L 2 R 307/05

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 6 RJ 4191/02
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 2 R 307/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 3. Juni 2005 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin beansprucht von der Beklagten die Übernahme der Kosten für die Weiterführung einer Maßnahme zur Teilhabe bzw. Rehabilitation in der Behinderten-Werkstatt M. (WfB) für die Zeit vom 15. Mai 2002 bis 14. Mai 2003.

Die Klägerin ist 1953 geboren. Sie leidet an paranoider Schizophrenie und an hirnorganischem Psychosyndrom nach Reanimation infolge eines Herzinfarktes am 26. September 1991. Sie befindet sich seit 8. Dezember 1998 in laufender ärztlicher, teilweiser stationärer Behandlung. Das Versorgungsamt hat bei ihr einen Grad der Behinderung von 70 v. H. sowie die Merkzeichen "B" und "G" festgestellt. Mit Bescheid vom 25. April 2001 bewilligte die Beklagte der Klägerin Leistungen im Berufsbildungsbereich (früher Arbeitstrainingsbereich) in einer anerkannten WfB gemäß § 40 Sozialgesetzbuch (SGB) IX als Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für die Dauer von 12 Monaten. Dazu befand sich die Klägerin in der Zeit vom 15. Mai 2001 bis 14. Mai 2002 in der Reha-Werkstatt der WfB in H.

Am 19. März 2002 beantragte die Reha-Werkstatt die Übernahme der Kosten für eine Verlängerung der Maßnahme, wobei im Antragsformular u. a. ausgeführt ist, dass eine wesentliche Steigerung der Leistungsfähigkeit nicht zu erwarten sei. Die Klägerin arbeite langsam, aber kontinuierlich und gut und befinde sich an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit, die zugunsten ihrer psychischen Stabilität auch nicht überschritten werden sollte. In dem von der Reha-Werkstatt am 12. April 2002 nachgereichten Befundbericht vom 3. April 2002 der Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. U. wird ausgeführt, es handele sich um einen chronischen Krankheitsverlauf. Zu hoffen sei, dass keine weiteren stationären Behandlungen notwendig werden, dass der Zustand der Patientin auf dem jetzigen Niveau erhalten werden kann.

Unter dem 11. Juni 2002 erteilte die Beklagte der Klägerin den Bescheid, der Verlängerung der Berufsbildung über den 14. Mai 2002 hinaus werde nicht zugestimmt. Nach nunmehr 12 Monaten Berufsbildung sei die Klägerin in der Lage, ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen und im Produktions- bzw. Arbeitsbereich der Werkstatt zu arbeiten. Eine Verlängerung der Berufsbildung wäre nur unter der Bedingung einer zu erwartenden wesentlichen Steigerung der Leistungs- bzw. Erwerbsfähigkeit möglich. Dies könne nach Auswertung der vorliegenden Unterlagen nicht erreicht werden. Mit ihrem dagegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, sie sei seit Aufnahme in der Werkstatt psychisch stabil. Es sei kein Krankenhausaufenthalt notwendig gewesen und die Möglichkeit der sozialen Kontaktaufnahme im Rahmen der Werkstatttätigkeit habe zu einer erheblichen sozialen Verbesserung und Eingliederung beigetragen.

