L 10 Ar 425/95

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 9 Ar 562/94
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 10 Ar 425/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 13. März 1995 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch der Klägerin auf Ausbildungsgeld (Abg) für die Zeit einer beruflichen Rehabilitationsmaßnahme vom 6. September 1993 bis zum 2. Juni 1995 im Streit. Dabei geht es um die Frage, ob Einkommen der Eltern anrechenbar ist.

Die 1965 geborene Klägerin leidet an Morbus Hodgkin. Ihren Angaben zufolge konnte sie ein im Herbst 1988 aufgenommenes Fachhochschulstudium in Kommunikationsdesign krankheitsbedingt nicht abschließen. Die Klägerin erhielt seinerzeit Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz. Die Eltern der Klägerin leben seit 1983 getrennt und sind inzwischen geschieden. Nach der Trennung zog die Klägerin zunächst zu ihrem Vater. Am 6. November 1992 heiratete die Klägerin den selbständig tätigen Elektroinstallateur W. M. aus M ... Die Ehe wurde im Januar 1995 geschieden. Seit Juli 1994 wohnt die Klägerin in Wiesbaden.

Mit Bescheiden von September 1993 und vom 22. November 1993 bewilligte die Beklagte der Klägerin berufsfördernde Bildungsmaßnahmen für eine verkürzte Ausbildung zur Datenverarbeitungskauffrau beim Bildungswerk der DAG im Zeitraum vom 6. September 1993 bis zum 2. Juni 1995 dem Grunde nach. Nachdem die Klägerin die ihr ausgehändigten Fragebögen zur Berechnung des Ausbildungsgeldes abgegeben hatte, ermittelte die Beklagte das anrechenbare Einkommen des Ehemannes mit 1.821,67 DM und lehnte die Bewilligung des ihr dem Grunde nach in Höhe von 795,– DM zustehenden Abg mit Bescheid vom 12. Dezember 1993 ab. Die Klägerin widersprach am 27. Dezember 1993 unter Vorlage entsprechender Steuerbelege mit dem Vorbringen, ihr Ehemann habe ausweislich der vorläufigen Bilanz in 1993 im Durchschnitt nur ein monatlichen Bruttoeinkommen von rd. 3.360,– DM erzielt. Mit Bescheid vom 30. Dezember 1993 gab die Beklagte daraufhin dem Widerspruch statt und änderte ihren Bescheid vom 12. Dezember 1993 insoweit ab, als nunmehr "Ausbildungsgeld bewilligt wird. Die noch zustehenden Geldleistungen werden angewiesen. Es ergeht noch, ein gesonderter Bewilligungs-Änderungs-Bescheid.” Mit Schreiben vom 4. Januar 1994 wurde die Klägerin sodann aufgefordert, Einkommensnachweise ihrer Eltern für den Monat Juni 1993 vorzulegen. Nach deren Eingang ermittelte die Beklagte daraufhin das Einkommen der Eltern der Klägerin mit einem Betrag von 7.621,48 DM; davon entfielen auf den Vater der Klägerin 4.415,54 DM und auf die Mutter der Klägerin 3.205,94 DM. Unter Anrechnung eines Freibetrages in Höhe von 4.500,00 DM sowie eines weiteren Freibetrages in Höhe von 1.260,00 DM für zwei Stiefkinder, die im Haushalt des Vaters der Klägerin leben, kam die Beklagte so auf ein anzurechnendes Einkommen der Eltern der Klägerin in Höhe von 1.861,48 DM; dies überschreite das monatliche Abg, weshalb nur Fahrtkosten zur Bildungsstätte bewilligt werden könnten. Hiergegen erhob die Klägerin am 28. Februar 1994 Widerspruch mit der Begründung, das Einkommen der Eltern sei deshalb nicht anzurechnen, weil die Anordnung Reha (A-Reha) eine Einkommensanrechnung der Eltern nur vorsehe, soweit das Einkommen des Ehegatten nicht angerechnet werden könne.

Mit Bescheid vom 13. April 1994 wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, auch unter Ansatz eines Betrages für Kosten der Unterkunft würde sich wegen des anrechenbaren Einkommens der Eltern kein Abg errechnen. Zwischen den intakten und nichtintakten Ehen sei kein Unterschied zu machen.

