L 1/6 J 1332/78

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 8 J 293/77
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1/6 J 1332/78
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein Rentenbewerber, der zusätzliche, in der Arbeitszeitordnung nicht vorgesehene Pausen benötigt, ist nicht mehr in der Lage, Vollzeittätigkeiten unter den in Betrieben üblichen Arbeitsbedingungen zu verrichten.
Der Arbeitsmarkt ist ihm deswegen praktisch verschlossen (Anschluß an und Fortführung von Hess. Landessozialgericht, Urteil vom 15. Februar 1985 – L-1/J-399/83 –).
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 18. Oktober 1978 wird zurückgewiesen. Auf die Anschlußberufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 18. Oktober 1978 geändert und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheids vom 28. November 1977 verurteilt, dem Kläger ab 1. Januar 1978 Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.

II. Die Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen Aufwendungen beider Rechtszüge zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Gewährung von Versichertenrente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit.

Der 1928 in K./UdSSR geborene Kläger war von Februar 1944 bis April 1945 zunächst als landwirtschaftlicher Arbeiter tätig. Bis Februar 1960 war er dann in der UdSSR interniert. Am 7. Februar 1960 siedelte er in die Bundesrepublik Deutschland über und war hier bis zum 4. Juni 1970 beschäftigt als Bauschlosser und als Kraftfahrzeugschlosser. Seit dem 5. Juni 1970 stand er in einem Beschäftigungsverhältnis als Heizungsmonteur. Danach war er vom 13. Juli 1976 bis zum 31. Dezember 1977 – unterbrochen durch Zeiten krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit, zuletzt vom 23. September 1977 bis 18. November 1977 – bei der Firma M. – Haustechnik –, M., als Monteur im Kundendienst-Zentralheizungsbau (Auswechseln von Kesseln und Heizkörpern) beschäftigt. Seine Entlohnung erfolgte nach der Lohngruppe 4 (selbständige Monteure). Seit dem 1. Januar 1978 geht er keiner Erwerbstätigkeit mehr nach.

Nach Durchführung eines medizinischen Heilverfahrens vom 30. Juni 1977 bis 10. August 1977 (ärztlicher Entlassungsbericht vom 10. August 1977), aus dem der Kläger als arbeitsfähig für die bisherige Tätigkeit entlassen wurde, beantragte der Kläger am 21. September 1977 die Gewährung von Versichertenrente und legte einen Befundbericht des praktischen Arztes G. R. vom 29. September 1977 vor, dem Arztbriefe des Röntgenologen Dr. W. vom 25. Januar 1977 und 24. Februar 1977 beigefügt waren. Auf Veranlassung der Beklagten erstattete daraufhin Dr. V. (SäD M.) ein medizinisches Gutachten vom 10. November 1977, in dem er bei dem Kläger eine chronische Magen- Dünndarmschleimhautentzündung, Vernarbung der Zwölffingerdarmzwiebel nach früheren Geschwüren (keine Entleerungsverzögerung des Magens), Rundrücken mit Wirbelsäulenverschleißerscheinungen und Bewegungseinschränkung nach rückwärts, Taubheit des linken Ohres sowie einen Erschöpfungszustand mäßigen Grades mit Neigung zu Blutunterdruck diagnostizierte. Zum Leistungsvermögen stellte er fest, der Kläger könne noch leichte, zeitweilig auch mittelschwere Arbeiten ohne schweres Heben und Tragen im Freien und in geschlossenen Räumen vollschichtig verrichten. Der Beklagten lagen außerdem Arztbriefe des Dr. W. vom 26. August 1977 und vom 26. Oktober 1977 vor.

Durch Bescheid vom 28. November 1977 lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit der Begründung ab, daß der Kläger noch in der Lage sei, leichte bis zeitweilig auch mittelschwere Arbeiten vollschichtig zu verrichten.