Mit Bescheid vom 4. November 2002 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Rechtsgrundlage für die Beurteilung seien die Vorschriften der §§ 9, 10 und 16 SGB VI in der ab 1. Juli 2001 geltenden Fassung und die §§ 39 und 40 des ab 1. Juli 2001 in Kraft getretenen SGB IX. Dabei würden Leistungen im Berufsbildungsbereich für 2 Jahre erbracht, aber in der Regel für 1 Jahr bewilligt. Danach erfolge die Bewilligung für ein weiteres Jahr, wenn die Leistungsfähigkeit des behinderten Menschen weiterentwickelt oder wiedergewonnen werden könne. Dazu seien eine vorausschauende Betrachtung und eine überwiegende Wahrscheinlichkeit nach Abwägung aller wesentlichen Umstände erforderlich. Bei der Klägerin sei in Anbetracht der Art und Schwere ihrer Erkrankung sowie ihres Lebensalters mit einer wesentlichen Steigerung der Leistungsfähigkeit nicht mehr zu rechnen, so dass auch eine weitere Förderung durch sie – die Beklagte – nicht mehr möglich sei. Die Klägerin erhob dagegen, vertreten durch ihre Betreuerin, deren Aufgabenkreis durch Beschluss es Amtsgerichts H. vom 27. November 2002 auf den vorliegenden Rechtsstreit erweitert worden war, am 26. Dezember 2002 beim Sozialgericht Frankfurt am Main Klage und beantragte außerdem – ohne Erfolg – den Erlass einer einstweiligen Anordnung (S-6/RJ-4401/02 ER, Beschluss vom 9. Januar 2003). Zur Begründung trug sie vor, die Beklagte sei nach § 14 Abs. 1 und 3 SGB IX zur Erbringung der versagten Leistungen verpflichtet, denn sie habe nicht innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrages über ihre Zuständigkeit entschieden. In der Sache sei die Beklagte auch verpflichtet gewesen, ein Sachverständigengutachten zur Frage einzuholen, ob durch eine weitere Verlängerung der Maßnahme eine weitere Leistungssteigerung zu erwarten gewesen sei. Dazu hat sich die Klägerin auf eine fachärztliche Stellungnahme der Frau Dr. U. vom 18. Dezember 2002 berufen, die darin ausführt, entgegen ihrer prognostisch eher ungünstigen Einschätzung vom April 2002 habe bei der Klägerin im weiteren Verlauf doch eine Besserung ihrer Ausdauer und auch ihrer Konzentration erreicht werden können. Auch ihre allgemeine Belastbarkeit sei besser geworden. Seitens der Klägerin wurde noch ein Schriftsatz des Landeswohlfahrtsverbandes vom 21. November 2002 sowie der früheren Betreuerin der Klägerin vom 26. Juli 2002 zu den Akten gereicht, auf die Bezug genommen wird.

Die Beklagte verblieb bei ihrer Rechtsauffassung. Sie sei nicht verpflichtet, weitere Kosten zu übernehmen. Aus der Verfahrensregelung des § 14 SGB IX könne die Klägerin keinen Anspruch herleiten, vielmehr sei der Landeswohlfahrtsverband zuständiger Träger. Der Einholung eines Sachverständigengutachtens bedürfe es nicht, da der Sachverhalt aus dem Verlängerungsantrag der Reha-Werkstatt ersichtlich sei. Danach habe die Klägerin ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung gemäß § 136 Abs. 2 SGB IX erbringen können. Als Rentenversicherungsträger würden Leistungen über 1 Jahr hinaus nur dann erbracht, wenn die Leistungsfähigkeit der Behinderten weiterentwickelt oder wiedergewonnen werden könne (§ 40 Abs. 3 Satz 3 SGB IX). Dabei reiche nicht jeder individuelle Fortschritt aus, sondern nur die Prognose einer wesentlichen oder bedeutsamen Steigerung der Leistungsfähigkeit könne die Fortsetzung der Maßnahme um einen weiteren beachtlichen Zeitraum rechtfertigen. Die Beklagte reichte dazu eine Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts vom 12. Februar 2004 (L 12 RJ 564/03) zu den Akten. Bei der Klägerin sei nach den Angaben im Verlängerungsantrag und in fachärztlichen Stellungnahmen eine wesentliche Steigerung der Leistungsfähigkeit nicht zu erwarten gewesen.

