L 18 AS 426/17

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 126 AS 1563/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 426/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 14 AS 408/17 B
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Januar 2017 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Aufforderung des Beklagten an den Kläger, die vorzeitige Inanspruchnahme einer Rente wegen Alters (AR) zu beantragen.

Der 1951 geborene Kläger stand bei dem Beklagten im fortlaufenden Leistungsbezug nach dem Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II). Nach Vorlage einer Rentenauskunft der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV), auf deren Inhalt Bezug genommen wird, forderte der Beklagte den Kläger "umgehend" zur Stellung eines Antrages auf Bewilligung von AR für die Zeit ab 1. Januar 2015 auf (Bescheid vom 4. April 2014).

Im Oktober 2014 beantragte der Kläger unter Verweis auf eine Rentenauskunft der DRV vom 15. September 2014 die Überprüfung des Bescheides vom 4. April 2014. Der Beklagte lehnte eine Rücknahme dieses Bescheides ab, weil die Voraussetzungen der Unbilligkeitsverordnung (UnbilligkeitsV) für ein Absehen von der Aufforderung zur Rentenantragstellung nicht vorliegen würden (Bescheid vom 22. Oktober 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Dezember 2014). Auf den vom Beklagten in der Folge gestellten Rentenantrag bewilligte die DRV dem Kläger für die Zeit ab 1. November 2014 AR wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeit (Bescheid vom 7. Dezember 2015). Das hierauf angestrengte Widerspruchsverfahren ruht (vgl Schreiben der DRV vom 8. Februar 2016).

Das Sozialgericht (SG) B hat die auf Aufhebung des Bescheides vom 22. Oktober 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Dezember 2014 und Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme des Bescheides vom 4. April 2014 sowie auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des vom Beklagten gestellten Rentenantrags gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 23. Januar 2017). Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klagen, die im Hinblick auf das wegen des nicht bestandskräftig abgeschlossenen Rentenverfahrens fortbestehende Rechtsschutzbedürfnis zulässig seien, hätten in der Sache keinen Erfolg. Die Aufforderung des Beklagten an den Kläger zur Beantragung vorzeitiger AR mit Bescheid vom 4. April 2014 sei nicht zu beanstanden, so dass eine Rücknahme gemäß § 44 Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) ausscheide. Die Voraussetzungen des § 12a Satz 1 SGB II iVm § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II hätten vorgelegen, da der Kläger laufend Leistungen nach dem SGB II bezogen habe, die Beantragung der vorzeitigen AR auch geeignet gewesen sei, seine Hilfebedürftigkeit zumindest teilweise zu verringern und auch kein Fall der UnbilligkeitsV in der bis zum 31. Dezember 2016 geltenden und hier anwendbaren Fassung (im Folgenden: aF) vorgelegen habe, in der abschließend die Fälle geregelt seien, in denen der Leistungsberechtigte nicht zur vorgezogenen Rentenantragstellung verpflichtet sei (Bezugnahme auf Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R -). Der Beklagte habe schließlich sein Ermessen auch ordnungsgemäß ausgeübt, atypische Härten seien im vorliegenden Fall weder vorgetragen noch ersichtlich. Allein der Umstand, dass der Kläger von seiner vorgezogenen AR seinen Lebensunterhalt nicht würde vollständig bestreiten können, genüge nicht für die Annahme einer solchen Härte. Auf eine etwaige künftige Hilfebedürftigkeit nach dem Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe – (SGB XII) komme es im maßgeblichen Zeitpunkt der Aufforderung zur Rentenantragstellung nach der vorliegend maßgebenden, zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung geltenden Rechtslage indes nicht an.

Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter und bekräftigt seine Auffassung, dass die UnbilligkeitsV in der seit 1. Januar 2017 geltenden Fassung, namentlich § 6 UnbilligkeitsV, anzuwenden seien. Die Änderung sei aufgrund der Rspr des BSG erfolgt. Der Verordnungsgeber sei daher auch rückwirkend von einer Unbilligkeit auch in den Fällen ausgegangen, in denen prognostisch im Rentenfall weiterhin Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII bestehen würde.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Januar 2017 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 22. Oktober 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Dezember 2014 zu verpflichten, den Bescheid vom 4. April 2014 zurückzunehmen, ferner festzustellen, dass der vom Beklagten gestellte Rentenantrag rechtswidrig ist. Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte des Beklagte verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung und Entscheidung geworden sind.

II.

