L 9 AL 7/06

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 5 AL 74/05
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AL 7/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Wahrung der Klagefrist setzt voraus, dass der Bescheidempfänger glaubhaft macht, die Rechtsbehelfsbelehrung gelesen, ihren Inhalt unter Anspannung seiner Geisteskräfte zur Kenntnis genommen und an der Umsetzung der darin befindlichen Maßgaben unverschuldet verhindert gewesen zu sein.

2. Ein innerer Hinderungsgrund im Sinne von Unkenntnis oder Irrtum entschuldigt die Fristversäumung dann nicht, wenn der durch den Verwaltungsakt belastete rechtsunkundige Bescheidempfänger im Vertrauen auf die eigene Beurteilung der Verfahrenslage die Klageerhebung unterlässt, ohne mit Rücksicht auf die Vernachlässigung der Maßgaben der Rechtsbehelfsbelehrung rechtzeitig rechtskundigen Rat einzuholen.

3. Ein Augenblicksversagen im Hinblick auf das zutreffende Verständnis der Rechtsbehelfsbelehrung kommt bei einem Bescheidempfänger, der rechtsunkundig ist, keine Routine im Umgang mit Bescheiden hat und keinen sachkundigen Rat einholt, als Hinderungsgrund über die gesamte Dauer der offenen Klagefrist nicht in Betracht.
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 6. Dezember 2005 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitgegenstand ist die Zulässigkeit der Klage wegen eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheides, Arbeitslosenhilfe in den Zeiträumen 16. Februar 2000 – 3. September 2000 sowie 24. Januar 2001 – 11. Februar 2001 betreffend.

Der 1968 geborene und zuletzt als Elektrikerhelfer beschäftigte Kläger ist aufgrund des notariellen Grundstücks-Schenkungsvertrags mit seiner Mutter K. B vom 16. August 1999 Eigentümer des Hausgrundstücks B-Straße in L und bezog von der Beklagten erstmalig seit 16. Februar 2000 Arbeitslosenhilfe. Die Beklagte hob durch Bescheid vom 14. Februar 2005 die Entscheidung über die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe für die Zeit vom 16. Februar 2000 bis 3. September 2000 sowie vom 24. Januar 2001 bis 11. Februar 2001 teilweise nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) i.V.m. § 330 Abs. 2 SGB III mit Wirkung für die Vergangenheit auf und forderte vom Kläger die Erstattung von Arbeitslosenhilfe sowie Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung nach § 50 Abs. 1 SGB X sowie § 335 Abs. 1 SGB III in Höhe von insgesamt 6.249,69 EUR. Der Kläger erhob dagegen am 23. Februar 2005 Widerspruch, den die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 7. April 2005 als unbegründet zurückwies. Der Widerspruchsbescheid wurde laut einem entsprechenden Vermerk auf dem in der Akte befindlichen Bescheidexemplar am 11. April 2005 zur Post gegeben.

Die Beklagte erteilte dem Kläger den Bußgeldbescheid vom 3. Mai 2005 über insgesamt 1.417,98 Euro in ihrem Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen Unterlassung einer Mitteilung zu Mieteinnahmen gemäß § 404 Abs. 2 Nr. 26 und Abs. 3 SGB III, zugestellt am 10. Mai 2005, gegen den der vom Kläger aus Anlass des Bescheidzugangs aufgesuchte Verfahrensbevollmächtigte am 20. Mai 2005 Einspruch einlegte.

Der Kläger hat nach Akteneinsichtnahme seines Bevollmächtigten am 3. Juni 2005 Klage bei dem Sozialgericht Marburg erhoben, sich gegen den Bescheid vom 14. Februar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. April 2005 gewendet und zunächst Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Klagefrist begehrt. Zur Begründung seines Wiedereinsetzungsantrags hat er anwaltlich vortragen lassen, der Widerspruchsbescheid vom 7. April 2005 sei für ihn in den rechtlichen Auswirkungen nicht nachvollziehbar, von ihm nicht verinnerlicht und verstanden worden. Die einzelnen Begriffe einer Rechtsbehelfsbelehrung zu verstehen, sei lediglich für einen Rechtskundigen kein Problem; für ihn genüge insoweit kein einfaches Durchlesen der Rechtsbehelfsbelehrung. Auch sei er der irrigen Auffassung gewesen, mit dem Einspruch gegen den Bußgeldbescheid auch den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid angefochten zu haben; die unterschiedlichen Funktionen der Bundesagentur habe er nicht unterscheiden können. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung am 6. Dezember 2005 persönlich ergänzt, er habe in dem maßgeblichen Zeitraum so viele verschiedene Schreiben bekommen, dass er gar nicht mehr gewusst habe, was los gewesen sei. Dazu hat der Kläger seine eidesstattliche Erklärung vom 3. Juni 2005 vorgelegt, in der es heißt: "Von Herrn Rechtsanwalt F. ist in meinem Auftrag Einspruch gegen den Bußgeldbescheid eingelegt worden. Damit nahm ich an, dass in diesem Verfahren alle Maßnahmen der Bundesanstalt überprüft werden."