Mit Urteil vom 3. Juni 2005 hob das Sozialgericht den Bescheid der Beklagten vom 11. Juni 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. November 2002 auf und verurteilte die Beklagte, die Kosten für den Aufenthalt der Klägerin im Berufsbildungswerk in der Reha-Werkstatt des Behindertenwerkes M. e.V., H., für die Zeit vom 15. Mai 2002 bis 14. Mai 2003 in gesetzlichem Umfang zu tragen. Zur Begründung führte es aus, gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 1.Halbsatz SGB IX stelle der Rehabilitationsträger innerhalb von 2 Wochen nach Eingang des Antrages bei ihm fest, ob er nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz für die Leistung zuständig sei, wenn Leistungen zur Teilhabe beantragt werden. Stelle er bei der Prüfung fest, dass er für die Leistung nicht zuständig sei, leite er den Antrag unverzüglich dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger zu (§ 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Werde der Antrag nicht weitergeleitet, stelle der Rehabilitationsträger den Rehabilitationsbedarf unverzüglich fest (§ 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Gemäß der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung habe damit der angegangene Rehabilitationsträger nur 2 Wochen für die Entscheidung über die Zuständigkeit zur Verfügung und sei daher ohne Rücksicht auf seine Zuständigkeit zur Leistung verpflichtet, wenn er diese Frist nicht einhalte. Dies entspreche auch der gesetzgeberischen Absicht, die zeitgerechte zügige Erbringung von Leistung zur Teilhabe im Interesse des Leistungsberechtigten, aber auch der zuständigen Rehabilitationsträger zu gewährleisten (Hinweis auf Bundestagsdrucksache 14/5074 Seite 102 ff. zu § 14). Nach der Zielsetzung der Vorschrift sollten ungeklärte Zuständigkeit oder Eilbedürftigkeit nicht mehr zu Lasten der behinderten Menschen bzw. der Schnelligkeit und Qualität der Leistungserbringung ergehen. Ob es sich dabei um einen originären Erstantrag zur Leistungserbringung handele oder einen Verlängerungsantrag, sei nicht erheblich. Eine Differenzierung sei entgegen der Auffassung der Beklagten – weder aus dem ausdrücklichen Wortlaut des Gesetzes noch aus dem gesetzgeberischen Willen oder Zielsetzung herzuleiten. Auch im Falle der Verlängerung einer Rehabilitationsmaßnahme sei es nämlich erforderlich, dass der Rehabilitationsbedarf möglichst schnell festgestellt und umgesetzt werde, um eine Gefährdung gerade der erbrachten Rehabilitationsleistung bzw. des dadurch erreichten Erfolges zu verhindern. Die gesetzliche Entscheidungsfrist von 2 Wochen habe die Beklagte nicht eingehalten. Der am 19. März 2002 gestellte Verlängerungsantrag sei nach Beiziehung eines Befundberichts der behandelnden Ärztin vom 3. April 2002 erst durch Bescheid vom 11. Juni 2002 abgelehnt und insbesondere nicht an einen anderweitig zuständigen Rehabilitationsträger – hier den Landeswohlfahrtsverband – weitergeleitet worden. In diesem Fall begründe sich nach dem gesetzgeberischen Willen eine eigenständige Leistungsverpflichtung des unzuständigen Rehabilitationsträgers bereits allein durch den Zeitablauf. Da sich die Klägerin nach ihrem Vortrag bereits seit Beginn des dritten Aufenthaltsjahres in der Reha-Werkstatt im dortigen Arbeitsbereich auf Kosten des Landeswohlfahrtsverbandes befände, sei der Klage in dem begehrten Umfange stattzugeben gewesen. Dabei habe es sich auch – entgegen der Auffassung der Beklagten – nicht um eine Ermessensentscheidung gehandelt; bei Fristüberschreitung gemäß § 14 Abs. 1 SGB IX habe der Gesetzgeber keinen Ermessensspielraum eingeräumt.