Der Senat hat gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die (zulässige) Berufung des Klägers durch Beschluss zurückweisen können, weil er dieses Rechtsmittel einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung – zumal nur bereits hinreichend zwischen den Beteiligten erörterte Rechtsfragen streitig sind – nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens nicht für erforderlich gehalten hat. Die Beteiligten sind hierzu vorher gehört worden (vgl § 153 Abs. 4 Satz 2 SGG). Dass das SG im Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG entscheiden hat, steht einer Entscheidung durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG nicht entgegen (vgl BSG, Beschluss vom 14. Oktober 2005 – B 11a AL 45/05 B – juris). Einer echten notwendigen Beiladung der DRV nach § 75 Abs. 2 Alt. 1 SGG bedurfte es nicht (vgl BSG, Urteil vom 23. Juni 2016 - B 14 AS 46/15 R - juris).

Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Die Klagen sind aus den vom SG bezeichneten Gründen, auf die insoweit in entsprechender Anwendung von § 153 Abs. 2 SGG Bezug genommen wird, zulässig, jedoch nicht begründet. Der Beklagte hat bei Erteilung des Bescheides vom 4. April 2014 weder das Recht unrichtig angewandt noch ist er von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen (vgl § 44 Abs. 1 SGB X). Ein etwaiger Anhörungsmangel (vgl § 24 Abs.1 SGB X) ist dabei unbeachtlich (vgl BSG, Urteil vom 19. Februar 2009 – B 10 KG 2/07 R = SozR 4-5870§ 1 Nr 2 Rn 13 mwN). Maßgebend ist die bei Erlass des Bescheides maßgebende Sach- und Rechtslage bei rückschauender Betrachtungsweise aus heutiger Sicht (vgl zB BSG, Urteil vom 14. November 2002 – B 13 RJ 47/01 R = SozR 3-2600 § 300 Nr 18; Schütze in v. Wulffen/Schütze, SGB X 8. Auflage § 44 Rn 10 mwN). Anwendbar ist daher die UnbilligkeitsV in der bis 31. Dezember 2016 geltenden Fassung. Der seit 1. Januar 2017 geltenden Fassung hat der Verordnungsgeber keine Rückwirkung beigemessen (vgl Art. 2 der Ersten Verordnung zur Änderung der UnbilligkeitsV vom 4. Oktober 2016 – BGBl I 2210 zum In-Kraft-Treten am 1. Januar 2017).

Rechtsgrundlage für die angefochtene Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen AR sind § 12a iVm § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II (diese und alle weiteren Vorschriften des SGB II in der seit 1. April 2011 geltenden Fassung aufgrund der Neubekanntmachung vom 13. Mai 2011, BGBl I 850). Danach sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die hierfür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist, wobei nach § 12a Satz 2 Nr. 1 SGB II bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine AR nicht vorzeitig in Anspruch genommen werden muss. Die SGB II-Leistungsträger werden ermächtigt, Leistungsberechtigte zur Beantragung einer vorzeitigen Rente aufzufordern, und, sofern diese der Aufforderung nicht nachkommen, selbst den Antrag zu stellen.

Die sich aus dem Regelungszusammenhang der genannten Vorschriften ergebenden Voraussetzungen (vgl BSG, Urteil vom 19. August 2015 - B 14 AS 1/15 R = SozR 4-4200 § 12a Nr 1) erfüllt der Kläger. Er war hilfebedürftig iS der §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 SGB II. Hilfebedürftig ist danach derjenige, der seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus zu berücksichtigendem Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. Hieran knüpft die Regelung in § 12a SGB II über vorrangige Leistungen an (siehe dazu ausführlich BSG aaO). Nach Vollendung des 63. Lebensjahres gehört zu den vorrangigen Leistungen grundsätzlich auch die Inanspruchnahme einer vorzeitigen AR trotz der mit ihr verbundenen dauerhaften Rentenabschläge für jeden Kalendermonat einer vorzeitigen Inanspruchnahme (vgl § 77 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI).

Der Bescheid des Beklagten vom 4. April 2014, mit dem der Kläger zur Rentenantragstellung frühestens mWv 1. Januar 2015, dh nach Vollendung seines 63. Lebensjahres, aufgefordert wurde, ist rechtmäßig. Der Kläger ist nach § 12a SGB II verpflichtet, vorzeitige AR zu beantragen und in Anspruch zu nehmen. Die Voraussetzungen der sogenannten 58er-Regelung (§ 65 Abs. 4 Satz 2 SGB II), insbesondere die Vollendung des 58. Lebensjahres vor dem 1. Januar 2008, erfüllte der am 31. Dezember 1951 geborene Kläger nicht.