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, die Klage sei nicht zulässig, weil die Klagefrist versäumt sei. Der Widerspruchsbescheid vom 7. April 2005 sei am 11. April 2005 zur Post aufgegeben und gelte gemäß § 37 Abs. 2 SGB X mit dem 3. Tag nach Aufgabe zur Post und damit am 14. April 2005 als zugestellt. Die am 3. Juni 2005 erhobene Klage sei somit außerhalb der einmonatigen Klagefrist erhoben. Wiedereinsetzungsgründe seien nicht gegeben.

Das Sozialgericht Marburg hat durch Urteil vom 6. Dezember 2005 die Klage als unzulässig abgewiesen; es hat seine Entscheidung im Wesentlichen auf folgende Gründe gestützt: Die Klage sei als unzulässig abzuweisen, da sie nicht fristgemäß erhoben worden sei. Die Klage sei gemäß § 87 Sozialgerichtsgesetz (SGG) binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides einzureichen. Der Widerspruchsbescheid vom 7. April 2005 sei ausweislich des auf dem Bescheid befindlichen Ab-Vermerks am 11. April 2005 zur Post gegeben und gelte damit nach § 37 Abs. 2 SGB X als am 3. Tage nach der Aufgabe zur Post – hier also dem 14. April 2005 – als bekannt gegeben. Die Klagefrist sei danach vom 15. April 2005 bis 17. Mai 2005 (unter Berücksichtigung der Fristverlängerung durch Wochenende und Pfingstmontag) gelaufen, die Klage jedoch erst am 3. Juni 2005 bei Gericht eingegangen. Dem Kläger sei keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Eine Wiedereinsetzung komme nach § 67 Abs. 1 SGG in Betracht, wenn dem Betroffenen kein Verschulden zur Last falle. Vorliegend beruhe das Fristversäumnis indes auf einem schuldhaften, dem Kläger zurechenbaren und für die Versäumung der Frist auch kausalen Verhalten. Unter Zugrundelegung der eigenen Angaben des Klägers, er habe durch seinen Rechtsanwalt Einspruch gegen den Bußgeldbescheid einlegen lassen und geglaubt, dass in diesem Verfahren alle Maßnahmen der Bundesanstalt überprüft würden, habe der Kläger zu diesem Schluss nur gelangen können, indem er die dem Widerspruchsbescheid beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung nicht zur Kenntnis genommen habe. Schon ein einfaches Durchlesen der Rechtsbehelfsbelehrung, wonach Klage bei dem Sozialgericht einzulegen sei, hätte zur Vermeidung des Irrtums genügt. Die Nichtbeachtung der Rechtsbehelfsbelehrung sei schuldhaft. Nach dem Inhalt der Behördenakte und dem Eindruck von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung seien keine sprachlichen oder sonstigen intellektuellen Defizite erkennbar, die eine Überforderung des Klägers bei Verstehen der Rechtsbehelfsbelehrung zum Widerspruchsbescheid nahe legen würden. Auch der ergänzende Vortrag des Klägers, wonach er in dem maßgeblichen Zeitraum so viele verschiedene Schreiben bekommen habe, dass er gar nicht mehr gewusst habe, was los gewesen sei, könne seine Unkenntnis nicht anders erklärbar machen als dadurch, dass er die Rechtsbehelfsbelehrung zum Bescheid gar nicht oder jedenfalls nicht richtig durchgelesen habe. Zumindest hätte er – wie beim Einspruch gegen den Bußgeldbescheid – sachkundige bzw. anwaltliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Das Sozialgericht hat dem Kläger im Rahmen seiner Kostenentscheidung Verschuldenskosten nach § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG in Höhe von 150,- EUR auferlegt, da sich die Fortführung der Klage als missbräuchlich darstelle. Voraussetzungen für eine Widereinsetzung in den vorigen Stand hätten offensichtlich nicht vorgelegen. Das Vorbringen des Klägers in der mündlichen Verhandlung sei völlig allgemein und substanzlos geblieben. Er habe sich mit seinem Festhalten an der Klage trotz deutlicher Hinweise des Gerichts zur fehlenden Erfolgsaussicht der Klage in hohem Maße uneinsichtig gezeigt.

