L 16 R 245/17

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Aktenzeichen
S 29 R 520/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 R 245/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 36/17 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 1. März 2017 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) bis zum 31. Dezember 1990 zurückgelegte Versicherungszeiten bei der Feststellung einer Wit-wenrente (WR) in die Versicherungslast der Beklagten oder des polnischen Sozial-versicherungsträgers (ZUS) fallen.

Die 1949 geborene Klägerin ist polnische Staatsangehörige und Witwe des 1935 ge-borenen und 2015 verstorbenen W K (Versicherter), der – nach Erwerb polnischer Beitragszeiten vom 27. Januar 1954 bis 25. November 1963 - als Spätaussiedler am 22. August 1996 nach Deutschland eingereist war und ab 10. Oktober 1966 Pflicht-beitragszeiten in der GRV zurückgelegt hatte. Nach Erwerb von Pflichtbeitragszeiten in Polen vom 1. August 1982 bis 31. August 1984 lebte und arbeitete der Versicherte ab 1. September 1984 wieder in Deutschland; seit dem 1. Januar 1996 bezog er von der Beklagten Altersrente (AR) wegen Arbeitslosigkeit oder Altersteilzeit. Die Klägerin lebte und lebt seit 1982 durchgehend in Polen. Der Versicherte selbst kehrte im No-vember 2004 nach Polen zurück, woraufhin die Beklagte die AR mWv 1. Dezember 2005 neu feststellte (Bescheid vom 4. November 2005).

Auf den Antrag vom September 2015 gewährte die Beklagte der Klägerin mit Be-scheid vom 8. März 2016 für die Zeit ab 1. September 2015 große WR (Zahlbetrag ab 1. Juli 2016 = mtl 37,35). Dabei berücksichtigte sie bei der Berechnung des Werts des Rechts auf Rente nur die in Deutschland nach dem 31. Dezember 1990 zurück-gelegten Versicherungszeiten; die Abgeltung der davor liegenden Zeiten obliege dem polnischen Versicherungsträger, weil die Klägerin ihren Wohnsitz am 31. Dezember 1990 in Polen gehabt und seither dort beibehalten habe. Der Widerspruch der Kläge-rin hiergegen blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 29. April 2016). Der anteili-ge Besitzschutz nach Maßgabe von § 88 Abs. 2 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) liege unter den für die WR ermittelten persönlichen Entgeltpunkten. Den Überprüfungsantrag vom September 2016 lehnte die Beklagte ab mit der Begründung, dass die WR den gesetzlichen Vorschriften entsprechend berechnet worden sei (Bescheid vom 14. September 2016 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 7. Oktober 2016).

Das Sozialgericht (SG) Frankfurt (Oder) hat die Beklagte unter Aufhebung des Be-scheides vom 14. September 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2016 antragsgemäß verpflichtet, den Rentenbescheid vom 8. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. April 2016 zu ändern und die WR "ab Rentenbeginn unter Berücksichtigung der Anzahl der Entgeltpunkte zu ge-währen, die zuletzt bei der Rentengewährung des verstorbenen Versicherten auf-grund der von dem verstorbenen Versicherten in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten berücksichtigt wurden". Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei begründet. Die Klägerin habe einen Anspruch auf höhere WR auch unter Berücksichtigung der seit 1966 bis zum 31. Dezember 1990 von dem Versicherten in Deutschland zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten entsprechend des hier anwendbaren und § 88 Abs. 2 Satz 1 SGB VI insoweit verdrängenden "Leis-tungsexportprinzips". Entgegen der Auffassung der Beklagten stehe dem nicht die Anwendbarkeit des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9. Oktober 1975 (BGBl II 1976 S 396; DPSVA 1975) und das diesem Abkommen innewohnende "In-tegrationsprinzip", wie es in Art. 4 Abs. 2 DPSVA 1975 zum Ausdruck komme, ent-gegen. Denn ungeachtet dessen, dass die Klägerin ihren Wohnsitz in Polen auch nach dem 31. Dezember 1990 beibehalten habe, folge aus der Übergangsregelung in Art 27 Abs. 2 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über soziale Sicherheit vom 08. Dezember 1990 (DPSVA 1990; BGBl II 1991 S. 743), dass nur unter der Geltung des DPSVA 1975 erworbene Ansprüche und Anwartschaften unter die Besitzstandsregelung fallen würden. Die Klägerin habe aber bis zum 31. Dezember 1990 weder einen Anspruch noch eine Anwartschaft auf WR erworben gehabt. Erst mit dem Ableben des Versicherten habe die Klägerin eine Anwartschaft auf WR erworben. Zumindest in den Fällen, in denen - wie hier - bereits die Rente des Versicherten nicht oder zuletzt nicht mehr unter Anwendung des DPSVA 1975 berechnet worden sei, sei keine Rechtsgrundlage für die erneute An-wendung des DPSVA 1975 auf die Hinterbliebenenrentenleistung ersichtlich. Das infolgedessen anzuwendende Leistungsexportprinzip entspreche auch dem Recht der Europäischen Union.