Mit der hiergegen am 8. Dezember 1977 vor dem Sozialgericht Kassel erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, keiner vollschichtigen Tätigkeit mehr nachgehen zu können. Nach der medizinisch festgestellten Leistungseinschränkung sei eine Tätigkeit als Heizungsbauer oder Schlosser nicht mehr möglich. Im übrigen genieße er Berufsschutz als Facharbeiter. Hierzu, hat er Zeugnisse der Firma O. – Heizungsbau, Klimaanlagen – vom 7. September 1972, der Firma E.-Heizungsbau vom 28. Juni 1974 und der Firma Sch. – Heizungs- und Stahlbau – vom 18. März 1976 sowie ein ärztliches Attest des praktischen Arztes G. R. vom 14. Februar 1978 vorgelegt.

Das Sozialgericht hat eine Arbeitgeberauskunft der Firma M. – Haustechnik – vom 2. Mai 1978 eingeholt sowie Beweis erhoben über die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers durch Einholung eines schriftlichen medizinischen Sachverständigengutachtens auf internistischem Fachgebiet. Der Sachverständige Dr. R. hat in seinem internistischen Gutachten vom 20. Juni 1978 bei dem Kläger ein chronisches Ulcusleiden, degenerative Skelettveränderungen, Übererregbarkeit des unbewußten Nervensystems, Zustand nach Genußmittelabusus, Zustand nach Gesichtsverletzungen sowie eine einseitige Schwerhörigkeit diagnostiziert. Zum Leistungsvermögen hat er festgestellt, der Kläger könne ohne Unterbrechung und Schaden für die Restgesundheit noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten im Sitzen, im Wechsel zwischen Sitzen und Stehen, zeitweise im Freien, vornehmlich in geschlossenen Räumen ohne schweres Heben, Tragen, langes Stehen vollschichtig verrichten.

Durch Urteil vom 18. Oktober 1978 hat das Sozialgericht Kassel die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheids vom 28. November 1977 verpflichtet, dem Kläger ab 1. Oktober 1977 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Soweit der Kläger Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit begehrte, hat es die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, daß der Kläger berufsunfähig sei. Unter Berücksichtigung des Berufsschutzes als Facharbeiter und des krankheitsbedingt eingeschränkten Leistungsvermögens kämen zwar für den Kläger noch Tätigkeiten als Qualitäts- und Werkstoffprüfer, in der Werkzeugpflege und Werkzeugausgabe, Materialverwaltung und Materialausgabe in Betracht. Wegen des jedoch stark reduzierten Gesundheitszustandes und der häufigen und lang dauernden Zeiten der Arbeitsunfähigkeit werde der Kläger aber nach Auffassung des Gerichts mit derartigen Tätigkeiten nicht die Hälfte vergleichbarer Versicherter verdienen können. Da die Berufsunfähigkeit ausschließlich auf dem Gesundheitszustand des Klägers beruhe und noch nicht abzusehen sei, ob und wann die Berufsunfähigkeit wieder behoben sein werde, habe die Rente wegen Berufsunfähigkeit unbefristet bewilligt werden müssen.

Gegen dieses der Beklagten am 3. November 1978 zugestellte Urteil richtet sich ihre mit Schriftsatz vom 20. November 1978 – eingegangen beim Hessischen Landessozialgericht am 27. November 1978 – eingelegte Berufung, mit der sie Abänderung des Urteils und Abweisung der Klage in vollem Umfange begehrt. Die Beklagte bestreitet den Berufsschutz des Klägers als Facharbeiter. Insoweit dürfe nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Kläger seinen eigenen Angaben zufolge die Tätigkeit als Heizungsmonteur erst seit dem Jahre 1970, verglichen mit seinem gesamten Berufsleben also nur sehr kurzfristig, ausgeübt habe. Selbst wenn dem Kläger Berufsschutz als Facharbeiter zugebilligt werde, sei er noch nicht berufsunfähig. Auf Grund seiner als Schlosser und Heizungsmonteur erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten gebe es für den Kläger nach dem festgestellten Leistungsvermögen noch zumutbare Arbeitsplätze in ausreichender Zahl. Der Kläger verfüge auch noch über eine ausreichende Umstellungs-, Anpassungs- und Eingliederungsfähigkeit für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes. Hierzu beruft sich die Beklagte auf ein psychologisches Gutachten ihres psychologischen Dienstes (Dipl.-Psych. H.) vom 7. Dezember 1982.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 18. Oktober 1978 abzuändern und die Klage in vollem Umfange abzuweisen sowie die Anschlußberufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen und im Wege der Anschlußberufung das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 18. Oktober 1978 abzuändern und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheids vom 28. November 1977 zu verurteilen, ihm Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Januar 1978 zu gewähren.

