L 13 VJ 22/16

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 119 VJ 134/12
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 VJ 22/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. März 2016 wird zurückgewiesen. Eine Kostenerstattung findet auch im Berufungsverfahren nicht statt. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der 1976 geborene Kläger begehrt die Verpflichtung des Beklagten zur Gewährung von Versorgungsleistungen nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Er leidet an Poliomyelitis und dem Post-Polio-Syndrom sowie weiteren Erkrankungen, deren Entstehung er auf eine zweimalige Schluckimpfung im Kindesalter zurückführt.

Im Februar 2012 beantragte der Kläger beim Beklagten die Versorgungsgewährung und gab hierzu an, er sei ein erstes Mal am 12. März 1976 und ein zweites Mal am 3. Juni 1976 bei seinem Kinderarzt Dr. G geimpft worden. Ende August 1976 sei er dann in das Kinderkrankenhaus B eingeliefert worden und habe dort mit bleibenden Lähmungserscheinungen Aufnahme gefunden. Weiter teilte er mit, er verfüge nicht über Impf-Unterlagen, sein Kinderarzt praktiziere in Deutschland nicht mehr und lebe vermutlich in der Türkei. Weiter legte er ein Schreiben des Krankenhauses an seinen Kinderarzt vom Januar 1977 vor, in dem es hieß, die Familie sei am Aufnahmetag (30. August 1976) von einem vierwöchigen Aufenthalt aus der Türkei zurückgekommen. Nach Angaben der Eltern habe der Kläger bereits seit drei Monaten unter breiigen Stühlen gelitten, derentwegen er bereits in Deutschland behandelt worden sei. In der Türkei habe er zehn Tage lang täglich eine Spritze erhalten, deren Zusammensetzung den Eltern nicht bekannt sei. Eine Woche vor der Aufnahme ins Krankenhaus habe der Kläger dann Fieber bekommen und in den letzten drei Tagen vor der Aufnahme schlaff gewirkt und weder gegessen noch sich gedreht. Der Kläger legte weiter Unterlagen über Erst- und Folgeuntersuchungen vor, aus denen sich ein Besuch bei Dr. G am 12. März 1976 und 3. Juni 1976 ergibt, jedoch kein Hinweis auf eine Impfung. Im Jahr 1976 war in Berlin die erste Impfung gegen Poliomyelitis öffentlich empfohlen ab dem 3. Lebensmonat mit einer weiteren Impfung im Abstand von 6 bis 8 Wochen.

Mit Bescheid vom 2. März 2012 lehnte der Beklagte den Antrag ab und führte zur Begründung aus, die Gewährung von Versorgungsleistungen komme bereits deshalb nicht in Betracht, weil ein Nachweis über die durchgeführten Impfungen insoweit unerlässlich sei. Einen solchen Nachweis sowohl über die Durchführung der Impfung wie auch über das verwandte Impfserum habe der Kläger auch auf Anforderung nicht beibringen können. Gegen den am 2. März 2012 zur Post gegebenen Bescheid erhob der Kläger am 13. April 2012 mittels E-Mail Widerspruch. Am 17. April 2012 ging beim Beklagen auch ein Widerspruch des Prozessbevollmächtigten des Klägers ein, mit dem dieser hilfsweise die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragte und zur Begründung ausführte, der Kläger habe sich vom 2. März 2012 bis zum 22. März 2012 aufgrund einer psychischen Erkrankung im Krankenhaus aufgehalten, nachdem seine Unterbringung angeordnet worden sei. Ein durch den Kläger selbst verfasstes Widerspruchsschreiben mit Datum vom 13. April 2012 ging am 2. Mai 2012 beim Beklagten ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 4. Juni 2012 wies der Beklagte den Widerspruch gegen seinen Bescheid vom 2. März 2012 als unzulässig zurück. Hierzu führte er aus, eine Wiedereinsetzung komme nicht in Betracht, da der Kläger nicht dargelegt habe, weshalb er gehindert gewesen sein sollte, den Widerspruch innerhalb der am 5. April 2012 auslaufenden Frist einzulegen.

Am 5. Juli 2012 beantragte der Prozessbevollmächtigte des Klägers beim Beklagten die Überprüfung der Bescheide vom 2. März und 4. Juni 2012 und machte insoweit geltend, bereits der verspätete Widerspruch des Klägers sei als Überprüfungsantrag auszulegen. Mit Bescheid vom 9. Juli 2012 lehnte der Beklagte die Überprüfung und Aufhebung seines Bescheides vom 2. März 2012 ab und führte zur Begründung aus, es sei weder nachgewiesen, dass die behaupteten Impfungen am 12. März oder am 3. Juni 1976 stattgefunden hätten. Darüber hinaus setze die Gewährung einer Versorgung auch voraus, dass der verwandte Impfstoff genau bezeichnet werden könne. Insoweit reiche auch die angekündigte eidesstattliche Versicherung der Mutter des Klägers zum Nachweis der geltend gemachten Impfung nicht aus. Am 1. August 2012 erhob der Prozessbevollmächtigte des Klägers Widerspruch gegen die Ablehnung des Überprüfungsantrages. Zugleich stellte der Kläger am 10. Juli 2012 einen erneuten Antrag auf Versorgung. Diesen Unterlagen war eine eidesstattliche Versicherung der Mutter des Klägers beigefügt, wonach der Kläger am 12. März 1976 und 3. Juni 1976 bei Dr. G mittels Schluckimpfung geimpft worden sei. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die eidesstattliche Versicherung Bezug genommen. Mit Widerspruchsbescheid vom 30. August 2012 wies der Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 9. Juli 2012 zurück und nahm insoweit auf die Begründung der vorangegangenen Bescheide Bezug.

Mit der am 2. Oktober 2012 erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt und hierzu vorgetragen, aus dem Untersuchungsheft für Kinder ergäben sich Beweise dafür, dass er am 12. März und 3. Juni 1976 kinderärztlich behandelt worden sei. Bei dieser Sachlage sei es unwahrscheinlich, dass er nicht auch geimpft worden sei, denn zum damaligen Zeitpunkt seien typischerweise alle Kinder mit der Schluckimpfung geimpft worden. Insoweit beziehe er sich auf die eidesstattliche Versicherung seiner Mutter. Es werde davon ausgegangen, dass als Impfstoff der so genannte Lebendimpfstoff "orale Poliovakzine" (OPV) verwandt worden sei. Das Sozialgericht hat Ermittlungen bei der kassenärztlichen Vereinigung und der Ärztekammer zum Verbleib von Patientenunterlagen des Dr. G angestellt, ohne insoweit jedoch Unterlagen erlangt zu haben. Ferner hat es beim Robert-Koch-Institut Ermittlungen zu Art und Umfang der im Jahr 1976 üblichen Polio-Impfung angestellt und beim Paul-Ehrlich-Institut Auskunft zu Art und Darreichungsform der seinerzeit gebräuchlichen Impfungen eingeholt. Der Beklagte hat aufgrund der durch den Kläger vorgelegten Unterlagen ein schriftliches Gutachten zum Vorliegen einer impfbedingten Polio eingeholt, das erstellt wurde durch den Facharzt für Neurologie Dr. T. Darin hat der Sachverständige ausgeführt, eine erste Polio-Impfung bereits im ersten Lebensmonat wäre ungewöhnlich gewesen, da eine Empfehlung erst ab dem 3. Monat bestanden habe. Die Impfung sei nicht dokumentiert und zu diesem Zeitpunkt unwahrscheinlich, wenn auch nicht ausgeschlossen. Im Falle ihres Stattfindens sei die Inkubationszeit bis zum Auftreten des Fiebers mit 81 Tagen zu lang. Aus den vorgelegten Unterlagen ergebe sich, dass der nachgewiesene Erreger nicht vom Typus des Impfvirus gewesen sei. Mit dem vierwöchigen Aufenthalt in der Türkei habe es eine plausible anderweitige Ansteckungsmöglichkeit gegeben. Es gebe daher keine überzeugenden Argumente für das Vorliegen einer impfbedingten Polio-Erkrankung. Mit Datum vom 19. September 2015 hat der Sachverständige seine Stellungnahme dahingehend ergänzt, dass entgegen der Annahme des Klägers ein heutiger Bluttest keinen sicheren Aufschluss über die Durchführung einer Impfung und deren Zeitpunkt geben könne. Gegen eine impfbedingte Polio-Erkrankung spreche auch, dass bei Annahme eines Auftretens der Erkrankung am 23. August 1976 eine ungewöhnlich lange Inkubationszeit von 81 Tagen anzunehmen sei, sogar noch länger bis zur ersten vorgetragenen Impfung. Nach der wissenschaftlichen Literatur träten indes Erkrankungen nach einer Schluckimpfung mit einer Inkubationszeit von bis zu maximal 35 Tagen auf. Schließlich müsse erwähnt werden, dass auch nach zwei Impfterminen nicht immer ein zuverlässiger Schutz gegen eine Infektion erreicht werde, wodurch auch eine Durchfallerkrankung bei der Impfung beitragen könne. Daher könne die Erkrankung an Polio auch bei durchgeführter Impfung impfunabhängig erfolgt sein. Mit Urteil vom 21. März 2016 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, es könne dahinstehen, ob dem Kläger der Vollbeweis einer Impfung gelänge, da auch in diesem Fall die Erkrankung an Poliomyelitis Typ II nicht überwiegend wahrscheinlich auf die Impfung zurückzuführen wäre. Es ergäbe sich aus dem Entlassungsbericht des Krankenhauses B, dass der Kläger dort wegen akuter Poliomyelitis Typ II behandelt worden sei, wobei es sich bei dem nachgewiesenen Erreger um einen Wildstamm gehandelt habe. Es könne damit nicht als überwiegend wahrscheinlich angesehen werden, dass der Kläger auf die Impfung und nicht auf den festgestellten Wildvirus reagiert habe. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Urteil Bezug genommen, das dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 2. April 2016 zugestellt worden ist.

Mit der am 16. April 2016 eingelegten Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. März 2016 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 9. Juli 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. August 2012 zu verpflichten, den Bescheid vom 2. März 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Juni 2012 aufzuheben und die beim Kläger aufgetretenen Gesundheitsstörungen Post-Polio-Syndrom und Skoliose als Folgen einer Impfung gegen Poliomyelitis festzustellen und dem Kläger Beschädigtenversorgung nach dem Infektionsschutzgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorganges des Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet, denn der Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, seinen Bescheid vom 2. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Juni 2012 im Wege der Überprüfung aufzuheben und dem Kläger Versorgungsleistungen zu gewähren. Den genannten Bescheiden liegt keine unzutreffende Rechtsanwendung im Sinne von § 44 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) zugrunde.

Grundlage für die begehrte Versorgung ist § 60 Abs. 1 Nr. 1 IfSG. Nach dieser Vorschrift in der hier einzig in Betracht kommenden Variante enthält Versorgung in entsprechender Anwendung des BVG, wer durch eine Schutzimpfung, die von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 IfSG auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit das Gesetz nichts Abweichendes bestimmt.

Die Voraussetzungen der Versorgungsgewährung lagen hier schon deshalb nicht vor, weil es sich bei den behaupteten Impfungen, die der Kläger als ursächlich für sein Diabetes-Leiden betrachtet, nicht um öffentlich empfohlene Impfungen im Sinne des § 60 Abs. 1 Nr. 1 IfSG gehandelt hat. Es kann daher dahinstehen, ob die Impfungen tatsächlich wie behauptet stattgefunden haben. Bei der genannten Vorschrift handelt es sich um eine gesetzliche Umsetzung des so genannten Aufopferungsanspruches. Sinn und Zweck ist es, jemandem, der es aufgrund einer öffentlichen Empfehlung zum Schutz der Allgemeinheit vor Infektionsrisiken auf sich nimmt, sich einer in gewissem Umfang stets risikobehafteten Schutzimpfung zu unterziehen, eine Versorgung zu gewähren, wenn sich in seiner Person gerade das der spezifischen Impfung immanente Risiko verwirklicht und er deshalb einen Schaden erleidet. Ein Anspruch besteht hingegen nicht, wenn der Schaden durch eine Impfung verursacht worden ist, die nicht von der öffentlichen Empfehlung gedeckt ist (BSG, Urteil vom 20. Juli 2005, B 9a/9 VJ 2/04 R, Juris, Rn. 26). Insoweit muss sich ein Betroffener auf etwaige Haftungsansprüche gegen den impfenden Arzt oder das Pharmaunternehmen oder gleichgelagerte Ansprüche verweisen lassen. So liegt es aber hier, denn im Falle des Klägers ist – die Richtigkeit des Vortrags zur Durchführung der Impfung unterstellt – von der öffentlichen Impfempfehlung abgewichen worden. So war im Jahr 1976 in Berlin die Impfung gegen Poliomyelitis zwar öffentlich empfohlen, jedoch erst ab dem 3. Lebensmonat und dann im Abstand von 6 bis 8 Wochen. Nach dem klägerischen Vortrag sollen die Impfungen indes am 12. März 1976 und am 3. Juni 1976 stattgefunden haben, mithin im ersten Lebensmonat des am 17. Februar 1976 geborenen Klägers und sodann nach weiteren 11 Wochen und 6 Tagen. Damit läge keine Übereinstimmung mit der öffentlichen Impfempfehlung vor. Dies schließt die Gewährung von Versorgungsansprüchen aus.
Rechtskraft
Aus
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