Der Kläger hat gegen das seinem Prozessbevollmächtigten am 13. Dezember 2005 zugestellte Urteil am 11. Januar 2006 Berufung bei dem Hessischen Landessozialgericht eingelegt, mit der er sich sowohl gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 6. Dezember 2005 wie gegen den Bescheid der Beklagten vom 14. Februar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. April 2005 wendet. Zur Begründung lässt er sein erstinstanzliches Vorbringen zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Klagefrist vertiefen: Das Sozialgericht habe nur die objektiven Schuldmerkmale überprüft, es sei jedoch ein subjektiver Fahrlässigkeitsmaßstab anzulegen. Aus der subjektiven Sicht des Klägers habe es vermeintlich genügt, der Zahlungsforderung durch Bescheid vom 14. Februar 2005 zu widersprechen. Dabei sei maßgebend, ob er insoweit nach seinem individuellen Geistesvermögen fahrlässig geirrt habe. Beim Lesen der Rechtsbehelfsbelehrung zum Widerspruchsbescheid vom 7. April 2005 sei diese von ihm in einem Moment des Augenblickversagens verstandesmäßig nicht umgesetzt worden. Es gebe solche Momente, in denen etwas objektiv Erkennbares in der subjektiven Wahrnehmung fehlinterpretiert und/oder nicht wahrgenommen oder einem in der Vergangenheit vollzogenen Bereich - hier dem zu Protokoll erklärte Widerspruch - zugeordnet werde. Der Kläger habe als juristischer Laie zwischen Ordnungswidrigkeits- und Widerspruchsverfahren nicht zu differenzieren vermögen. Das Sozialgericht sei dann auch rechtsirrtümlich von einer missbräuchlichen Rechtsverfolgung ausgegangen. Der richterliche Hinweis auf die Verschuldensgebühr nach § 192 SGG allein rechtfertige noch nicht deren Festsetzung. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht auf die Fragen des Berichterstatters seine Problemsicht in eigenen Worten dargelegt.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 6. Dezember 2005 und den Bescheid der Beklagten vom 14. Februar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. April 2005 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte vertritt die Auffassung, auch eine juristisch nicht geschulte Privatperson habe eine Sorgfaltspflicht, müsse die Rechtsmittelbelehrung beachten und sich notfalls entsprechend erkundigen. Die ersten Sätze der Rechtsmittebelehrung seien völlig unjuristisch formuliert und für jeden Laien leicht zu verstehen. Der Terminsbevollmächtigte der Beklagten hat in der mündlichen Verhandlung ergänzt, der Kläger sei in der Lage, die Rechtsbehelfsbelehrung zum Widerspruchsbescheid vom 7. April 2005 zu lesen, zu verstehen und umzusetzen, weil er jedenfalls zuvor bereits fehlerfrei Widerspruch gegen den Bescheid der Beklagten vom 14. Februar 2005 eingelegt habe.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht kann nach § 155 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) im Einverständnis mit den Beteiligten durch den bestellten Berichterstatter entscheiden; vorliegend haben beide Beteiligte ihr Einverständnis erklärt (Beklagte: mit Schreiben vom 10. Mai 2006; Kläger: mit Schreiben vom 19. Mai 2006).

Die an sich statthafte Berufung (§ 143 SGG) ist unter Beachtung des Wertes des Beschwerdegegenstandes von über 500,- EUR (hier: 6.249,69 EUR Erstattungsforderung) nicht beschränkt (§ 144 Abs. 1 SGG) und auch zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG), eingelegt.

Die Berufung des Klägers ist nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 6. Dezember 2005 ist rechtmäßig und nicht aufzuheben. Das Sozialgericht hat die Klage zutreffend abgewiesen, weil deren Erhebung unzulässig ist; auch die Verpflichtung des Klägers zur Tragung von Verschuldenskosten ist nicht zu beanstanden.