Mit der Berufung wendet sich die Beklagte gegen dieses Urteil. Sie trägt vor: Das SG habe verkannt, dass Art. 27 Abs. 2 DPSVA 1990 neben Ansprüchen des Berechtig-ten auch ausdrücklich auf vor dem 1. Januar 1991 erworbene Anwartschaften Bezug nehme. Die Weitergeltung des DPSVA 1975 folge unter Berücksichtigung der be-sonderen historischen Umstände auch aus Art. 8 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 iVm Anhang II (Abschnitt Deutschland – Polen Buchst a) der Verordnung (VO) (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Sofern der spätere Hinterbliebene seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet des einen Vertragsstaates auch nach dem 31. Dezember 1990 beibehalten habe, sei seine Anwartschaft auf die Anwendung des DPSVA 1975 geschützt. Dies gelte auch dann, wenn der Anspruch auf Hinterbliebenenrente durch den Tod des Versicherten erst später entstehe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 1. März 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze Bezug genommen.

Die Rentenakte der Beklagten und die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Ge-genstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist nicht begründet.

Die Klägerin kann im Zugunstenverfahren nach § 44 Sozialgesetzbuch – Sozialver-waltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) von der Beklagten verlangen, dass diese ihr – wie erstinstanzlich zuletzt beantragt - unter Änderung des Beschei-des vom 8. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. April 2016 für die Zeit ab 1. September 2015 höhere WR unter rentenwertsteigernder Be-rücksichtigung der vom Versicherten in der Zeit vom 10. Januar 1966 bis 31. Dezem-ber 1990 zurückgelegten deutschen Versicherungszeiten gewährt.

Die Klägerin erfüllt die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Anspruches auf gro-ße WR für die Zeit ab 1. September 2015 (vgl §§ 46 Abs. 2, 99 Abs. 2 SGB VI). Ge-mäß § 66 Abs. 2 Nr. 2 SGB VI sind bei einer Witwenrente Grundlage für die Ermitt-lung der persönlichen Entgeltpunkte die Entgeltpunkte des verstorbenen Versicher-ten. Der Berücksichtigung der vor dem 1. Januar 1991 für die in Rede stehenden deutschen Versicherungszeiten erzielten Entgeltpunkte steht Art. 4 Abs. 2 und Abs. 3 DPSVA nicht entgegen.

Das DPSVA 1975, das aufgrund des (Zustimmungs-)Gesetzes vom 12. März 1976 (BGBl. II S. 393) in innerstaatliches Recht transformiert und am 1. Mai 1976 in Kraft getreten ist (BGBl. II S. 463), wurde nicht durch das spätere Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über soziale Sicherheit vom 08. Dezember 1990 (DPSVA 1990; BGBl. II 1991 S. 743) verdrängt bzw ersetzt. Je-nes Abkommen ist durch das Gesetz vom 18. Juni 1991 (BGBl. II S. 741) in inner-staatliches Recht transformiert worden und am 01. Oktober 1991 in Kraft getreten (BGBl. II Seite 1072). Nach den Übergangs- und Schlussbestimmungen des Ab-kommens vom 08. Dezember 1990 (DPSVA 1990) findet das DPSVA 1975 und da-mit das ihm innewohnende Integrationsprinzip weiterhin ua auf Personen Anwen-dung, die vor dem 01. Januar 1991 in einem Vertragsstaat aufgrund des Abkommens von 1975 Ansprüche und Anwartschaften erworben und die auch nach dem 31. Dezember 1990 ihren Wohnort im Hoheitsgebiet dieses Vertragsstaates beibehalten haben (Art. 27 Abs. 2 Satz 1 und 2 DPSVA 1990). Nach der ab 1. Mai 2010 geltenden Verordnung (VO) (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Schlegel in Eicher/Schlegel, SGB III, Kommentar mit Nebengesetzen, Stand September 2010, Fn zu Vorbemerkungen zur EWG-VO 1408/71, vor Art. 67-71a), die die VO (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, grundsätzlich aufhebt (Art. 90), bleibt das DPSVA 1975 unter den in Art. 27 Absätze 2 bis 4 des DPSVA 1990 festgelegten Bedingungen durch eine Übergangsregelung in Anhang II (Art. 8 Abs. 1) zur Wahrung der Rechtssicherheit uneingeschränkt weiterhin in Kraft und besitzt Rechtsgültigkeit. Im Anhang II der VO (EG) 883/2004 heißt es: Bestimmungen von Abkommen, die weiter in Kraft bleiben und gegebenenfalls auf die Personen beschränkt sind, für die diese Bestimmungen gelten (Art. 8 Abs. 1) "Deutschland – Polen a) Abkommen vom 9. Oktober 1975 über Renten- und Unfallversicherung, unter den in Art. 27 Absätze 2 bis 4 des Abkommens über soziale Sicherheit vom 8. Dezember 1990 festgelegten Bedingungen (Beibehaltung des Rechtsstatus auf der Grundlage des Abkommens von 1975 der Personen, die vor dem 1. Januar 1991 ihren Wohnsitz auf dem Hoheitsgebiet Deutschlands oder Polens genommen hatten und weiterhin dort ansässig sind). b) "