Mit am 9. Mai 1994 vor dem Sozialgericht Darmstadt (SG) erhobener Klage verfolgte die Klägerin ihr Begehren weiter. Mit Urteil vom 13. März 1995 wies das SG die Klage ab.

Die Kammer war der Auffassung, soweit die Klägerin meine, das Einkommen ihrer Eltern könne überhaupt nicht zur Anrechnung kommen, finde diese Auffassung im Gesetz sowohl dem Wortlaut als auch aus systematischen und teleologischen Gesichtspunkten keine Stütze. Aus § 40 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) ergebe sich sinngemäß die Anrechnung von Unterhaltsleistungen auf Abg. Da auch § 40 AFG den Bedarf nur bruchstückhaft definiere, habe die Bundesanstalt für Arbeit bei Erlaß des Anordnungsrechts grundlegende Entscheidungen des Gesetzgebers zu beachten. Hierzu zähle insbesondere das gesamte Recht der Bildungsförderung. Diesbezüglich verwies das SG auf die Entscheidungen des BSG vom 7. November 1990 (9 b/7 RAr 130/89 = SozR 3–4100 § 40 Nr. 4). Wie sich aus § 11 Abs. 2 Bundesausbildungsförderungsgesetz (BaföG) ergebe, sei auf den Bedarf Einkommen und Vermögen des Auszubildenden, seines Ehegatten und seiner Eltern in dieser Reihenfolge anzurechnen. Diese Regelung orientiere sich wiederum, was die Reihenfolge der Anrechung von Einkommen und Vermögen des Ehegatten und der Eltern des Auszubildenden angehe, an § 1608 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) und gewährleiste, daß die nach Maßgabe dieser Vorschrift bestehende vorrangige Haftung der Eltern des Bedürftigen für dessen ggf. den Ausbildungsbedarf einschließenden Unterhalt jedenfalls grundsätzlich auch im Ausbildungsförderungsrecht Berücksichtigung finden; insoweit verwies das SG noch auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Juni 1992 (NJW 1992, 3052). Mithin sei die hier zugrunde liegende Vorschrift des § 27 Abs. 2 der Anordnung des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit über die Arbeits- und Berufsförderung Behinderter (A-Reha) ermächtigungskonform und es sei nicht zu beanstanden, daß die Beklagte das Einkommen der Eltern auf den Abg-Anspruch zur Anrechnung bringe. Entgegen der Auffassung der Klägerin sei vorliegend eine Anrechnung des Einkommens nach § 27 Abs. 2 Nr. 2 a A-Reha vorzunehmen gewesen und nicht etwa nur eine Anrechnung des Einkommens des Vaters der Klägerin nach § 27 Abs. 2 Nr. 2 c A-Reha. § 27 Abs. 2 Nr. 2 c A-Reha enthalte eine Anrechnungsvorschrift bei dauernd getrennt lebenden Eltern, soweit der Behinderte bei einem Elternteil lebe. Da beide Eltern gemäß § 1606 Abs. 3 BGB grundsätzlich unterhaltsverpflichtet blieben, sei es auch zutreffend, wenn die Beklagte bei getrennt lebenden oder geschiedenen Eltern die Vorschrift von § 27 Abs. 2 Nr. 2 A-Reha anwende. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Gegen dieses, ihr am 27. März 1995 zugestellte Urteil richtet sich die am 19. April 1995 eingelegte Berufung der Klägerin. Sie trägt vor, die Klägerin pflege zu ihrer Mutter keinen Kontakt mehr. Ihre Mutter habe lediglich in der Zeit vom 1. Januar 1990 bis zur Eheschließung aufgrund eines Urteils des Familiengerichts Darmstadt vom 6. März 1991 monatliche Unterhaltsleistungen in Höhe von 165,– DM gezahlt. Die Eltern der Klägerin lebten sei 1983 getrennt und angesichts der Tatsache, daß beide ein neues eigenständiges Leben führten, seien die Eltern nicht gemäß § 27 Abs. 2 Nr. 2 A-Reha wie Ehegatten einer intakten Ehe zu behandeln. Der Vater der Klägerin lebe in einer neuen Ehe und habe dort Unterhaltsverpflichtungen, von der Lebensform der Mutter sei der Klägerin nichts bekannt. Nach Auffassung der Klägerin sei bei dem vorliegenden Lebenssachverhalt somit gemäß § 27 Abs. 2 Nr. 2 c der A-Reha vorzugehen und das Einkommen der Mutter der Klägerin nicht zu berücksichtigen.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 13. März 1995 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 12. Dezember 1993 und 17. Februar 1994 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 13. April 1994 zu verurteilen, ihr Ausbildungsgeld anläßlich ihrer Teilnahme an der beruflichen Rehabilitationsmaßnahme vom 6. September 1993 bis zum 2. Juni 1995 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Vom Senat wurde die Klägerin persönlich gehört. Wegen des Sach- und Streitstandes im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig, in der Sache im Ergebnis jedoch nicht begründet.