Der Kläger hat die am 3. Juni 2005 bei dem Sozialgericht eingegangene Klage nicht binnen der Klagefrist gemäß § 87 SGG von einem Monat nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides erhoben. Der Widerspruchsbescheid vom 7. April 2005 gilt nach § 37 Abs. 2 SGB X als am 3. Tage nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben; er wurde ausweislich des auf ihm befindlichen Ab-Vermerks am 11. April 2005 zur Post gegeben; die Klagefrist ab dem 15. April 2005 endete folglich - nach Pfingstmontag – am 17. Mai 2005. Die erst am 3. Juni 2005 bei Gericht eingegangene Klage war damit verspätet.

Dem Kläger ist auf seinen Antrag vom 3. Juni 2005 nicht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Klagefrist zu gewähren. Wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, so ist ihm gemäß § 67 Abs. 1 SGG auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sollen glaubhaft gemacht werden (§ 67 Abs. 2 Satz 2 SGG). Den Verschuldensmaßstab bestimmen Literatur und Rechtsprechung unter Anlehnung an § 276 Bürgerliches Gesetzbuch: Fahrlässig handelt, wer die in einem Verwaltungsverfahren von einem gewissenhaft Handelnden nach den Umständen des Falles und den subjektiven Fähigkeiten des Einzelnen abzufordernde Sorgfalt außer Acht lässt (vgl. Diering/Timme/Waschull, SGB X, Kommentar, § 27 Rdnr. 7 m.w.N.). Ein Beteiligter hat die ihm nach seinen Verhältnissen zumutbare Sorgfalt zu beachten, die unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles zur gewissenhaften Prozessführung nach allgemeiner Verkehrsanschauung vernünftigerweise erforderlich ist (vgl. BSG vom 18. März 1987 – 9 B RU 8/86), wobei an die Sorgfalt eines ungewandten Bürgers geringere Anforderungen zu stellen sind als etwa an die eines Rechtsanwalts (vgl. BSG vom 10. Dezember 1998 – B 5 RJ 42/98 R). Die Anforderungen dürfen im Hinblick auf den grundrechtlich geschützten Anspruch auf ein faires Verfahren (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz) allerdings nicht zu hoch gesetzt werden (Bundesverfassungsgericht vom 11. Februar 1976 – 2 BvR 849/75; Bundessozialgericht - BSG - vom 30. Januar 2002 – B 5 RJ 10/01 R -; LSG Niedersachsen-Bremen vom 25. November 2003 – L 11 KA 11/01 - ).

Der Kläger hat nicht glaubhaft gemacht, die Rechtsbehelfsbelehrung gelesen, ihren Inhalt unter Anspannung seiner Geisteskräfte zur Kenntnis genommen und an der Befolgung der darin befindlichen Maßgaben unverschuldet verhindert gewesen zu sein.

Der Kläger war zunächst gehalten, den ihm bekannt gegebenen Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 7. April 2005 nebst Rechtsbehelfsbelehrung mit der bei behördlichen Schreiben gebotenen Aufmerksamkeit zu lesen und - auch nicht nur gedankenlos - zur Kenntnis zu nehmen (vgl. BSG vom 8. Februar 2001 – B 11 AL 21/00 R – sowie vom 21. Mai 1974 - 7 RKg 8/73 -). Er hat in der mündlichen Verhandlung auf intensive Fragen des Berichterstatters bereits ein Lesen der Rechtsbehelfsbelehrung weder klar bejahen, noch klar verneinen mögen: Er werde sie wohl mal gelesen haben. Die Vagheit dieser und anderer - Angaben des Klägers zu einer Lektüre der Rechtsbehelfsbelehrung schließt es aus, sie als glaubhaft gemacht anzusehen.

