L 31 AS 571/17 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
31
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 104 AS 2016/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 31 AS 571/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Ein Beschäftigungsverhältnis, das ein Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmer begründen soll, muss den deutschen Rechtsvorschriften entsprechen. Dies gilt gerad auch für den Mindestlohn.
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. März 2017 aufgehoben, soweit der Antragsgegner verpflichtet wurde, der Antragstellerin für die Zeit vom 11. Januar 2017 bis zum 30. Juni 2017 Arbeitslosengeld II i. H. v. monatlich 559,00 EUR zu gewähren. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten. Der Antragstellerin wird auf für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt M B, Rstraße, B gewährt.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde (§ 172 Sozialgerichtsgesetz – SGG) des Antragsgegners vom 16. März 2017 gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. März 2017 ist zulässig und begründet, denn die Antragstellerin hat keinen Anspruch auf die vorläufige Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch/Zweites Buch (SGB II), da sie als polnische Staatsbürgerin, die sich allein auf ein Freizügigkeitsrecht zur Arbeitssuche berufen kann, nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen ist.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts kann die Antragstellerin sich auch nicht auf ein Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmerin im Hinblick auf die Pflegetätigkeit für den Sohn von Frau A K berufen, die ebenfalls Leistungen nach dem SGB II und daneben Pflegeleistungen der Pflegekasse für ihren Sohn M V für den Pflegegrad II i. H. v. 316,00 EUR nebst eines Betreuungs- und Entlastungsbetrages i. H. v. 125,00 EUR pro Monat bezieht.

Der Senat sieht es weder als nachgewiesen noch glaubhaft gemacht an, dass die Antragstellerin bei Frau K überhaupt einem regulären Arbeitsverhältnis in Abgrenzung zu einem Freundschaftsdienst mit einer gewissen Aufwandsentschädigung nachgeht.

Zwar findet sich in den Verwaltungsakten ein Arbeitsvertrag für geringfügige und Teilzeit-Beschäftigung vom 1. Januar 2016, nach dem die Antragstellerin einen Betrag i. H. v. 250,00 EUR für eine unbekannte Anzahl von Pflegestunden erhalten soll (die Angabe von 2 Stunden monatlich dürfte irrtümlich erfolgt sein). Die weiter vorgelegten Lohnabrechnungen "Minijobs" weisen sodann einen Betrag i. H. v. 250,00 EUR aus und verzichten vollkommen auf die Benennung einer konkreten Stundenzahl. Insoweit wird auf Bl. 14 bis 17 der Verwaltungsakte verwiesen.

Einem nur teilweise bei den Akten befindlichen Pflegegutachten (nur Seite 3) ist zu entnehmen, dass die Mutter Frau K und die Antragstellerin jeweils einen Pflegebedarf für den Sohn von unter 14 Stunden die Woche angegeben haben. Nach dem Arztbericht des Klinikums N vom 17. Juni 2015 leidet der am 30. Mai 2001 geborene M V K unter einer generalisierten idiopathischen Epilepsie mit generalisiert tonisch-klonischen Anfällen, chronisch rezidivierenden Kopfschmerzen, einer benignen intrakraniellen Hypertension, Erbrechen, auch Nüchternerbrechen, einem atopischen Ekzem, Adipositas durch übermäßige Kalorienzufuhr, einer Entwicklungsstörung der schulischen Fertigkeiten und belastenden Lebensumstände, die Familie und Haushaltsführung negativ beinflussen.

Angesichts dieser Diagnosen und dem Umstand, dass den Unterlagen zu entnehmen ist, dass der Junge grundsätzlich zur Schule geht, ist schon nicht ersichtlich, dass überhaupt ein Pflegebedarf besteht, der über das hinausgeht, was die Mutter nicht selbst befriedigen könnte. Zwar spricht rechtlich nichts dagegen, auch in einer solchen Situation eine Pflegeperson zu beschäftigen, allerdings regelmäßig wohl nur dann, wenn der Arbeitgeber in diesem Sinne auch über die entsprechenden Mittel verfügt, die Arbeitnehmerin auch zu bezahlen. Hier bedarf es keiner weiteren Erläuterung, dass Frau K, die selbst SGB II-Leistungen bezieht, von diesen Leistungen keine Pflegekraft bezahlen kann. Insoweit spricht schon dieser Umstand gegen ein Arbeitsverhältnis. Hier erscheint zwar grundsätzlich möglich, dass Arbeitsleistungen aus dem für den Sohn gewährten Pflegegeld bezahlt werden könnten, allerdings müsste ein solches Arbeitsverhältnis den geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland entsprechen, um eine im Rahmen des Freizügigkeitsrechts schützenswerte Beziehung zum deutschen Arbeitsmarkt zu begründen. Angesichts eines Mindestlohnes im Jahre 2017 i. H. v. 8,84 EUR führte ein bescheinigtes Entgelt i. H. v. 250,00 EUR im Monat zu Arbeitsleistungen von etwa 28 Stunden im Monat, also etwa 7 Stunden die Woche. Ein Entgelt von 282,88 Euro führt zu 32 Stunden. Diese Angaben zugrunde gelegt, kann von einem Arbeitnehmerstatus im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU nicht die Rede sein.

Den Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) lässt sich zwar keine bestimmte Grenze in Bezug auf Einkommen und Arbeitszeit entnehmen, unterhalb derer die Arbeitnehmereigenschaft verneint werden muss. Der EuGH hat vielmehr immer deutlich gemacht, dass eine vorzunehmende Würdigung der Gesamtumstände letztlich den Gerichten der Mitgliedstaaten vorbehalten bleibt (vgl. EuGH, Urteil vom 4. Februar 2010 – RS.C-14/09). Er selbst hat die unionsrechtlich autonom zu definierende Arbeitnehmereigenschaft eines Musiklehrers mit 12 Wochenstunden Unterricht und einem monatlichen Einkommen von knapp 500,00 EUR sowie die einer Studienreferendarin mit bis zu 11 Wochenstunden (Urteil vom 3. Juli 1986 – RS.C-66/85) bejaht. In weiteren Verfahren ging es um die wöchentliche Arbeitszeit, die zwischen 10 und 25 Stunden lag (vgl. z. B. EuGH, Urteil vom 24. Januar 2008, RS.C-294/06; Urteil vom 14. Dezember 1995 – RS.C-444/93).

Danach begründet die Tätigkeit der Antragstellerin, so wie sie in den Akten des Antragsgegners und im Gerichtsverfahren beschrieben wurde, jedenfalls keine unionsrechtliche Arbeitnehmereigenschaft.

In der nationalen Rechtsprechung hat sich bisher insoweit keine einheitliche Linie herausgebildet. So hatte das Bundessozialgericht (BSG) in einem Urteil vom 19. Oktober 2010 B 14 AS 23/10 R eine Wochenarbeitszeit von 7,5 Stunden und einen Lohn i. H. v. 100,00 EUR ausreichen lassen, andererseits finden sich auch Entscheidungen der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die eine Arbeitszeit von 3 bis 4 Stunden an einem Arbeitstag pro Woche zu einem völlig belanglosen Entgelt (VG München, Urteil vom 2. Februar 1999, M 21 K 98.750) und eine Wochenarbeitszeit von 10 bis 12 Stunden bei einem monatlichen Entgelt i. H. v. 300,00 EUR (VG

Darmstadt, Urteil vom 22. Februar 2008, InfAuslR, 2008, 344f) als völlig unwesentlich angesehen haben.

Bei der summarischen Bewertung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ist vorliegend besonders zu berücksichtigen, dass die "Arbeitgeberin" hier vorliegend im Grunde keinen Arbeitnehmer finanzieren kann, da sie selbst SGB II-Leistungsempfängerin ist. Damit spricht schon vieles dafür, dass das Pflegegeld hier als Aufwandsentschädigung für einen eher im Rahmen freundschaftlicher Unterstützung anzusiedelnden Hilfsdienst "weiter geleitet" wird. Damit steht im Einklang, dass die Tätigkeit der Minijobzentrale nicht gemeldet wurde.

Soweit im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vor dem Sozialgericht dann im Schriftsatz vom 18. Januar 2017 von 10 Arbeitsstunden die Woche anstelle von zunächst 8 angegebenen Stunden die Rede war, im Beschwerdeverfahren dann sogar von 14 Stunden, ohne dass sich das gewährte Entgelt auch nahezu verdoppelt hätte (282,88 Euro im Verhältnis zu 250 Euro), spricht dies alles gegen ein ernsthaftes Arbeitsverhältnis. Vielmehr liegt es nahe, dass die Angaben den Bewilligungsvoraussetzungen angepasst werden sollen.

Steht der Antragstellerin aber kein Arbeitnehmerstatus nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU zu, ist sie im Hinblick auf ihr allein bestehendes Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche von Leistungen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen.

Ein anderes Freizügigkeitsrecht steht der Antragstellerin nicht zur Seite.

Nur ergänzend ist auszuführen, dass der Sozialhilfeträger nicht beizuladen war, da ab dem 29. Dezember 2016 ein entsprechender Ausschluss für Sozialhilfeleistungen in § 23 Abs. 3 Nr. 2 SGB XII geregelt ist.

Soweit nach dem SGB XII Leistungen "bis zur Ausreise" in Betracht kommen (§ 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII), sind diese bei der zuständigen Behörde zu beantragen. Der Senat hat bereits entschieden, dass ausgeschlossenen, hilfebedürftigen EU-Bürgern im Rahmen der Selbsthilfe (§§ 2, 9 SGB II) die Ausreise in ihr Heimatland zumutbar ist, um dort Sozialhilfeleistungen in Anspruch zu nehmen (Beschluss vom 9. Juni 2016, L 31 AS 1158/16 B ER).

Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe lagen vor, da die Erfolgsaussicht nach § 119 Abs. 1 Satz 2 Zivilprozessordnung (ZPO) nicht zu prüfen war, da die Antragstellerin in erster Instanz obsiegt hat. Die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse liegen im Übrigen vor.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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