Der Kläger macht geltend, daß er nicht mehr unter betriebsüblichen Bedingungen Tätigkeiten verrichten könne.

Der Senat hat einen Befundbericht des praktischen Arztes G. R. vom 25. März 1981, Arztbriefe des Dr. W. – Lindenbergklinik M. – über stationäre Aufenthalte vom 18. April 1979 bis 4. Mai 1979 und vom 11. März 1981 bis 27. März 1981 und des Internisten Dr. T. vom 17. März 1982 eingeholt sowie Beweis erhoben über die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers durch Einholung schriftlicher medizinischer Sachverständigengutachten auf internistischem und orthopädischem Fachgebiet. Der Sachverständige Dr. H. kommt in seinem internistischen Gutachten vom 11. November 1983 zu dem Ergebnis, der Kläger könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte (zwischendurch auch mittelschwere) körperliche Arbeiten vollschichtig verrichten. Er solle keinen überdurchschnittlichen psychisch-nervösen Spannungen ausgesetzt sein (Zeitdruck, Akkord, Wechselschicht und dgl.). Der Kläger müsse außerdem die Möglichkeit haben, Magenschonkost mit kleineren, dafür häufigeren Wahlzeiten einzuhalten. Arbeiten, die besondere Anforderungen an das Feingehör stellten, seien wegen der einseitigen Taubheit, Arbeiten in rauchiger oder staubiger Umgebung wegen der Reizung der Augenbindehäute nicht zumutbar. Wegen der Neigung zu Schwindelzuständen solle der Kläger längeres Stehen vermeiden und im Freien nur zu ebener Erde, nicht auf Leitern und Gerüsten eingesetzt werden. In weiter von dem Senat eingeholten ergänzenden Stellungnahmen des Sachverständigen Dr. H. vom 31. Juli 1984 und vom 25. April 1986 weist der Sachverständige darauf hin, daß bei dem Kläger wegen des rückfälligen Zwölffingerdarmgeschwürs und einem 1977 abgelaufenen Geschwürschubes seit jener Zeit Magenschonkost mit je einer Zwischenmahlzeit vormittags und nachmittags erforderlich sei. Die für diese Zwischenmahlzeiten erforderlichen Pausen seien in zeitlicher Hinsicht mit 10 bis 15 Minuten zu veranschlagen. Der Sachverständige Dr. E. kommt in seinem orthopädischen Gutachten vom 13. Februar 1984 zu dem Ergebnis, daß der Kläger in der Lage sei, vollschichtig körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten.

Nach der Einholung einer Arbeitgeberauskunft der Firma M., M., vom 22. Juni 1983 sowie einer berufs- und wirtschaftskundlichen Auskunft des Landesarbeitsamts Hessen vom 16. April 1984 hat der Senat weiterhin die in dem Verfahren – L-1/J-399/83 – zur Frage betriebsüblicher zusätzlicher Arbeitspausen und der unter diesen Bedingungen zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze eingeholten Auskünfte der Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden vom 20. März 1984, der Gewerkschaft Holz und Kunststoff vom 22. März 1984, der Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik vom 21. März 1984, der Industriegewerkschaft Metall vom 30. März 1984, der Industriegewerkschaft Druck und Papier vom 14. Mai 1984, des Arbeitgeberverbandes der Hessischen Metallindustrie e.V. vom 21. September 1984 und des Verbandes Baugewerblicher Unternehmer Hessen e.V. vom 11. Oktober 1984 sowie des Landesarbeitsamts Hessen vom 7. März 1984 beigezogen. Wegen des Inhalts und der Einzelheiten der Auskünfte, die in der mündlichen Verhandlung mit den Beteiligten erörtert wurden, wird insoweit auf die Gerichtsakte (Bl. 283–299) verwiesen.

Im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts-, der Renten- sowie der Leistungs- und Reha-Akten des Arbeitsamts K., die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz –SGG–). Sie ist jedoch sachlich nicht begründet.