Der Kläger war sodann gehalten, die Rechtsbehelfsbelehrung nach seinen intellektuellen Fähigkeiten qualifiziert zur Kenntnis zu nehmen. Er nahm auch zum fraglichen Verstehen der fraglich gelesenen Rechtsbehelfsbelehrung eine ausweichende Haltung ein: Er habe sie aber vielleicht auch nicht verstanden. Die allgemeinen intellektuellen Fähigkeiten des Klägers reichen zum Verständnis des Inhalts der Rechtsbehelfsbelehrung zum Widerspruchsbescheid vom 7. April 2005 offenbar aus, weil sie zuvor bereits zum Verstehen des Inhalts der Rechtsbehelfsbelehrung zum Bescheid vom 14. Februar 2005 und zu deren Umsetzung durch Widerspruch vom 23. Februar 2005 ausgereicht hatten. Ein konkret auf die Rechtsbehelfsbelehrung bezogenes Verständnisproblem hat der Kläger in eigenen Worten nicht benennen können. In der mündlichen Verhandlung boten überdies die lebhaften Darlegungen zu den in der Sache streitbefangenen Mieteinkünften Anschauung für eine partiell bei Fragen zur Rechtsbehelfsbelehrung zurückgenommene Verständnisfähigkeit. Die Vagheit der Angaben des Klägers zu einem etwaigen Unverständnis von Inhalten der Rechtsbehelfsbelehrung schließt es aus, solche als glaubhaft gemacht anzusehen.

Der Kläger hat auch nicht die Kausalität eines unvermeidbaren Irrtums für die Klagefristversäumung glaubhaft gemacht. Er hat nach seinen Angaben angenommen, der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid und der Bußgeldbescheid hingen zusammen, weil beide Bescheide von der Bundesagentur für Arbeit erteilt wurden (siehe seine Angaben in der mündlichen Verhandlung und in der eidesstattlichen Erklärung vom 3. Juni 2005). Seine insoweit ausgearbeitete eidesstattliche Erklärung erweckt damit zwar den ungefähren Eindruck planmäßigen und durch Rechtsirrtum bedingten Verhaltens; jedoch ist genau dies tatsächlich nicht konkret dargelegt worden. Im Gegenteil relativiert sowohl seine Angabe vor dem Sozialgericht, er habe nicht mehr gewusst, was los gewesen sei, wie seine Angabe in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht, die Klageerhebung sei untergegangen bzw. verschwitzt worden, seine konstruiert anmutende eidesstattliche Erklärung so sehr, dass sie als Mittel der Glaubhaftmachung nicht genügt. Das Vorbringen des Prozessbevollmächtigten des Klägers, aus der subjektiven Sicht des Klägers habe es vermeintlich genügt, der Zahlungsforderung durch Bescheid vom 14. Februar 2005 zu widersprechen, hat der Kläger selbst in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht nicht ohne Hilfe reproduzieren können.

Der Kläger wäre durch eine rechtsirrige Beurteilung der Verfahrenslage in Bezug auf die Klagefristversäumung ohnedies nicht entschuldigt. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung entschuldigt in der Regel das Missverstehen einer Rechtsmittelbelehrung trotz ihres klaren Wortlauts (vgl. BSG vom 4. Mai 1995 – 1 BK 16/95) ebenso wenig wie mangelnde Rechtskenntnis (BSG vom 10. Februar 1993 – 1 BK 37/92 -; Bundesverwaltungsgericht vom 14. September 1998 – 8 B 154/98 -, Orientierungssatz 3) ein Fristversäumnis. Der rechtsunkundige Bescheidempfänger darf von den Maßgaben der Rechtsbehelfsbelehrung nicht im Vertrauen auf die eigene Beurteilung der Verfahrenslage abweichen, ohne rechtskundigen Rat einzuholen; denn er läuft aufgrund des Ungenügens seiner Erkenntnis Gefahr, rechtsfehlerhaft zu handeln (ähnlich Hessisches LSG vom 20. Juni 2001 – L 6 AL 14/01 – zur Erklärung von gefragten Tatsachen bei Leistungsbeantragung). Ein Verfahrenshandeln des nicht allein rechtsunkundigen, sondern kaum orientierten Klägers aufgrund eigener rechtlicher Beurteilung wäre ein Verstoß gegen seine Sorgfaltspflicht.

