L 1 Kr 444/90

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 10 KR 1260/90
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 Kr 444/90
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 22. Februar 1990 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin noch bei der Beklagten familienversichert ist.

Die Klägerin lebt von ihrem Ehemann, dem Beigeladenen, getrennt. Dieser ist versicherungspflichtiges Mitglied der Beklagten. Auf Grund notarieller Urkunde verhandelt vor dem Notar verpflichtete sich der Beigeladene, für die Zeit des Getrenntlebens bis zur Rechtskraft der Ehescheidung monatlich im voraus 620,– DM als Unterhalt an die Klägerin zu zahlen. Der Beigeladene macht diese Unterhaltszahlungen steuermindernd als Sonderausgaben nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) geltend. Sie werden im gemeinsamen Einkommensteuerbescheid als steuerpflichtige Einkünfte der Klägerin berücksichtigt.

Mit Bescheid vom 1. August 1989 stellte die Beklagte fest, daß der Anspruch der Klägerin auf Familienversicherung zum 31. Dezember 1988 erloschen sei. Auf Grund der Unterhaltszahlungen verfüge die Klägerin über ein Gesamteinkommen, das regelmäßig ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße (450,– DM) überschreite. Gleichzeitig empfahl die Beklagte der Klägerin einen Antrag auf freiwillige Krankenversicherung.

Den hiergegen am 10. August 1989 erhobenen Widerspruch der Klägerin, mit dem diese sich gegen eine Berücksichtigung der Unterhaltszahlungen als Gesamteinkommen wandte, wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 22. September 1989 zurück. Zur Begründung führte die Beklagte aus, daß Unterhaltszahlungen als steuerpflichtiges Gesamteinkommen anzusehen seien, wenn diese, wie im vorliegenden Fall, von dem Finanzamt bei dem Unterhaltspflichtigen steuermindernd als Sonderausgaben und bei der Empfängerin als steuerpflichtige Einkünfte zu berücksichtigen seien.

Hiergegen hat die Klägerin am 4. Oktober 1989 vor dem Sozialgericht Darmstadt Klage erhoben und vorgetragen, daß die Entscheidung der Beklagten zu einer doppelten Veranlagung eines einzigen Einkommens führe. Daß vorliegend steuerrechtlich von der Möglichkeit des begrenzten Ehegatten-Realsplittings Gebrauch gemacht worden sei, müsse unbeachtet bleiben. Eine Übertragung dieser steuerrechtlichen Fiktion auf die sozialversicherungsrechtliche Fragestellung des Bestehens oder Nichtbestehens der Familienversicherung sei rechtlich nicht haltbar. Hierbei sei auch zu berücksichtigen, daß die unterhaltsberechtigte Ehefrau nach der obergerichtlichen Rechtsprechung in Familiensachen verpflichtet sei, bei – freiwilligen – Unterhaltszahlungen auf Verlangen des Unterhaltsschuldners einem solchen steuerrechtlichen Verfahren zuzustimmen. Deshalb müsse es sozialversicherungsrechtlich unerheblich sein, wie sich der Versicherte und dessen von ihm getrennt lebende Ehefrau einkommensteuerrechtlich verhielten.

Durch Urteil vom 22. Februar 1990 hat das Sozialgericht Darmstadt die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben und festgestellt, "daß die Klägerin familienversichert im Sinne des § 10 SGB V ist.” In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, daß bei der Versicherung von Familienangehörigen nach den gesetzlichen Voraussetzungen zwar abzustellen sei auf das monatliche Gesamteinkommen. Dieser Begriff erfasse auch sonstige Einkünfte nach dem Einkommensteuergesetz. Etwas anderes gelte aber bei Unterhaltszahlungen. Hier sei zu berücksichtigen, daß sich die unterhaltsberechtigte Ehefrau auf Betreiben des wirtschaftlich stärkeren Unterhaltsverpflichteten zum steuerrechtlichen Ehegatten-Realsplitting bereiterklären müsse. Es sei unerträglich, daß die Eheleute somit bei Getrenntleben durch privatrechtliche Vereinbarung entscheiden könnten, ob die unterhaltsberechtigte Ehefrau familienversichert bleibe oder freiwilliges Mitglied der Krankenversicherung werden müsse. Über die im Steuerrecht geltende Gesetzesfiktion und deren Übertragung auf das Sozialversicherungsrecht könne es so durch entsprechende Vereinbarungen der getrennt lebenden Eheleute zu einer Belastung oder Entlastung der Solidargemeinschaft und zu einer Ungleichbehandlung der unterhaltsberechtigten Familienangehörigen kommen. Dies spreche für die Beibehaltung der Familienversicherung bei reinen Unterhaltszahlungen nach dem Ehe- oder Familienrecht vor Rechtskraft der Scheidung. Gerade das begrenzte Ehegatten-Realsplitting im Steuerrecht zeige den Versuch des Gesetzgebers, die Leistungskraft des Unterhaltsverpflichteten nicht noch weiter zu schmälern.