Gegen das ihr am 30. September 2005 zugestellte Urteil richtet sich die von der Beklagten am 28. Oktober 2005 eingelegte Berufung. Die Beklagte trägt vor, sie könne dem Urteil des Sozialgerichts nicht folgen. Die mit Bescheid vom 24. April 2001 bewilligte Leistung im Berufsbildungsbereich der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) sei in der Zeit vom 15. Mai 2001 bis 14. Mai 2002 durchgeführt worden. Nach dem "Verlängerungsantrag" der WfbM vom 19. März 2002 habe die Klägerin damals ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung (§ 136 Abs. 2 SGB IX) erbracht; eine wesentliche Steigerung der Leistungsfähigkeit sei nicht zu erwarten gewesen. Damit habe die Klägerin die Kriterien für die weitere Teilnahme im Berufsbildungsbereich nicht erfüllt (Hinweis auf Entscheidungen des Hessischen Landessozialgerichts vom 24. Mai 1998, L 2 RJ 1077/97 und vom 12. Februar 2004, L 12 RJ 564/03). Eine Verlängerung richte sich nach Art. 67 Abs. 2 SGB IX nach dem zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Verlängerung geltenden Vorschriften. Demnach seien trotz des ursprünglichen Antrages aus dem Jahr 2000 und entgegen § 301 Abs. 1 SGB VI die Vorschriften des § 16 SGB VI i. V. m. § 40 SGB IX in der vom 1. Juli 2001 bis 30. April 2004 geltenden Fassung anzuwenden. Danach werden Leistungen im Berufsbildungsbereich für 2 Jahre erbracht, jedoch in der Regel für 1 Jahr bewilligt. Eine Bewilligung für ein weiteres Jahr erfolge, wenn die Leistungsfähigkeit des behinderten Menschen weiterentwickelt oder wieder gewonnen werden könne. Die insoweit maßgebliche Vorschrift des § 40 SGB IX sehe dazu aber kein Antragsverfahren vor, wie das Sozialgericht gemeint habe. Grundsätzlich erfasse die mit dem "Erstantrag" beantragte Leistung nach § 40 Abs. 3 Satz 1 SGB IX 2 Jahre, sodass für die Laufzeit von 2 Jahren kein neuer Antrag zu stellen sei. Die vom Gesetzgeber den Trägern in Satz 3 dieser Vorschrift auferlegte Überprüfungspflicht erfolge zum Ablauf des ersten Jahres nicht auf Antrag. Grundlage für die Entscheidung sei die fachliche Stellungnahme WfbM. Die Fristenregelung nach § 14 Abs. 1 und 2 SGB IX werde auch nicht über § 14 Abs. 3 SGB IX anwendbar, denn dafür sei Voraussetzung, dass eine Leistung von Amts wegen erbracht werde. Die Entscheidung über die Verlängerung sei jedoch keine Entscheidung über eine Leistung, sondern nur über eine Entscheidung über die weitere Dauer der bereits grundsätzlich bewilligten Leistung. Schließlich ergebe sich – entgegen der Auffassung des Sozialgerichts – auch aus dem Gesetzeswortlaut, dass der Rehabilitationsträger nach § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX nicht die Kosten für die beantragte Leistung ungeprüft zu übernehmen habe. Die Überprüfung könne auch dazu führen, dass kein Rehabilitationsbedarf bestehe oder ein anderer, als beantragt, in Betracht komme. Vorliegend seien Leistungen nach § 41 SGB IX im Arbeitsbereich einer WfbM angezeigt gewesen, für die sich die Zuständigkeit der Beigeladenen ergebe ( § 42 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX). Wegen der weiteren Einzelheiten und des Vorbringens der Beklagten wird auf die Schriftsätze vom 18. Oktober 2005 und 31. August 2006 verwiesen.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 3. Juni 2005 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil. Vorliegend sei entscheidend, dass eine Maßnahme, die für einen behinderten Menschen und sein tagtägliches Leben von ganz entscheidender Bedeutung sei, von dem angegangenen Leistungsträger nicht innerhalb der vom Gesetzgeber ausdrücklich festgelegten Zeit von 14 Tagen entschieden worden sei. Es sei schlichtweg versäumt worden, irgendeine Entscheidung zu treffen. Dies könne auf keinen Fall zu Lasten eines behinderten Menschen gehen. Wegen des Vorbringens im Einzelnen wird auf den Schriftsatz vom 9. Januar 2006 verwiesen.

Der Senat hat eine Stellungnahme vom 11. August 2006 des durch Beschluss vom 5. September 2006 beigeladenen Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (LWV) eingeholt. Dieser hat ausgeführt, eine Zuständigkeit der Beklagten ergebe sich bereits aus § 14 SGB IX, wie das Sozialgericht zutreffend dargestellt habe. Darüber hinaus ergebe sich auch eine Zuständigkeit der Beklagten unabhängig von § 14 SGB IX. Dazu hat sich der LWV auf ein Schreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 12. April 2002 an den Verband Deutscher Rentenversicherungsträger bezogen, das zu den Akten gereicht wurde.

Zur Ergänzung des Tatbestandes und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und Beklagtenakte, die vorgelegen haben.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist sachlich begründet.