Der Kläger ist zur Inanspruchnahme der Rente verpflichtet, denn diese ist iS des § 12a Satz 1 SGB II zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung ihrer Hilfebedürftigkeit erforderlich. Erforderlich in diesem Sinne ist nicht nur jede Inanspruchnahme von Sozialleistungen, die Hilfebedürftigkeit nicht eintreten oder eine bestehende Hilfebedürftigkeit wegfallen lassen, vielmehr genügt es, wenn die Dauer einer Hilfebedürftigkeit verkürzt bzw begrenzt oder der Höhe nach verringert wird (vgl BSG aaO). Vorliegend führt die Inanspruchnahme der vorzeitigen AR zur Beseitigung der Hilfebedürftigkeit des Klägers nach dem SGB II, denn diese wird unabhängig von der Höhe der Rente beseitigt, was aus § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II folgt, wonach Leistungen nach dem SGB II nicht erhält, wer AR bezieht. Dass abhängig von der Höhe der Rente der Kläger seinen notwendigen Lebensunterhalt ggf nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln bestreiten und ihm deshalb insoweit nach § 19 Abs. 1, § 27 Abs. 1 SGB XII Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII zu leisten sein könnte, ändert nichts daran, dass der Kläger mit dem Bezug der vorzeitigen AR seine Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II beseitigt und aus diesem Leistungssystem ausscheidet. Neben der festgestellten Verpflichtung des Klägers zur Antragstellung ist diese iS des § 12a Satz 1 SGB II auch erforderlich, weil Renten aus eigener Versicherung nur auf Antrag geleistet werden (§ 99 Abs. 1 SGB VI).

Der Verpflichtung des Klägers zur Rentenantragstellung und Inanspruchnahme steht die auf § 13 Abs. 2 SGB II beruhende UnbilligkeitsV aF nicht entgegen, weil keiner der in ihr abschließend geregelten Ausnahmetatbestände (vgl BSG aaO) vorliegt und auch die Ausnahmebestimmungen in §§ 4 und 5 UnbilligkeitsV nicht eingreifen. Entgegen der Auffassung des Klägers ist auch nicht die UnbilligkeitsV in der ab 1. Januar 2017 geltenden Fassung anwendbar. Dass der Verordnungsgeber insofern für vergleichbare Fälle ab 1. Januar 2017 einen Unbilligkeitsgrund (vgl dort § 6) vorsieht, führt nicht dazu, dass andere Ermessenserwägungen anzustellen gewesen wären. Der Verordnungsgeber hat in Kenntnis und unter Anführung der Rechtsprechung des BSG (aaO und Urteil vom 23. Juni 2016 - B 14 AS 46/15 R - juris), wonach eine Hilfebedürftigkeit der Leistungsberechtigten bei Bezug der AR keinen bei der Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 3 SGB II atypischen Fall begründe, die Neuregelung erst mW zum 1. Januar 2017 eingeführt. Im vorliegenden Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X kommt es indes – wie dargelegt - entscheidend auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 4. April 2014 aus heutiger Sicht an.

Das aufgrund der Verpflichtung des Klägers, eine vorzeitige AR zu beantragen und in Anspruch zu nehmen, eröffnete Ermessen des Beklagten hinsichtlich des "Ob" einer Aufforderung hat dieser erkannt und im Ergebnis fehlerfrei ausgeübt. Seine Ermessensausübung ist gerichtlich nur eingeschränkt darauf zu prüfen (§ 39 Abs. 1 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil - SGB I, § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG), ob Ermessen überhaupt ausgeübt, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist ("Rechtmäßigkeits-, aber keine Zweckmäßigkeitskontrolle"; vgl BSG Urteil vom 19. August 2015 - B 14 AS 1/15 -). Die Erwägungen des Beklagten lassen Ermessensfehler nicht erkennen. Relevante Ermessensgesichtspunkte konnten ohnehin nur solche sein, die einen atypischen Fall begründen und auf besonderen Härten im Einzelfall beruhen, die keinen Unbilligkeitstatbestand im Sinne der UnbilligkeitsV aF begründen, aber die Inanspruchnahme der vorzeitigen AR aufgrund außergewöhnlicher Umstände als unzumutbar erscheinen lassen. Soweit sich Anhaltspunkte für solche Härten nicht aufdrängen, ist der Leistungsberechtigte gehalten, atypische Umstände seines Einzelfalls vorzubringen, die der Leistungsträger zu erwägen hat. Vorliegend sind solche Umstände von dem Kläger nicht vorgebracht worden. Insbesondere liegt ein atypischer Fall nicht deshalb vor, weil die vorzeitige AR des Klägers uU nicht bedarfsdeckend ist und Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII in Anspruch genommen werden müssten (vgl BSG aaO). Die aus der Inanspruchnahme vorzeitiger AR folgenden dauerhaften Rentenabschläge und die damit einhergehenden geringeren Rentenerhöhungen waren dem Gesetzgeber bekannt und können nicht zur Annahme einer außergewöhnlichen Härte führen.

Schließlich verstößt dieses Ergebnis nicht gegen Grundrechte des Klägers. Die der Sicherung des Nachrangs durch Verweis auf vorrangige Leistungen dienenden § 12a iVm § 5 Abs. 3 SGB II sind verfassungsgemäß (siehe ausführlich BSG aaO).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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