Gegen dieses der Beklagten am 23. April 1990 zugestellte Urteil richtet sich die mit Schriftsatz vom 3. Mai 1990 – eingegangen bei dem Hessischen Landessozialgericht am 8. Mai 1990 – eingelegte Berufung, mit der die Beklagte Aufhebung des Urteils und Abweisung der Klage verfolgt. Die Beklagte verweist in ihrer Begründung auf die Legaldefinition des Gesamteinkommens. Dieser Begriff stelle in seinem vollen Umfang auf die steuerrechtlichen Einkünfte ab. Nach dem Willen des Gesetzgebers gehörten hierzu auch Unterhaltsleistungen.

Diese seien steuerpflichtig und daher Gesamteinkommen, wenn sie der Unterhaltsverpflichtete mit Zustimmung des von ihm getrennt lebenden Ehegatten steuermindernd als Sonderausgabe absetzen könne.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 22. Februar 1990 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und verweist auf ihr Vorbringen im Verwaltungs- und erstinstanzlichen Klageverfahren.

Durch Beschluss vom 19. September 1990 hat der Senat den Ehemann der Klägerin gemäß § 75 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu dem Verfahren beigeladen. Im Termin zur mündlichen Verhandlung war der Beigeladene, der keinen Antrag gestellt hat, weder erschienen noch vertreten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird im übrigen Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte über die Berufung auch in Abwesenheit des Beigeladenen aufgrund mündlicher Verhandlung entscheiden, da dieser auf eine solche Möglichkeit in der schriftlichen Terminsladung hingewiesen worden ist (§§ 110 Abs. 1 Satz 2, 124 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz –SGG–).

Die Berufung ist zulässig; sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 143, 151 SGG).

Die Berufung ist auch sachlich begründet. Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 22. Februar 1990 war aufzuheben. Die Klägerin ist als getrennt lebende Ehefrau des Beigeladenen nicht über den 31. Dezember 1988 hinaus bei der Beklagten familienversichert.

Nach § 10 Abs. 1 Nr. 5 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V) sind der Ehegatte und die Kinder von Mitgliedern (in der Krankenversicherung) versichert, wenn diese Familienangehörigen

1) ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzbuchs haben,

2) nicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 bis 8, 11 oder 12 oder nicht freiwillig versichert sind,

3) nicht versicherungsfrei oder nicht von der Versicherungspflicht befreit sind; dabei bleibt die Versicherungsfreiheit nach § 7 außer Betracht, 4) nicht hauptberuflich selbständig erwerbstätig sind und

5) kein Gesamteinkommen haben, das regelmäßig im Monat ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches überschreitet; bei Renten wird der Zahlbetrag berücksichtigt.

Die monatliche Bezugsgröße im Sinne des § 18 des 4. Buches Sozialgesetzbuch betrug für den hier maßgeblichen Zeitraum des Jahres 1989 monatlich 450,– DM (§ 2 der Verordnung über maßgebende Rechengrößen der Sozialversicherung für 1989 – BGBl. I S. 2222).