Das angefochtene Urteil kann nicht aufrechterhalten bleiben. Der Bescheid der Beklagten vom 11. Juni 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. November 2002 ist rechtmäßig. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, die Kosten für den Aufenthalt der Klägerin im Bildungsbereich der WfbM für die Zeit vom 15. Mai 2002 bis 14. Mai 2003 zu übernehmen. Bei diesen Zeitraum handelt es sich um das weitere (zweite) Jahr, der Kostentragung für Leistungen im Berufsbildungsbereich, nachdem der Klägerin zuvor von der Beklagten mit Bescheid vom 25. April 2001 diese Leistungen für die Dauer von 12 Monaten bewilligt worden waren, die in der Zeit vom 15. Mai 2001 bis zum 14. Mai 2002 durchgeführt wurden. Rechtsgrundlage für die von der Klägerin beanspruchten Leistungen sind §§ 9, 10 und 16 SGB VI und §§ 39, 40 SGB IX. Danach werden für behinderte Menschen in anerkannten Werkstätten Leistungen erbracht, um deren Leistungs- und Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu entwickeln, zu verbessern oder wiederherzustellen; dazu erhalten nach § 40 SGB IX behinderte Menschen Leistungen im Eingangsbereich und im Berufsbildungsbereich. Vorliegend hatte die Klägerin Leistungen im Eingangsbereich bis 14. Mai 2002 erhalten und ein Verlängerungsantrag der WfbM war zuvor im März 2002 gestellt worden. Für die rechtliche Beurteilung ist § 40 Abs. 3 SGB IX in der bis zum 30. April 2004 geltenden Fassung maßgebend, denn eine Verlängerung richtet sich nach den im Zeitpunkt der Entscheidung über die Verlängerung geltenden Vorschriften (Artikel 67 Abs. 2 SGB IX). Nach § 40 Abs. 3 SGB IX a. F. werden Leistungen im Bildungsbereich für zwei Jahre erbracht. Sie werden in der Regel für ein Jahr bewilligt. Sie werden für ein weiteres Jahr bewilligt, wenn die Leistungsfähigkeit des behinderten Menschen weiterentwickelt oder wieder gewonnen werden kann. Der Entwurf der Bundesregierung, die Leistungen im Eingangsbereich generell drei Monate und im Berufsbildungsjahr auf zwei Jahre festzuschreiben, ist nicht Gesetz geworden (zur Entstehungsgeschichte der Vorschrift vgl. Großmann, GK-SGB IX § 40 RdNr. 2). Die gesetzlichen Voraussetzungen lagen vorliegend zugunsten der Klägerin nicht vor.

Ob die Leistungsfähigkeit der Klägerin durch die über ein Jahr hinausgehende Verlängerung des Arbeitstrainings in der Werkstatt für Behinderte weiterentwickelt oder wieder gewonnen werden kann, war im Rahmen einer Prognoseentscheidung zu beurteilen. Dabei unterliegt die Prognose und die daran anknüpfende Entscheidung der Beklagten der vollen Nachprüfbarkeit durch die Sozialgerichte (vgl. Großmann in GK-SGB IX § 40 RdNr. 23 mit weiteren Nachweisen). Auch wenn die Leistungen nach § 40 Abs. 3 S. 2 SGB IX unmittelbar für einen Zeitraum von zwei Jahren bewilligt werden können, wird aus den Sätzen 2 und 3 der Vorschrift eine Förderungsdauer in zwei Leistungsabschnitten deutlich. Eine Förderung um ein weiteres (zweites) Jahr knüpft an das Ergebnis der Förderung des ersten Jahres an und erfordert eine davon ausgehende weitere Prognoseentscheidung. In tatsächlicher Hinsicht sind dabei die Verhältnisse maßgebend, wie sie sich spätestens zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (Widerspruchsbescheid vom 4. November 2002) dargestellt haben. In diesem Zusammenhang genügt für eine positive Prognose auch nicht jede bloße und noch so entfernte liegende Möglichkeit einer Weiterentwicklung oder Wiedergewinnung der Erwerbsfähigkeit, sondern diese muss nach den besonderen Umständen des Einzelfalles und insbesondere der Berücksichtigung des Gesundheitszustandes und der persönlichen Verhältnisse des Versicherten überwiegend wahrscheinlich sein, d. h. es müssen ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden (Senatsurteil vom 26. Mai 1998, L 2 RJ 1077/97).

Auf dieser Grundlage konnte im vorliegenden Fall keine Steigerung der Leistungsfähigkeit im erforderlichen Umfang bei Fortsetzung der Förderung erwartet werden. Die Klägerin hatte nach dem ersten Jahr der Förderung das Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung im Sinne des § 136 SGB IX erreicht, aber eine Steigerung war durch die Fortsetzung der Förderung nicht zu erwarten. Dies folgt zur Überzeugung des Senats aus den Angaben im Verlängerungsantrag der Reha-Werkstatt vom 19. März 2002 und dem Befundbericht der Frau Dr. U. vom 3. April 2002. Im Bericht der Reha-Werkstatt wird die fehlende berufliche Perspektive ausdrücklich bestätigt (Ziff. 8); die Klägerin befand sich an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit, die zu Gunsten ihrer psychischen Stabilität auch nicht überschritten werden sollte. Auch Frau Dr. U. hielt in ihrem Bericht vom 3. April 2002 eine Wiedereingliederung der Klägerin in den allgemeinen Arbeitsmarkt aufgrund der stark verminderten Belastbarkeit (sowohl in körperlicher als auch psychischer Hinsicht) für wenig wahrscheinlich.