Der Kläger wäre gehalten gewesen, sich bei Auftreten von Unverständnis, Zweifeln oder Fragen nach erfolgter Lektüre der Rechtsbehelfsbelehrung zur Klärung derselben sachkundig zu machen (vgl. Bayerisches Landessozialgericht vom 17. Januar 2006 – L 3 U 416/04 -). So muss sich etwa ein sprachunkundiger Asylbewerber bei Eingang eines amtlichen Schreibens umgehend und intensiv darum bemühen, dessen Inhalt zu erkunden (Bundesverfassungsgericht vom 2. Juni 1992 – 2 BvR 1401/91 und 254/92; so auch BSG vom 21. September 1991 – 9 BV 218/81). Der Kläger hatte nach eigenem Bekunden in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht so viele verschiedene Schreiben bekommen, dass er gar nicht mehr wusste, was los war. In jener Situation hätte er folglich zu allen ihm zugegangenen Schreiben umgehend sachkundigen Rat einholen müssen. Tatsächlich hat er am 12. Mai 2005 (Datum der Vollmachtsurkunde) seinen Verfahrensbevollmächtigten allein in der Bußgeldsache aufgesucht, ohne diesem zumindest jetzt – nach bereits länger dauernder Untätigkeit – den Widerspruchsbescheid vom 7. April 2005 mit vorzulegen oder diesen in anderer geeigneter Weise zu informieren.

Eine Überlastung des Klägers während der Klagefrist ist nicht glaubhaft gemacht. Der Kläger hat die Unterlassung rechtzeitiger Klageerhebung in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht damit begründet, dass diese wohl in dem ganzen Wirrwarr untergegangen sei, er habe die Sache mit der Klagefrist wohl verschwitzt. Nach Erlass des Widerspruchsbescheides vom 7. April 2005 bis zum Ablauf der Klagefrist am 17. Mai 2005 ist anhand der Verwaltungsakte der Beklagten jedoch gar kein weiterer Schriftverkehr – außer dem Erlass des Bußgeldbescheides – nachvollziehbar. Die Angaben des Klägers sind insoweit ein weiteres Mal zu vage, um den Anforderungen einer Glaubhaftmachung zu genügen.

Das Vorliegen eines Augenblicksversagens im Hinblick auf die Nicht-Befolgung der Rechtsbehelfsbelehrung im Sinne eines einmaligen Fehlers bei einer Routinetätigkeit (vgl. etwa BVerwG vom 29. November 2004 – 5 B 105/04 -) kommt bei dem Kläger nicht in Betracht. Da der Kläger rechtsunkundig ist und nach eigenem Vorbringen gar nicht wusste, was los war, lag bei ihm im Hinblick auf die verstandesmäßige Umsetzung der Rechtsmittelbelehrung jedenfalls kein bloßer Moment der Unachtsamkeit vor.

Dem Kläger sind die Kosten aufzuerlegen, die dadurch verursacht werden, dass er den Rechtsstreit vor dem Sozialgericht fortgeführt hat, obwohl ihm von der Vorsitzenden der 5. Kammer des Sozialgerichts Marburg in der mündlichen Verhandlung am 6. Dezember 2005 die Missbräuchlichkeit seiner Rechtsverfolgung oder –verteidigung dargelegt worden und er auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des Rechtsstreits hingewiesen worden ist. Sowohl die nach § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG in der seit 2. Januar 2002 geltenden Fassung zu beachtenden Verfahrensvoraussetzungen, wie die tatbestandlichen Voraussetzungen der dargelegten Missbräuchlichkeit lagen vor. Zum Vorliegen von Missbräuchlichkeit findet sich im Schrifttum ein breites Feld von Einzelfall-Konstellationen (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 3. Auflage, § 192 Rdnr. 9 ff.; Lüdtke, SGG, Kommentar, 2. Auflage, § 192 Rdnr. 9 ff.), in erster Linie von offensichtlicher Aussichtslosigkeit des Rechtsstreits ausgehend. Diese war vorliegend im Zeitpunkt der Erteilung des rechtlichen Hinweises nach § 192 SGG in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht nach Anhörung des Klägers zu den subjektiven Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegeben. Nicht zu wissen, was los ist, und/oder die Verfahrenslage ohne Sachkunde zu beurteilen und gleichwohl nicht umgehend sachkundigen Rat einzuholen, kann bei ausreichenden intellektuellen Fähigkeiten die Fristversäumung nicht entschuldigen. Die Bewertung des Wiedereinsetzungsvorbringens des Klägers als substanzlos durch das Sozialgericht ist nach Überprüfung in dem vorliegenden Verfahren zu bestätigen. Die Höhe der festgesetzten Verschuldenskosten entspricht mit 150,00 Euro dem gesetzlichen Mindestbetrag nach § 192 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 184 Abs. 2 SGG für Verfahren vor den Sozialgerichten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen der Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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