Die Anschlußberufung des Klägers ist hingegen begründet. Nach dem Ergebnis der von dem Senat durchgeführten weiteren Sachaufklärung war die Beklagte auf die von dem Kläger eingelegte und gemäß § 202 SGG in entsprechender Anwendung der §§ 521, 522 Zivilprozeßordnung (ZPO) zulässige – unselbständige – Anschlußberufung unter gleichzeitiger Berücksichtigung des von dem Kläger reduzierten Klageantrages (§§ 153 Abs. 1, 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG) zu verpflichten, dem Kläger Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Januar 1978 zu gewähren. Nach § 1247 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) ist erwerbsunfähig derjenige Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder infolge von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit keine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann.

Die Tatbestandsmerkmale dieser Vorschrift liegen ebenso wie die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 1247 Abs. 3 seit dem 31. Dezember 1977 zugunsten des Klägers vor. Der Kläger kann jedenfalls seit jenem Zeitpunkt keiner regelmäßigen Erwerbstätigkeit mehr nachgehen. Dies steht zur Überzeugung des Senats fest auf Grund des ausführlich und einleuchtend begründeten Gutachtens des Sachverständigen Dr. H. vom 11. November 1983 sowie dessen ergänzender Stellungnahmen vom 31. Juli 1984 und vom 25. April 1986. Der Internist Dr. H. hat bei dem Kläger in erster Linie ein rezidivierendes Magen- und Zwölffingerdarmgeschwür mit narbigen Zwölffingerdarmveränderungen ohne Entleerungsbehinderung des Magens, eine chronische Magenschleimhautentzündung sowie Duodenalvertikel festgestellt. Außerdem diagnostiziert er eine leichte introventrikuläre Leitungsstörung des Herzens (überdrehter Linkstyp) sowie eine Störung des Fettstoffwechsels mit leichter Fettleber. Diese festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen ergeben sich auch aus den weiter vorliegenden medizinischen Dokumentationen auf internistischem Fachgebiet. Bereits der Entlassungsbericht des Prof. Dr. P. vom 10. August 1977 nach durchgeführtem Heilverfahren in B. K. vom 30. Juni 1977 bis 10. August 1977 enthält als Diagnose eine rückfällige Magenschleimhautentzündung mit Neigung zu Zwölffingerdarmgeschwüren. In Übereinstimmung damit stehen auch die Feststellungen des Medizinaldirektors Dr. V. in dem Gutachten vom 10. November 1977, das im Verwaltungsverfahren auf Veranlassung der Beklagten erstattet wurde, des Sachverständigen Dr. R. in dem während des erstinstanzlichen Verfahrens erstatteten internistischen Gutachten vom 20. Juni 1978 sowie des Dr. W. nach stationären Aufenthalten des Klägers in der Lindenbergklinik M. vom 18. April 1979 bis 4. Mai 1979 und vom 11. März 1981 bis 27. März 1981. Aus internistischer Sicht kann der Kläger danach auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zwar noch mindestens leichte (zwischendurch auch mittelschwere) körperliche Arbeiten verrichten. Er soll dabei allerdings keinen überdurchschnittlichen psychisch-nervösen Spannungen ausgesetzt sein (Zeitdruck, Akkordarbeiten, Wechselschicht). Der Kläger muß jedoch nach der Beurteilung des Sachverständigen Dr. H. die Möglichkeit haben, wegen des Magenleidens eine Magenschonkost mit kleineren, dafür häufigeren Mahlzeiten einzuhalten. Dazu genügt nach der ergänzenden Stellungnahme des Dr. H. vom 31. Juli 1984 je eine Zwischenmahlzeit vormittags (2. Frühstück) und nachmittags. Solche Zwischenmahlzeiten erfordern nach den Ausführungen des Sachverständigen eine durchschnittliche Zeitdauer von zehn bis fünfzehn Minuten. Wie aus der ergänzenden Stellungnahme des Dr. H. vom 25. April 1986 hervorgeht, war bereits zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung gerade wegen eines wenige Monate zuvor abgelaufenen erneuten Geschwürschubes Magenschonkost mit je einer Zwischenmahlzeit vormittags und nachmittags in dem angegebenen Umfang erforderlich. Unter Berücksichtigung und Einhaltung dieser Einschränkungen, die der Senat auf Grund der objektiv nachvollziehbaren Begründung für nachgewiesen ansieht und denen auch die Beklagte nicht entgegengetreten ist, hält der Sachverständige Dr. H. den Kläger noch für fähig, vollschichtig Lohnarbeiten unter den weiter beschriebenen Bedingungen verrichten zu können.