Die für das zweite Jahr der Förderung erforderlichen Voraussetzungen waren damit nicht gegeben und eine weitere Förderung der Berufsbildung im Rahmen der Vorschriften der §§ 9 ff. SGB VI und 40 SGB IX durch die Beklagte kam damit nicht in Betracht. Auch wenn Frau Dr. U. in einer weiteren Stellungnahme vom 18. Dezember 2002 ihre "prognostisch eher ungünstige Einschätzung von April 2002" relativiert hat, kann dies zu keiner anderen Beurteilung hinsichtlich des vom Kläger verfolgten Anspruchs führen, denn die Stellungnahme lag bei der Entscheidung der Beklagten über den Widerspruch im November 2002 noch nicht vor und ist offensichtlich auch erst in Kenntnis des Widerspruchsbescheides vom 4. November 2002 ergangen. Dabei hat sich in die Ärztin auch nicht unmittelbar auf ihren persönlichen und fachärztlichen Eindruck, sondern auf ein Telefonat mit der Reha-Werkstatt gestützt.

Soweit das Sozialgericht die Beklagte wegen Fristversäumnis nach § 14 SGB IX zur Kostentragung verpflichtet hat, vermag der Senat dieser Rechtsansicht nicht zu folgen. Dabei ist nach Auffassung des Senats ein Verlängerungsantrag nicht wie ein Erstantrag zu behandeln, denn die Vorschrift des § 40 SGB IX sieht kein weiteres Antragsverfahren nach Ablauf des ersten Förderjahres vor. Die gesetzlich mögliche Dauer einer Förderung beträgt zwei Jahre, und nach einem Jahr ist ohne erneuten Antrag, aber unter Verwertung der Erkenntnisse aus dem ersten Förderjahr, über Fortsetzung einer Förderung für ein weiteres (zweites) Jahr von der Beklagten zu entscheiden. Das Eingangsverfahren hat dabei vorrangig der Feststellung gedient, ob die Werkstatt die geeignete Einrichtung für die Teilhabe eines behinderten Menschen am Arbeitsleben ist, wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen, und welcher Werkstattbereich ggflls. als geeignet in Betracht kommt, sowie der Erstellung eines Eingliederungsplanes, aber auch, ob andererseits wegen der Art und Schwere der Behinderung eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt oder eine entsprechende berufliche Aus- oder Weiterbildung möglich ist. Über die Verlängerung der Förderung nach Abschluss des Eingangsverfahrens bedarf es keiner erneuten Entscheidung dem Grunde nach in einem weiteren Antragsverfahren, sondern es handelt sich um ein Fortsetzungsverfahren, für das z. B. das Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§ 11 SGB VI), das Fehlen eines Ausschlussgrundes (§ 12 SGB VI) oder die Werkstattfähigkeit eines Versicherten - wie bei einem Neuantrag - nicht erneut zu prüfen waren. Mit § 14 SGB IX, der die Zuständigkeitsklärung betrifft, kann daher auch keine Verpflichtung der Beklagten zur Weiterförderung nach Abschluss des Eingangsverfahrens und Übernahme dieser Kosten begründet werden. Diese Vorschrift soll im Interesse behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen durch rasche Klärung von Zuständigkeiten Nachteilen des gegliederten Systems entgegenwirken (vgl. Götze in SGB K § 14 RdNr. 2). An der Zuständigkeit der Beklagten über die Entscheidung hinsichtlich über die Fortsetzung der Förderung bestand überhaupt kein Zweifel. Wenn die Beklagte über die Verlängerung der Maßnahme nicht schon vor Abschluss des Eingangsverfahrens am 14. Mai 2002, sondern erst am 1. Juni 2002 über eine Verlängerung entschieden hat, folgt daraus keine Leistungsverpflichtung der Beklagten. Vielmehr waren die bis zum Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung im November 2002 vorliegenden tatsächlichen Erkenntnisse nicht geeignet, die sachlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen im Bildungsbereich auch im zweiten Jahr durch die Beklagte zu begründen.

Auf die Berufung der Beklagten war deshalb das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, da es an den Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG fehlt.
Rechtskraft
Aus
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