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts sind die Unterhaltszahlungen des Beigeladenen an die Klägerin in Höhe von monatliche 620,– DM dem vorliegend allein streitigen Tatbestand des Gesamteinkommens nach § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB V zuzurechnen. Für den Begriff des Gesamteinkommens gilt die Legaldefinition des § 16 Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – (SGB IV). Hiernach ist Gesamteinkommen die Summe der Einkünfte im Sinne des Einkommensteuerrechts. Dies sind alle Einkünfte aus den sieben Einkunftsarten des § 2 Abs. 1 EStG, also Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, aus Gewerbebetrieb, aus selbständiger Arbeit, aus nichtselbständiger Arbeit, aus Kapitalvermögen, aus Vermietung und Verpachtung sowie sonstige Einkünfte im Sinne des § 22 EStG. Zu diesen sonstigen Einkünften gehören kraft ausdrücklicher Regelung nach § 22 Nr. 1a. EStG die Einkünfte aus Unterhaltsleistungen, soweit sie nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG vom Geber abgezogen werden können. Dies ist vorliegend, wie dargelegt, der Fall. Die Unterhaltszahlungen stellen den entscheidenden Faktor für die wirtschaftliche Lage der Klägerin dar. Hieran knüpft die Regelung des § 10 Abs. 1 SGB V – als Nachfolgeregelung des bisherigen § 205 RVO – an. Die bereits für § 205 RVO a.F. maßgebliche Einkommensanrechnung, die ebenfalls auf das Gesamteinkommen abstellte, war durch das Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz (KVKG) vom 27. Juni 1977 (BGBl. I S. 1069, 1071) eingeführt worden. Hiernach sollten über die Familienkrankenhilfe keine Leistungen für solche Angehörigen gewährt werden, die der Gesetzgeber wegen der Höhe ihres Einkommens für nicht schutzbedürftig hielt und damit auf die eigene Vorsorge verwies (vgl. BSG, Urteil vom 6. August 1987 – 3 Rk 25/86 –, SozR 2200 § 205 RVO Nr. 63 unter Hinweis auf BT-Drucks. 8/166, S. 26). Die Familienkrankenhilfe sollte also von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Begünstigten abhängig gemacht werden. Auch das Einkommensteuergesetz versteuert im Grundsatz nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Dementsprechend dienen die Voraussetzungen, die § 10 Abs. 1 Nr. 1 bis SGB V für die Versicherung von Angehörigen aufstellt, der Abgrenzung des Kreises der Angehörigen, der zu Lasten der Solidargemeinschaft beitragsfrei versichert sein soll und als dieses Schutzes bedürftig angesehen wird. Bei den Angehörigen, die solche Voraussetzungen nicht erfüllen, geht das Gesetz davon aus, daß sie einen anderen Krankenversicherungsschutz haben oder ihnen dessen anderweitige (mit Beitragszahlungen verbundene) Beschaffung zuzumuten ist (vgl. Peters, in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Stand: 1. Januar 1990, § 10 SGB V Rdnr. 2). Dies ergibt sich eindeutig aus den gesetzgeberischen Motiven. Während nach dem Regierungsentwurf zum Gesundheits-Reformgesetz bei der Vorschrift des § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB V zunächst nicht mehr – wie bisher – an das "Gesamteinkommen”, sondern an die "Einnahmen zum Lebensunterhalt” angeknüpft werden sollte (vgl. BT-Drucks. 11/2493, S. 161), kam es im weiteren Gesetzgebungsverfahren wieder zur Anknüpfung an das "Gesamteinkommen”. In dem Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 24. November 1988 (Drucks. 11/3480, S. 49) heißt es dazu: "Die Änderung in Nr. 5 ersetzt die Einnahmen zum Lebensunterhalt durch den Begriff des Gesamteinkommens (§ 16 SGB IV). Dies soll bewirken, daß insbesondere der Bezug steuerfreier Sozialleistungen nicht zum Ausscheiden aus der Familienversicherung führen kann.” Für das vorliegende Verfahren ergibt sich hieraus, daß die der Klägerin regelmäßig zufließenden Unterhaltszahlungen des Beigeladenen somit die Rechtsfolge des § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB V auslösen, da sie ihrer Höhe nach die maßgebliche Bezugsgröße überschreiten. Wie der im Verwaltungsverfahren vorgelegte Einkommensteuerbescheid des Finanzamtes Bensheim vom 22. Juni 1989 zeigt, sind die Unterhaltszahlungen auch bei dem Beigeladenen steuermindernd als Sonderausgabe berücksichtigt und – in der gemeinsamen Veranlagung – bei der Klägerin mit demselben Betrag als sonstige Einkünfte zugrunde gelegt worden.

Eine andere Beurteilung folgt auch nicht daraus, daß eine bei Getrenntleben unterhaltsberechtigte Ehefrau nach der Rechtsprechung in Familiensachen gewissermaßen dazu gezwungen ist, auf Verlangen des Unterhaltsschuldners einer solchen steuerrechtlichen Verfahrensweise zuzustimmen, um nicht den Anspruch auf Unterhalt zu mindern oder gar zu verlieren.

Diese Auffassung der Klägerin findet im Gesetz keine Stürze, wie sich aus den insoweit zum Unterhaltsanspruch einschlägigen Vorschriften der §§ 1361 Abs. 1, 1578 Abs. 1 und Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ergibt. Nach § 1578 Abs. 1 BGB umfaßt der Unterhalt den gesamten Lebensbedarf. Hierzu gehören nach der ausdrücklichen Regelung des Absatzes 2 dieser Vorschrift auch die Kosten einer angemessenen Versicherung für den Fall der Krankheit. Die Kosten dafür sind grundsätzlich im laufenden Unterhalt enthalten, dessen Höhe dementsprechend an § 1578 Abs. 2 BGB auszurichten ist. Damit wird auch im Rahmen des Vorsorgeunterhalts eine Lücke in der "sozialen Biographie” (Palandt, BGB, 48. Auflage 1989, § 1361 Anm. 5 dd) geschlossen.

Soweit die Klägerin vorträgt, daß ein einziges Einkommen auf diese Weise zweimal zu den Aufwendungen für Krankenversicherungsschutz veranlagt werde, ergibt sich ebenfalls keine andere Beurteilung. Insoweit ist zu berücksichtigen, daß eine solche "doppelte Veranlagung” ausgeglichen wird durch die dem unterhaltsverpflichteten Ehemann gewährte Steuerminderung.

Bei dieser Sach- und Rechtslage war deshalb das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 22. Februar 1990 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Einer Korrektur des "Feststellungstenors” dieses Urteils bedurfte es deshalb nicht. Das Sozialgericht hatte insoweit nämlich unbeachtet gelassen, daß als zulässige Klageart allein eine Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG in Betracht kam und mit der Aufhebung der angefochtenen Bescheide damit ein Rechtszustand hergestellt gewesen wäre, den die Klägerin erstrebte. Eine gesonderte Feststellung über das Bestehen der Familienversicherung wäre deshalb nicht erforderlich gewesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1, 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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