffend erwiesen.

Es bedarf zur Einschätzung des Pflegebedarfs eines ärztlichen, vorzugsweise onkologisch-lungenfachärztlichen Gutachtens. Die Antragstellerin leidet laut dem vom Senat eingeholten Befundbericht der Fachärztin für Lungen- und Bronchialheilkunde Frau T vom 14. November 2016 an einer COPD III, also einer schweren COPD, an einem Bronchialkarzinom (laut Bericht der Fachärztin für Radiologie Dr. T vom 19. Februar 2016 im Stadium IV) und einer respiratorischen Insuffizienz. Die Fachärztin für Allgemeinmedizin Frau K nennt in ihrem Befundbericht vom 8. November 2016 darüber hinaus als Diagnosen eine arterielle Hypertonie, einen Zustand nach Schlaganfall, Diabetes mellitus Typ II, eine depressive Episode, zustand nach Ulcus, Gastritis, Refluxösophagitis, Harninkontinenz, chronisches HWS-LWS-Syndrom, Varikose und eine Hypothyreose. Es wird eine Chemotherapie durchgeführt. Als Funktionsbeeinträchtigungen benennen die beiden Ärztinnen schmerzhafte Bewegungseinschränkungen der HWS und LWS, Schmerzen beim Laufen und Stehen, schnelle Erschöpfung, Unruhe, Müdigkeit, eine schwere Belastungsdyspnoe bei minimaler Belastung sowie zunehmende Schwäche bei Tumorerkrankung. Bei dieser Sachlage spricht nie dafür, dass sich der Pflegebedarf im Vergleich zu der IAP aus dem Jahr 2014 nicht verringert hat.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist auch ein Anordnungsgrund, also ein Eilbedürfnis, gegeben. Dass die Antragstellerin mehrere Monate mit einer reduzierten Pflegeleistung ausgekommen ist, rechtfertigt nicht die Annahme, die Pflege sei nicht notwendig. Bei der Schwere der Erkrankung und den von den behandelnden Ärztinnen benannten Funktionsbeeinträchtigungen ist eher davon auszugehen, dass sie sich, neben der Chemotherapie, nicht ausreichend um die Durchsetzung des höheren Pflegebedarfs kümmern konnte. Hinzu kommt, dass der frühere Bevollmächtigte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 21. Dezember 2015 mehrere Monate nicht begründet hatte, was die Antragstellerin wohl auch schließlich zum Anlass nahm, den Bevollmächtigten zu wechseln.

Den Pflegebedarf hat der Senat in Anlehnung an die bis November 2015 bewilligte Pflege festgestellt.

Da Pflege für die Vergangenheit nicht geleistet werden kann, war der Antragsgegner erst ab Zugang dieses Beschlusses zu verpflichten. Insoweit war die Beschwerde zurückzuweisen. Als Endzeitpunkt wurde der 31. Mai 2017 bestimmt, weil die Sache bereits beim Sozialgericht anhängig ist und dieses jetzt "Herr des Verfahrens" ist, d.h., Ermittlungen obliegen jetzt ihm. Realistischer Weise könnte bis Mai 2017 eine Begutachtung im Rahmen des Klageverfahrens erfolgen.

Der Senat hat nicht - wie der Antragsgegner in seinem Bescheid vom 25. Oktober 2016 - zur Bedingung gemacht, dass die Pflege nicht von dem bisherigen Pflegedienst durchgeführt wird. Für diese belastende Nebenbestimmung zu dem ansonsten (teilweise) begünstigenden Verwaltungsakt (Bewilligung von Pflegeleistungen), ist die Anfechtungsklage zulässig (vgl. Engelmann in von Wulffen/Schütze, Kommentar zum SGB X, 8. Auflage, § 32 Rn. 32 und Rn. 35ff). Die Antragstellerin hat bereits Klage erhoben, der Bescheid vom 25. Oktober 2016 ist gemäß § 96 SGG Gegenstand dieses Klageverfahrens geworden. Die Anfechtungsklage hat gemäß § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung. Da davon auszugehen ist, dass der Antragsgegner diese aufschiebende Wirkung beachtet, dürfte es auch nicht zu einer Kollision zwischen den Regelungen des hiesigen Beschlusses und des Bescheides vom 25. Oktober 2016 kommen. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob die Voraussetzungen des § 32 SGB X, den Verwaltungsakt mit einer Nebenbestimmung zu versehen, erfüllt sind. Der Senat hat jedenfalls keine Veranlassung gesehen, diese Bedingung auch zum Gegenstand seines Beschlusses zu machen. Bei der im Internet aufzufindenden Qualitätsprüfung des Pflegedienstes gemäß § 114 Abs. 1 Sozialgesetzbuch/Elftes Buch (SGB XI) durch den MDK Berlin-Brandenburg e.V. vom 14. Juni 2016 erzielte der Pflegedienst die Gesamtnote "Sehr gut". Dahingestellt bleiben kann auch, ob bei Zweifeln über die Qualität des Pflegedienstes dieser im Bescheid an den Leistungsberechtigten ausgeschlossen werden kann oder ob nicht der Weg entweder über die Qualitätsprüfung durch den MDK oder durch Einflussnahme auf die Vereinbarungen gemäß § 89 SGB XI oder § 75 SGB XII genommen werden müsste.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved