L 15 SO 134/17 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
15
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 47 SO 710/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 15 SO 134/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zur Glaubhaftmachung eines höheren Pflegebedarfs im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes:

Pflegebedürftigkeit im Sinne der Vorschriften über die Hilfe zur Pflege liegt nur vor, wenn sie auf gesundheitlichen Einschränkungen beruht.

Hat der Sozialhilfeträger eine individuelle ambulante Pflegegesamtplanung (IAP) nach einem Hausbesuch unter ärztlicher Beteiligung erstellt, kann der ermittelte Pflegebedarf deshalb regelmäßig nicht durch eine vom Sozialhilfeträger veranlasste weitere Bedarfsfeststellung infrage gestellt werden, die binnen kürzerer Frist (hier: sieben Monate) nach einem weiteren Hausbesuch ohne ärztliche Beteiligung durchgeführt worden ist.

Hat der Sozialhilfeträger den Pflegebedarf regelmäßig unter ärztlicher Beteiligung ermittelt, kann dies umgekehrt einem Anordnungsanspruch auf Gewährung höherer Pflegeleistungen oder einer einstweiligen Verpflichtung im Wege der Folgenabwägung entgegenstehen.
Bemerkung
Auf die Beschwerden des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. Mai 2017 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller über die in dem Bewilligungsbescheid vom 16. März 2017 genannten Sachleistungen hinaus vorläufig weitere ambulante Hilfen zur Pflege gemäß der Definition der Leistungskomplexe (LK) für den Berliner Rahmenvertrag zur ambulanten pflegerischen Versorgung in der ab 1. Januar 2017 geltenden Fassung wie folgt zu gewähren LK 2 (kleine Morgen- oder Abendtoilette): an sechs Kalendertagen je Woche 2 x, an einem Kalendertag 1 x, insgesamt 13 x wöchentlich LK 4 (große Morgen- oder Abendtoilette): an einem Kalendertag je Woche, an dem der LK 2 nur einmal erbracht wird, LK 11a (kleine Reinigung): 3 x je Woche LK 15 (kleine Mahlzeit): 4 x je Woche. Die Verpflichtung setzt mit dem ersten Kalendertag nach dem Zugang dieses Beschlusses per Telefax bei den Beteiligten ein. Sie endet mit dem Eintritt der Bestandskraft desjenigen Bescheides des Antragsgegners vom 16. März 2017, durch den über die Gewährung von Hilfen zur Pflege für den Zeitraum 1. Mai 2017 bis 30. April 2018 entschieden worden ist, spätestens jedoch mit Ablauf des 31. Dezember 2017. Im Übrigen wird die Beschwerde gegen den Beschluss zurückgewiesen, soweit durch ihn über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung entschieden worden ist. Dem Antragsteller wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt J W, B, beigeordnet. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes in beiden Rechtszügen zur Hälfte. Kosten des Beschwerdeverfahrens betreffend die Versagung von Prozesskostenhilfe sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller ist 1938 in der damaligen Sowjetunion geboren und lebt seit den 1980er Jahren in B, seit 1986 in seiner jetzigen Wohnung. Seit 2013 sind bei ihm ein Grad der Behinderung von 100 und die Voraussetzungen für die Merkzeichen B, G und RF im Sinne des Rechts der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen anerkannt. Vom Land Berlin bezieht er eine Entschädigungsrente für Verfolgte des Nationalsozialismus, deren monatlicher Zahlbetrag seit Juli 2016 bei 1.166,87 EUR lag. Über weitere Einkünfte verfügt er nicht. Für die von ihm bewohnte Einzimmerwohnung fällt ein monatliche Warmmiete von zirka 375,- EUR an.