Die Klägerin, die 1982 nach Polen zurückkehrte und ihren Wohnsitz dort bis heute beibehalten hat, unterfiele daher dem DPSVA 1975 mit der Folge, dass gemäß Art. 4 Abs. 2 und Abs. 3 DPSVA 1975 ausschließlich die polnische ZUS – und somit nicht die Beklagte - für die Hinterbliebenenrentengewährung aus den bis 31. Dezember 1990 zurückgelegten deutschen Versicherungszeiten zuständig wäre, wenn sie – die Klägerin - bereits vor dem 1. Januar 1991 eine Anwartschaft auf WR – ein Anspruch bzw eine Berechtigung iSv Art. 4 Abs. 1 DPSVA 1975 können seinerzeit, was zwi-schen den Beteiligten auch nicht streitig ist, noch nicht bestanden haben – gehabt hätte. Dies war indes aus den vom SG angeführten Gründen, auf die ergänzend in Anwendung von § 153 Abs. 2 SGG zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug ge-nommen wird, nicht der Fall. Nach der Konzeption des Gesetzgebers ist die Hinterbliebenenversorgung dem Ver-sicherten in der GRV nicht als Rechtsposition privatnützig zugeordnet. Die Leistung erstarkt nach § 46 Abs. 1 SGB VI nicht mit Ablauf der Wartezeit und Eintritt des Ver-sicherungsfalls zum Vollrecht. Sie steht vielmehr unter der weiteren Voraussetzung, dass der Versicherte zu diesem Zeitpunkt in gültiger Ehe lebt. Zwar ist die Wahr-scheinlichkeit, dass sich das versicherte Risiko verwirklicht, bei verheirateten Versi-cherten deutlich erhöht. Es bleibt aber bei einer bloßen Aussicht auf die Leistung, die mit der Auflösung der Ehe oder dem Vorversterben des Partners entfällt (vgl BVerfG, Beschluss vom 18. Februar 1998 – 1 BvR 1318/861 BvR 1484/86 – juris – Rn 60). Eine von Art. 14 Grundgesetz geschützte Anwartschaft auf Hinterbliebenenrente ent-steht frühestens mit dem Ableben des Versicherten (vgl LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 9. Dezember 2008 – L 13 R 2351/08 – juris – Rn 25). Eine beizubehalten-de Rechtsposition oder einen Rechtsstatus auf der Grundlage des DPSVA 1975 hat-te die Klägerin in Bezug auf die hier in Rede stehende WR daher zu keiner Zeit inne, zumal auch die AR des Versicherten selbst zuletzt nach seiner Übersiedlung nach Polen nicht mehr nach den Vorgaben des DPSVA 1975 berechnet worden war (vgl den AR-Bescheid vom 4. November 2005).

Ob sich ein Anspruch der Klägerin auf eine rentenwerterhöhende Berücksichtigung der in Deutschland vor dem 1. Januar 1991 zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten des Versicherten bereits aus § 88 Abs. 2 Satz 1 SGB VI ergibt, bedarf daher keiner abschließenden Beurteilung (dies bejahend Landessozialgericht – LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28. Januar 2014 – L 18 KN 57/13 – juris).

Wegen grundsätzlicher Bedeutung war die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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