Bei dieser Leistungsfähigkeit ist der Kläger jedoch erwerbsunfähig im Sinne des § 1247 Abs. 2 RVO seit Auflösung des letzten Beschäftigungsverhältnisses am 31. Dezember 1977. Denn dem Kläger ist der Arbeitsmarkt seit jenem Zeitpunkt praktisch verschlossen. Zwar kann der Beschluss des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. Dezember 1976 (in SozR 2200 § 1246 RVO Nr. 13) zur Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarkts bei noch vollschichtig einsatzfähigen Versicherten nicht herangezogen werden (vgl. BSG, Urteil vom 27. Mai 1977 – 5 RJ 28/76 –). Ausnahmen kommen jedoch dann in Betracht, wenn der Versicherte nach seinem Gesundheitszustand zwar an sich noch Vollzeittätigkeiten verrichten kann, aber nicht in der Lage ist, diese unter den in Betrieben in der Regel üblichen Arbeitsbedingungen zu verrichten (vgl. BSG, Urteil vom 27. Mai 1977 – 5 RJ 28/76 –; Urteil vom 11. September 1980 – 1 RJ 92/79 –; Urteil vom 27. April 1982 – 1 RJ 132/80 –; BSG in SozR 2200 § 1246 RVO Nr. 22, Nr. 33). Unter diesen Voraussetzungen kommt es auch bei an sich noch vollschichtig einsatzfähigen Versicherten für die Frage, ob sie erwerbsunfähig sind, darauf an, ob für sie nach den im Beschluss des Großen Senats des BSG vom 10. Dezember 1976 (a.a.O.) entwickelten Kriterien der Arbeitsmarkt offen oder praktisch verschlossen ist (vgl. BSG, Urteil vom 27. Februar 1980 – 1 RJ 32/79 – m.w.N.).

Vorliegend ist eine solche Ausnahme im Sinne der angeführten Rechtsprechung nachgewiesen. Dem Kläger ist der Arbeitsmarkt deswegen praktisch verschlossen, weil er wegen der nachgewiesenen, erforderlichen zusätzlichen Arbeitspausen zum Zwecke der Einhaltung von Zwischenmahlzeiten nicht mehr in der Lage ist, Vollzeittätigkeiten unter den in Betrieben in der Regel üblichen Arbeitsbedingungen zu verrichten (vgl. hierzu Hess. LSG, Urteil vom 15. Februar 1985 – L-1/J-399/83 –). Bei der Frage zusätzlicher Arbeitspausen ist grundsätzlich davon auszugehen, daß auf zusätzliche, in § 12 Abs. 2 der Arbeitszeitordnung (AZO) vom 30. April 1938 (RGBl. I S. 447) nicht vorgesehene Pausen kein Rechtsanspruch besteht. § 12 Abs. 2 AZO fordert nach einer Arbeitszeit von mehr als sechs Stunden mindestens eine halbstündige Pause oder zwei viertelstündige Ruhepausen. Abgesehen von besonderen tarifvertraglichen Regelungen können weitere Arbeitsunterbrechungen allenfalls bei bereits bestehendem Beschäftigungsverhältnis aus der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers hergeleitet werden. Der Bewerber um einen Arbeitsplatz kann dagegen nicht mit einer Einstellung rechnen, wenn er zusätzliche, in der AZO nicht vorgesehene Pausen benötigt (vgl. BSG, Urteil vom 30. Mai 1984 – 5 a RKn 18/83 – m.w.N.). Insoweit ist abzustellen auf die tatsächlichen Verhältnisse am Arbeitsmarkt, die maßgebend dafür sind, ob für den Versicherten überhaupt eine Möglichkeit besteht, mit der verbliebenen Leistungsfähigkeit Erwerbseinkommen zu erzielen (vgl. BSG, a.a.O.).