Der Antragsteller bezieht neben Wohngeld keine laufenden bedürftigkeitsabhängigen Sozialleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Der Antragsgegner gewährt ihm dagegen Hilfen zur Pflege in Gestalt ambulanter Sachleistungen. Medizinische Gutachten zur Feststellung des Pflegebedarfs waren im Oktober 2011 (Erstgutachten, pflegebegründende Diagnosen: Spondylose, Polyarthrose; Gutachterin Medizinaldirektorin Dr. S) und September 2013 (pflegebegründende Hauptdiagnosen: vaskuläre Demenz, Polyarthrose, Gutachterin Dr. S-G) durch Ärztinnen des Gesundheitsamts des Antragsgegners erstellt worden. Sie hatten zum Ergebnis, dass ab Juni 2010 die Voraussetzungen für die Pflegestufe 1 der sozialen Pflegeversicherung vorlagen. Der Antragsteller gehört zu dem Personenkreis, dessen Hilfebedarf nach der Arbeitsanweisung des Antragsgegners vom 31. Januar 2014 jährlich zu überprüfen ist. In der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung ist er nicht versichert.

Auf der Grundlage von individuellen ambulanten Pflegegesamtplanungen (IAP), die jedenfalls seit 2013 nach jährlichen Hausbesuchen erstellt worden waren, bewilligte ihm der Antragsgegner jedenfalls für die Zeit ab 1. Mai 2013 bis zum 30. April 2016 in gleichbleibendem Umfang Sachleistungen der ambulanten Pflege.

Als Pflegedienst war langjährig die "M H & S GmbH" tätig. Gegen Mitarbeiter dieses Pflegedienstes waren 2015 wegen des Verdachts des Betrugs zum Nachteil der Träger von Leistungen zur Pflege strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet worden. Wegen Eintragungen in Kassenbüchern des Pflegedienstes wurde außerdem unter anderem gegen den Antragsteller der Verdacht geäußert, von dem Pflegedienst sogenannte Kick-Back-Zahlungen für tatsächlich nicht erbrachte, vom Antragsteller aber als erbracht bestätigte Pflegeleistungen erhalten zu haben (Schlussbericht des Polizeipräsidenten in Berlin - Landeskriminalamt - vom 26. Oktober 2015). Durch Bescheid vom 8. März 2016 änderte der Antragsgegner die zuletzt ergangene Leistungsbewilligung vom 11. Mai 2015 (Bewilligungszeitraum 1. Mai 2015 bis 30. April 2016) bezüglich des Leistungserbringers (neuer Pflegedienst: Die P GmbH: Pflegevertrag mit dem Antragsteller geschlossen am 20. Januar 2016).

Die im Juni 2016 wiederum nach einem Hausbesuch und seitens des Antragsgegners unter Beteiligung der Ärztin Dr. S-G und der Pflegefachkraft Frau S erstellte IAP für den Leistungszeitraum ab 1. Mai 2016 ergab dann Bedarfe für folgende Leistungskomplexe (Änderungen im Vergleich zur vorangegangenen Bewilligung in Klammern):

LK Anzahl (je Woche, sofern nicht anders angegeben) 2 13 (+2) 4 1 (-2) 7a 0 (-14) 7b 0 (-7) 9 1/Monat (+1/Monat) 11a 3 (+2) 11b 1 12 1 13 1 14 3 15 4 (-14) 17a 15 17b 6

Hierzu wurde in der IAP ausgeführt, dass sich der Gesundheitszustand des Antragstellers gegenüber dem letzten Hausbesuch deutlich verbessert habe. Nach wie vor bestehe aber noch ein Unterstützungsbedarf. Es sei davon auszugehen, dass der verbesserte Zustand schon länger bestehe. Als Prognoseeinschätzung wurde angegeben, dass eine Besserung des Gesundheitszustands mit Verminderung des Pflegeaufwands nicht zu erwarten, dagegen eine Verschlechterung des Gesundheitszustands und ein erhöhter Pflegeaufwand zu erwarten sei. Bei der Erstellung der IAP lag ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 23. Juni 2016 vor, welches sich nicht bei den vom Antragsgegner vorgelegten Akten befindet. Verwaltungsintern wurde in der Folge erörtert, ob drei Einsätze des Pflegedienstes täglich bei der Pflegestufe 1 zu rechtfertigen seien (Aktenvermerke vom 16. und 20. September 2016).

Noch bevor es zu einer Entscheidung über Leistungen ab Mai 2016 kam, führte der Antragsgegner im Januar 2017 einen weiteren Hausbesuch beim Antragsteller durch. Seitens des Antragsgegners nahmen daran die Sachbearbeiterin für ambulante Hilfen zur Pflege sowie zwei weitere Mitarbeiter teil, die - soweit ersichtlich - mit Ermittlungen im Zusammenhang mit den Betrugsvorwürfen gegen den Pflegedienst "M H & S GmbH" befasst waren. Im Vergleich zur IAP vom Juni 2016 gelangten sie zu dem Ergebnis, dass Bedarfe nach folgenden Leistungskomplexen bestünden (Änderungen im Vergleich zur IAP von Juni 2016 wiederum in Klammern):

LK Anzahl (je Woche, sofern nicht anders angegeben) 2 0 (-13) 4 0 (-1) 9 0/Monat (-1/Monat) 11a 1 (-2) 11b 1 12 1 13 1 14 3 15 0 (-4) 17a 3 (-12) 17b 0 (-6)

Durch einen von drei Bescheiden vom 16. März 2017 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller ambulante Hilfen zur Pflege für den Zeitraum 1. Mai 2016 bis 11. Januar 2017 in dem Umfang, wie er sich aus der im Juni 2016 erstellten IAP ergab. Durch zwei weitere Bescheide selben Datums bewilligte der Antragsgegner zum einen für den Zeitraum 12. Januar bis 30. April 2017 und zum anderen 1. Mai 2017 bis 30. April 2018 ambulante Hilfen zur Pflege im Umfang der Bedarfsfeststellung, wie sie nach dem Hausbesuch vom Januar 2017 vorgenommen worden war. Den Bescheiden ist zu entnehmen, dass der Antragsgegner beim Antragsteller nach dem ab 1. Januar 2017 geltenden Recht der sozialen Pflegeversicherung und der Hilfen zur Pflege nach dem Sozialgesetzbuch/Zwölftes Buch (SGB XII) von einem Pflegegrad 2 ausging.

Gegen alle drei Bescheide legte der Antragsteller am 4. April 2017 beim Antragsgegner Widerspruch ein, den er zunächst nicht begründete.

Mit seinem am 12. Mai 2017 beim Sozialgericht eingegangenen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hat der Antragsteller beantragt, den Antragsgegner spätestens ab dem 15. Mai 2017 zu verpflichten, die Kosten für die ambulante häusliche Pflege bezüglich folgender Leistungskomplexe zu übernehmen:

LK Anzahl (je Woche, sofern nicht anders angegeben) 2 6 (morgens) 4 1 7a 14 7b 7 11a 3 15 18 (7 morgens und abends, 4 mittags)

Zur Begründung hat er sich auf den von seinem Verfahrensbevollmächtigten bei einem Besuch vorgefundenen Zustand seiner Person und seiner Wohnung berufen. Ferner hat er ein Attest des Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. K vom 13. April 2017 und einen Arztbrief des V H Klinikums vom 19. April 2017 vorgelegt. Nach einer Anfrage des Sozialgerichts hat er erklärt, der Pflegedienst erbringe derzeit Leistungen im Umfang der Gewährleistungspflicht des Antragsgegners. Es könne nicht erwartet werden, dass der Pflegedienst in Vorkasse gehe. Den ihm vom Antragsgegner neben den Sachleistungen bewilligten Entlastungsbetrag von monatlich 125,- EUR und das Pflegegeld von 105,33 EUR habe er bisher nicht erhalten und daher nicht verwendet.

Durch Beschluss vom 23. Mai 2017 hat das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Es fehle aus mehreren Gründen an der Glaubhaftmachung eines besonderen Eilbedürfnisses. Der Antragsteller könne zunächst sein Einkommen einsetzen, um den Zeitraum bis zur Bescheidung der Widersprüche durch den Antragsgegner zu überbrücken, selbst wenn die Entschädigungsrente nicht auf Leistungen nach dem SGB XII anzurechnen sei. Des weiteren sei das prozessuale Verhalten des Antragstellers beziehungsweise seines Verfahrensbevollmächtigten bemerkenswert, der im Widerspruchsverfahren nicht in der Sache vorgetragen, stattdessen aber einen Antrag auf gerichtlichen Eilrechtsschutz gestellt habe. Es erschließe sich nicht, woraus er seine geäußerte Auffassung herleite, dass der Antragsgegner im Widerspruchsverfahren nicht prüfbereit sein werde. Dem vorgelegten Vertrag mit dem Pflegedienst sei im Übrigen entgegen der Darstellung des Antragstellers auch nicht zu entnehmen, dass der Pflegedienst nur verpflichtet sei, Leistungen im Umfang der Gewährleistungspflicht des Antragsgegners zu übernehmen. Zugleich hat das Sozialgericht den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für die erste Instanz abgelehnt.

Mit seiner am 1. Juni 2017 eingelegten Beschwerde sowohl gegen die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes als auch gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe verfolgt der Antragsteller sein Anliegen in der Sache weiter. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf die Beschwerdeschrift vom 1. Juni 2017 Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde ist in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang begründet. Der Antragsteller macht Leistungen geltend, die ihm bislang versagt worden sind. In diesem Fall setzt eine gerichtliche einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners (oder des Beigeladenen) zur Leistung im Regelfall voraus, dass bei summarischer Prüfung mit ausreichender Wahrscheinlichkeit ein Anspruch nach materiellem Recht (§ 86b Abs. 2 Satz 4 Sozialgerichtsgesetz [SGG] i.V. mit §§ 920 Abs. 2, 916 Zivilprozessordnung [ZPO]; Anordnungsanspruch) und eine besondere Eilbedürftigkeit feststellbar sind (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V. mit §§ 920 Abs. 2, 917, 918 ZPO; Anordnungsgrund).

Ein Anordnungsanspruch ist in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang gegeben und führt zu einem Teilerfolg des Rechtsmittels gegen die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes. Es ist zwischen den Beteiligten nicht streitig, dass der Antragsteller jedenfalls dem Grunde nach zum Personenkreis der Leistungsberechtigten der Hilfe zur Pflege (§§ 61ff SGB XII) gehört. Glaubhaft gemacht sind über die vom Antragsgegner bewilligten Sachleistungen hinaus aber auch Pflegebedarfe in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang. Dies ergibt sich aus der vom Antragsgegner selbst im Juni 2016 erstellten IAP. Diese sieht der Senat ebenso wie die beim Antragsteller bis dahin praktizierte Verfahrensweise zur Prüfung der Pflegebedürftigkeit als beispielgebend an: Die Feststellungen zum Pflegeaufwand erfolgten nicht nur unter Beteiligung einer Pflegefachkraft, sondern auch einer Medizinerin. Der Antragsteller war zuvor seit 2011 außerhalb der Erstellung von IAP mehrfach durch den Antragsgegner bzw. den MDK medizinisch begutachtet worden. Dies ist folgerichtig. Sowohl nach dem bis Ende 2016 geltenden als auch nach dem seit Januar 2017 geltenden Recht ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz (§ 61 Abs. 1 SGB XII in der Fassung bis 31. Dezember 2016, § 61a Abs. 1 in der ab 1. Januar 2017), dass Pflegebedürftigkeit auf gesundheitlichen Beeinträchtigungen beruhen muss. Zur selbständigen Feststellung von Krankheitsbildern besitzen nur Mediziner die erforderliche Sachkunde. Der Senat hatte gerade in jüngster Zeit in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes mehrfach Anlass gesehen darauf hingewiesen, dass der Pflegebedarf regelmäßig auch medizinische - nicht nur pflegefachliche - Feststellungen erfordert (veröffentlichte Beschlüsse vom 21. September 2016 - L 15 SO 183/16 B ER / L 15 SO 187/16 B ER PKH - und vom 23. November 2016 - L 15 SO 273/16 B ER -).

Der Aussagewert des vom Antragsgegner erstellten Protokolls über den im Januar 2017 beim Antragsteller vorgenommenen Hausbesuch leidet vor diesem Hintergrund erkennbar an dem Mangel, dass eine medizinisch sachkundige Person nicht beteiligt war. Dem Protokoll lassen sich unabhängig davon keine inhaltlich nachvollziehbaren Gründe für die Abweichung von der kaum mehr als ein halbes Jahr zuvor erstellten IAP entnehmen. Geschildert werden Beobachtungen der Verhaltensweise des Antragstellers (und des anwesenden Pflegepersonals). Die "Begründung" beschränkt sich auf die Äußerung, es sei eine gänzlich andere Situation vorgefunden worden als bei der Begutachtung im Juni 2016 und es sei "ausgeschlossen", dass dies auf der Tagesform des Antragstellers beruhe. Die IAP vom Juni 2016 enthielt aber die deutliche - wie gesagt: mit medizinischen Sachverstand erstellte - Aussage, dass eine (weitere) Besserung des Gesundheitszustands mit Verminderung des Pflegeaufwands nicht zu erwarten, vielmehr mit einer (erneuten) Verschlechterung des Gesundheitszustands und einem (erneut) erhöhten Pflegeaufwand zu rechnen sei. Um dies zu entkräften wäre deshalb entweder zu begründen gewesen, dass bereits die medizinischen Feststellungen im Juni 2016 objektiv unzutreffend waren oder sich die gestellte Prognose nicht bewahrheitet hat (sich also die im Januar 2017 vom Antragsteller gezeigte Verhaltensweise logisch nachvollziehbar aus einer weiteren Besserung seines Gesundheitszustands erklären lässt) oder dass die Verhaltensweise des Antragsteller bei dem Hausbesuch im Juni 2016 dem Bereich der Simulation oder Aggravation zuzuordnen wäre. Beides lässt sich jedoch nicht aus tatsächlichen Beobachtungen herleiten, sondern erforderte qualifizierte medizinische Ermittlungen. Dies gilt umso mehr, als beim Antragsteller im Juni 2016 eine vaskuläre Demenz diagnostiziert worden war.

Ein weitergehender Anordnungsanspruch ist dagegen nicht glaubhaft gemacht. Einer Folgenabwägung (s. dazu die oben genannten Beschlüsse des Senats) bedurfte es nicht. Der Sache nach begehrt der Antragsteller die Wiederherstellung des Zustandes, der den Leistungsbewilligungen bis April 2016 zugrunde lag. Insoweit kommt jedoch zum Tragen, dass die IAP 2016 - wie bereits erwähnt: beispielgebend - qualifziert unter Beteiligung einer Medizinerin erstellt worden ist. Die eingereichten Unterlagen behandelnder Ärzte des Antragstellers stellen die daraus sich ergebenden Einschätzungen zum Pflegebedarf nicht in Frage. Es ist nicht ersichtlich, dass eine der gestellten Diagnosen in ihren Auswirkungen auf den Pflegebedarf unberücksichtigt geblieben oder in ihrer Reichweite verkannt worden wäre. Im Besonderen gilt dies für die Leistungskomplexe 7a und b - Darm- und Blasenstörung einschließlich Intimpflege. Schon in den Gutachten zur Bestimmung der Pflegestufe aus den Jahren 2011 und 2013 wurde der Hilfeaufwand in diesem Zusammenhang als "tagesformabängig" (Seite 6 des Gutachtens vom 13. Oktober 2011, Seite 7 des Gutachtens vom 16. September 2013) bezeichnet. Im Juni 2016 wurde der Antragsteller dann aufgeschlossen und interessiert wirkend angetroffen. Die eingesehenen Pflegedokumentationen beschrieben nur (noch) leichte Stimmungsschwankunden. Insgesamt zeigte sich ein generell gebesserter Gesundheitszustand. Die daraus unter anderem abgeleitete Folge, dass der Antragsteller seine Intimpflege selbst durchführen könne und die Versorgung mit Inkontinenzmaterial nur zur Nacht (und insoweit mit Hilfestellung) notwendig ist, erscheint nachvollziehbar. Dies gilt umso mehr, als die an der IAP beteiligte Ärztin Dr. Schmidt-Gürtler bereits das Gutachten aus dem Jahr 2013 erstellt hatte und deshalb in der Lage war, die gesundheitliche Entwicklung des Antragstellers aus eigener Anschauung zu beurteilen. Die in der IAP vom Juni 2016 enthaltenen LK 17a und 17b hat der Antragsteller dagegen nicht einmal selbst beantragt. Das Gericht darf aber über den gestellten Antrag nicht hinausgehen (arg. e § 123 SGG). Ungeachtet dessen geht der Senat davon aus, dass der Antragsteller sich einer Abrechnung der LK 17a und 17b auch ohne weiteres gerichtliches Verfahren nicht verschließen wird, wenn der vorliegende Beschluss zur Ausführung kommt.