Nach § 58 Abs. 1 Satz 2 AFG werden berufsfördernde und ergänzende Leistungen zur Rehabilitation auch gewährt, wenn die berufliche Ausbildung im Sinne des § 40 AFG wegen Art oder Schwere der Behinderung in einer besonderen Ausbildungsstätte für Behinderte stattfindet und in einem zeitlich nicht überwiegenden Abschnitt schulisch durchgeführt wird. Die in § 24 Abs. 3 der A-Reha vorgesehene Zahlung von Abg erfolgt bei Teilnahme an Maßnahmen im Sinne von § 40 AFG. Aus § 40 Abs. 1 b Nr. 1 und Abs. 3 AFG ergibt sich sinngemäß die Anrechnung von Unterhaltsleistungen auf das Abg. Die Ermächtigung der Bundesanstalt für Arbeit, durch Anordnung das Nähere über Voraussetzungen, Art und Umfang der Förderung der beruflichen Bildung nach dem 4. Unterabschnitt des 2. Abschnitts des AFG zu bestimmen, folgt aus § 39 Satz 1 AFG. In Ausführung dieser Ermächtigungsvorschrift bestimmt § 27 Abs. 2 A-Reha, daß auf das Ausbildungsgeld nach § 24 Abs. 3 Nrn. 1–3 und Abs. 4 Einkommen wie folgt anzurechnen ist:

1) Einkommen des Behinderten in voller Höhe.

2) Einkommen der Eltern,

a) soweit es 4.500,– DM monatlich übersteigt;

c) bei dauernd getrennt lebenden Ehegatten, soweit es 2.800,– DM bei dem Elternteil monatlich übersteigt, bei dem der Behinderte lebt. Das Einkommen des anderen Ehegatten bleibt außer Betracht.

3) Einkommen des Ehegatten, soweit es 2.800,– DM monatlich übersteigt.

Satz 2 der Vorschrift bestimmt, daß die Beträge nach den Nrn. 2 und 3 für jedes Kind, welches das 15. Lebensjahr vollendet hat, um monatlich 630,– DM erhöht werden. Ebenso wie die Beklagte und das SG im angefochtenen Urteil hält auch der Senat diese Vorschrift grundsätzlich für anwendbar (vgl. hierzu BSG SozR 3–4100 § 58 Nr. 4; SozR 4480 § 27 Nr. 5). Entgegen der Auffassung des SG und der Beklagten kann vorliegend jedoch nicht der Freibetrag gemäß § 27 Abs. 2 Ziff. 2 a zur Anwendung kommen, denn der Vater der Klägerin ist ausweislich ihres Vorbringens sowie der von ihm beigebrachten Steuerunterlagen wiederverheiratet, was gemäß § 1609 BGB für seine Leistungsfähigkeit unmittelbar rechtliche Konsequenzen hat, denn die neue Ehefrau steht gemäß § 1609 Abs. 2 BGB den minderjährigen unverheirateten Kindern gleich und geht anderen Kindern und den übrigen Verwandten – und somit auch der Klägerin – vor. Würde man die Vorschriften der A-Reha also so zur Anwendung bringen, wie dies durch das SG und die Beklagte geschehen ist, so stünde dies in offenbarem Widerspruch zu den maßgebenden Vorschriften des Bürgerlichen Unterhaltsrechts und wären, weil sie sich nicht "sinnvoll in das Gesamtsystem der gesetzlichen Ordnung einfügen”, auch nicht von der Ermächtigung gedeckt (vgl. hierzu BVerfGE 33, 125, 156 f und BSG SozR 3–4100, § 40 Nr. 5). Die Freibeträge bei der Einkommensanrechnung sollen in pauschalierter Form die Eltern(-teile) vor der Gefährdung ihres angemessenen Unterhalts (§ 1603 Abs. 1 BGB) schützen (BSG SozR 4480 § 27 Nr. 5). Hieraus folgt nach Ansicht des Senats zwingend, daß für den Vater der Klägerin der Freibetrag von 4.500,– DM zuzüglich der pauschalierten Aufwendungen für seine zwei Kinder Wiebke und Petra zur Anwendung kommen muß; insofern macht der Senat sich die entsprechende Auffassung der Beklagten zu eigen, woraus sich, ausgehend von der Berechnung der Beklagten (Bl. 105 ff. der Verwaltungsakte), für ihn ein Freibetrag von 5.760,– DM errechnet. Da dieser Freibetrag auch somit nach Ansicht der Beklagten über dem mit 4.450,54 DM ermittelten Einkommen des Vaters liegt, kann dessen Einkommen nicht zur Anrechnung gelangen.