Nach dem Inhalt der von dem Senat beigezogenen Auskünfte (Verfahren F .../. LVA Hessen – L-1/J-399/83 –), auf die sich der Kläger zuletzt mit Schriftsatz vom 2. Juli 1985 berufen hat, die der Beklagten bekannt waren und denen die Beklagte zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens entgegengetreten ist, können solche Pausen nicht als betriebsüblich angesehen werden. Insoweit kann nicht von einer beachtlichen Zahl von Arbeitsplätzen – offen oder besetzt ausgegangen werden (vgl. dazu BSG, Urteil vom 5. November 1980 – 4 RJ 71/79 –; Urteil vom 19. März 1981 – 4 RJ 19/80 –). In Anlehnung an § 103 Arbeitsförderungsgesetz (APG) und dem Begriff der "üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts” muß eine beachtliche Zahl von solchen Arbeitsverhältnissen vorhanden sein, aus der eine entsprechende Übung entnommen werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 30. Mai 1984 – 5 a RKn 18/83 – m.w.N.). Diese Rechtsprechung läßt sich auf die gesetzliche Rentenversicherung übertragen, soweit es in ihr auf die Verschlossenheit des Arbeitsmarktes ankommt (vgl. BSG, a.a.O.).

Arbeitsplätze mit vormittags und nachmittags erforderlichen zusätzlichen Pausen zur Einnahme von Zwischenmahlzeiten zwischen Frühstück und Mittagessen und Mittags- und Abendmahlzeit sind nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Auskünften nicht in nennenswertem Umfang oder in beachtlicher Zahl vorhanden. Nach der Auskunft der Industriegewerkschaft Metall vom 30. März 1984 sind in allen Betrieben Pausenregelungen entsprechend der Arbeitszeitordnung vereinbart. Danach ist vormittags gegen neun Uhr eine 15-minütige Frühstückspause und in der Zeit zwischen zwölf Uhr und vierzehn Uhr eine Mittagspause von meistens 30 Minuten geregelt. Weitere Pausen am Nachmittag sind nicht bekannt. In zwei Schichtbetrieben ist meistens nur eine Pause von 30 Minuten pro Schicht üblich. Nach der Auskunft der Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden vom 20. März 1984 gehören eine Frühstückspause vormittags und eine Mittagspause zu den betriebsüblichen Arbeitsbedingungen. Arbeitspausen nachmittags gibt es danach nicht. Nach der Auskunft der Industriegewerkschaft Druck und Papier vom 14. Mai 1984 sind Pausen für eine Zwischenmahlzeit vormittags und nachmittags nicht betriebsüblich. Solche Arbeitsplätze sind dort nicht bekannt. Nach der Auskunft der Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik vom 21. März 1984 richten sich die Pausen im Schichtbetrieb nach dem Arbeitsablauf. Insoweit werden an Stelle regulärer Pausen angemessene Kurzpausen gewährt. Die Frühstückspause dauert in der Regel zehn bis fünfzehn Minuten. Eine Arbeitspause am Nachmittag ist für den Normalschichtbetrieb völlig unbekannt. Arbeitsplätze, in denen sowohl vormittags als auch nachmittags eine zusätzliche Pause eingelegt werden kann, gibt es nach der Auskunft im Organisationsbereich der Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik "absolut” nicht. Bei Wechselschichtarbeit werden ausgesprochene Kurzpausen zwischen fünf- und zehnminütiger Dauer gewährt. Zwar wird nach der Auskunft der Gewerkschaft Holz und Kunststoff vom 22. März 1984 z.B. eine 20-minütige Pause vormittags noch als betriebsüblich angesehen. Ebenso wird bei Arbeiten in Früh- oder Spätschicht eine Arbeitspause von jeweils 20 Minuten noch als betriebsüblich eingeschätzt. Andererseits wird jedoch die Betriebsüblichkeit einer Arbeitspause nachmittags bei Normalschicht, die vorliegend von dem Kläger ausschließlich geleistet werden kann, verneint. Ebenso wird die Frage verneint, ob im Bezirk des Landesarbeitsamts Hessen Arbeitsplätze in nennenswertem Umfang vorhanden sind, bei denen vormittags und nachmittags jeweils eine Pause eingelegt werden kann. Die Auskunft des Verbandes Baugewerblicher Unternehmer Hessen e.V. vom 11. Oktober 1984 ergibt gegenüber derjenigen der Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden vom 20. März 1984 keinen Anlaß zu einer anderen Beurteilung, da ein Arbeitsplatzangebot, selbst wenn die geforderte Pausenmöglichkeit gegeben wäre, schlechthin verneint wird. Das Landesarbeitsamt Hessen hat zu der Frage einer Pausenregelung in seiner Auskunft vom 7. März 1984 an die Tarifvertragsparteien verwiesen. Die Auskunft des Arbeitgeberverbandes der Hessischen Metallindustrie e.V. vom 21. September 1984 rechtfertigt gegenüber der Auskunft der Industriegewerkschaft Metall vom 30. März 1984 keine andere Betrachtungsweise. Danach sind von den Mitgliedsfirmen nur Pausen nach der AZO zu gewähren (zweimal 15 Minuten). Betriebsüblich sind dort Pausen in den Vormittags- und Nachmittagsstunden nicht, wenngleich im Einzelfall Mitarbeitern auch medizinisch begründete Pausen zugestanden würden. Insoweit wird zwar in der Auskunft von entsprechenden Arbeitsplätzen in nennenswertem Umfang ausgegangen. Gleichwohl steht diese Auskunft derjenigen der Industriegewerkschaft Metall vom 30. März 1984 nicht entgegen, da in der Auskunft des Arbeitgeberverbandes der Hessischen Metallindustrie e.V. ersichtlich auf mögliche Zugeständnisse eines Arbeitgebers sowie auf Einzelvereinbarungen abgestellt wird. Auf eine solche mögliche Regelung zusätzlicher Pausen kann aber im Rahmen der Prüfung der Betriebsüblichkeiten nicht abgestellt werden. Solche einzelvertragliche Regelungen, die auf Grund eines Zugeständnisses des Arbeitgebers beruhen, müssen deshalb hier außer Betracht bleiben. Bach den vom Senat zugrunde gelegten Auskünften, die für das Land Hessen mit industriellen Ballungsgebieten und ländlich strukturierten Gegenden repräsentativ sind, kann eine zusätzliche Arbeitspause zur Einnahme von Zwischenmahlzeiten vormittags zwischen Frühstück und Mittagessen und nachmittags zwischen Mittags- und Abendmahlzeit bei der vorliegend zu berücksichtigenden Normalschicht nicht als betriebsüblich angesehen werden. Arbeitsplätze in nennenswertem Umfang oder in beachtlicher Zahl sind danach mithin nicht feststellbar. Hieraus folgt, daß der Kläger nicht mehr unter betriebsüblichen Arbeitsbedingungen arbeiten kann. Der Arbeitsmarkt ist ihm praktisch verschlossen. Demgemäß steht dem Kläger ein Anspruch auf Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit zu.