Glaubhaft gemacht ist auch ein Anordnungsgrund. Schon die zusätzlichen Kosten, die durch die im vorliegenden Beschluss ausgesprochene Verpflichtung entstehen, belaufen sich auf zirka 1.000,- EUR monatlich (wenn bereits die LK 17a und b berücksichtigt werden). Es erscheint offenkundig, dass der Antragsteller diese nicht aus seinen bekannten Einkünften bestreiten kann. Der Antragsteller kann auch nicht darauf verwiesen werden, den von ihm beauftragten Pflegedienst auf eine mögliche vertragliche Verpflichtung zu verweisen, die ihrem Inhalt nach gerade streitig werden kann. Abgesehen davon kann dem Pflegevertrag jedenfalls nicht entnommen werden, dass der Pflegedienst Leistungen zu erbringen haben könnte, für die er vom Antragsteller als Hauptschuldner keine oder jedenfalls keine vollständigen Zahlungen erwarten könnte. Auf das prozessuale Verhalten des Bevollmächtigten des Antragstellers muss nicht weiter eingegangen werden. Aus ihm ergibt sich jedenfalls nicht, dass es die Glaubhaftigkeit des Anordnungsgrundes infrage stellen könnte.

Eine Verpflichtung des Antragsgegners war erst für die Zeit nach Entscheidung des Senats auszusprechen. Bei den geltend gemachten Leistungen handelt es sich um Sachleistungen, die folglich nicht rückwirkend für die Vergangenheit erbracht werden können (s. stellvertretend BSG, Urteil vom 18. November 2014 - B 8 SO 23/13 R -, SozR 4-3500 § 75 Nr. 6). Die zeitliche Begrenzung der Verpflichtung entspricht dem vorläufigen Charakter des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes. Da seit der IAP vom Juni 2016 mittlerweile ein Jahr verstrichen ist, mag sie dem Antragsgegner auch Anlass geben, den Pflegebedarf unter Einbeziehung medizinischen Sachverstands nochmals zu überprüfen.

In vollem Umfang Erfolg hat der Antragsteller, soweit sich die Beschwerde auf die Versagung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren erster Instanz bezieht. Der Beschwerdeschrift des Antragstellers konnte noch hinreichend deutlich entnommen werden, dass er sich mit seinem Rechtsmittel auch insoweit gegen den Beschluss des Sozialgerichts gewandt hat. Die Voraussetzungen für deren Gewährung lagen vor (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V. mit §§ 114ff ZPO). Der Beschwerdeschrift war dagegen nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit zu entnehmen, dass ein Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe auch für das Beschwerdeverfahren gegen die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt werden sollte. Insoweit war deshalb eine Entscheidung nicht zu treffen.

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens beruht auf § 127 Abs. 4 SGG, soweit sie sich auf das Rechtsmittel gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren erster Instanz bezieht, im Übrigen auf § 193 SGG.

Gegen diesen Beschluss gibt es kein Rechtsmittel (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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