Hinsichtlich der Anrechenbarkeit des Einkommens der Mutter schließlich ist festzustellen, daß auch ihre Fallkonstellation nicht vom Anrechnungskatalog des § 27 Abs. 2 A-Reha erfaßt wird, denn dort sind nur verwitwete Elternteile bzw. dauernd getrennt lebende Eltern genannt. Für geschiedene Eltern und für verheiratete behinderte Kinder, die nicht bei einem Elternteil leben, fehlt es an einer Regelung. Nach Ansicht des Senats kann diese Regelungslücke nicht einfach so geschlossen werden, daß für den geschiedenen Elternteil, bei dem das behinderte Kind nicht lebt, die Regelung des § 27 Abs. 2 Ziff. 2 b für verwitwete Elternteile oder der Ziff. 2 c für dauernd getrennt lebende Eltern, soweit das behinderte Kind bei diesen lebt, zur Anwendung kommt. Zwar hat das BSG im Urteil vom 9. August 1988 (SozR 4480 § 27 Nr. 5) den verwitweten Elternteil dem getrennt lebenden Elternteil, bei dem der Behinderte lebt, gleichgestellt, die vorliegende Konstellation entspricht dem jedoch nicht, weil die Klägerin nicht bei ihrer geschiedenen Mutter lebt. Daß hieraus entgegen der Auffassung der Klägerin jedoch nicht folgen kann, daß etwa das Einkommen ihrer Mutter vollkommen anrechnungsfrei bliebe, folgt aus der einfachen Überlegung, daß dann der weniger belastete Elternteil besser gestellt würde, als der Elternteil, bei dem das Kind lebt und der schon deswegen unmittelbar mit dem Unterhaltsbedarf des Kindes belastet ist. Sollen die Regelung der Einkommensanrechnung gemäß § 27 A-Reha im Wege der Auslegung sinnvoll ergänzt werden, so kann also der Elternteil, bei dem das Kind nicht lebt, erst recht nicht so gestellt werden, wie derjenige Elternteil, für den § 27 Abs. 2 Ziff. 2 c einen Freibetrag in Höhe von 2.800,– DM vorsieht, sofern der Behinderte bei ihm lebt. Systematisch überzeugend erscheint dem Senat insoweit nur ein Anrechnungsmodus, bei welchem die Hälfte des für Eltern geltenden Freibetrages in Höhe von 4.500,– DM als Freibetrag zur Anwendung kommt. Mithin sind das 2.250,– DM. Dieser Betrag liegt dabei immer noch deutlich über dem nach zivilrechtlichen Grundsätzen zugrundeliegenden Selbstbehalt von 1.400,– DM, den das Amtsgericht Darmstadt im Urteil vom 6. März 1991 betreffend die Eltern der Klägerin mit 1.400,– DM veranschlagt hat (Amtsgericht Darmstadt, Az. 57 F 73/90), so daß auch für die Fortschreibung dieses Betrages noch ausreichender Spielraum besteht. Unter Zugrundelegung des von der Beklagten mit 3.205,94 DM ermittelten anrechenbaren Einkommens ist somit festzustellen, daß dieses nach Abzug des Freibetrages vom 2.250,– DM den Anspruch der Klägerin auf Abg in Höhe von 795,– DM noch deutlich übersteigt. Im Ergebnis vermochte die Klägerin mit ihrem Begehren damit nicht durchzudringen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Revision war gemäß § 160 Abs. 2 Ziff. 1 SGG zuzulassen, da der Senat der Sache grundsätzliche Bedeutung beigemessen hat.
Rechtskraft
Aus
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