Diesem Ergebnis steht weder das von dem Senat eingeholte orthopädische Gutachten des Sachverständigen Dr. E. vom 13. Februar 1984 noch das von der Beklagten im Berufungsverfahren vorgelegte psychologische Gutachten des Dipl.-Psych. H. vom 7. Dezember 1982 entgegen. Zwar kommt der Sachverständige Dr. E. zu dem Ergebnis, daß der Kläger noch in der Lage sei, vollschichtig körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Nach dem psychologischen Gutachten soll der Kläger noch über eine ausreichende Umstellung- und Anpassungsfähigkeit für früher verrichtete Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verfügen. Insoweit ist jedoch zu beachten, daß diese Gutachten die Leistungsfähigkeit des Klägers aus orthopädischer bzw. psychologischer Sicht beurteilen, während die Erwerbsfähigkeit des Klägers maßgeblich durch Leiden beeinträchtigt wird, die dem intern-medizinischen Bereich zuzuordnen sind.

Bei dieser Sach- und Rechtslage war die Berufung der Beklagten zurückzuweisen und die Beklagte auf die Anschlußberufung des Klägers unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Kassel vom 18. Oktober 1978 und des Bescheids vom 28. November 1977 zu verpflichten, dem Kläger antragsgemäß ab 1. Januar 1978 Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1, 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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