L 10 Ar 839/93

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 1 Ar 505/92
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 10 Ar 839/93
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Mai 1993 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist der Eintritt einer zwölfwöchigen Sperrzeit gemäß § 119 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 119 a Nr. 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) im Streit.

Der 1933 geborene Kläger stand seit dem 11. August 1969 in einem Beschäftigungsverhältnis bei der Firma S. AG im Brennelementewerk in H. Das Arbeitsverhältnis endete durch Kündigung des Arbeitgebers vom 21. März 1990 zum 30. September 1991. Am 18. September 1991 meldete sich der Kläger bei der Beklagten arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld (Alg). Ausweislich der Arbeitsbescheinigung war die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber tarifvertraglich nur bei Zahlung einer Abfindung, Entschädigung oder ähnlichen Leistungen zulässig. Aus der Anlage zur Arbeitsbescheinigung ist ersichtlich, daß der Kläger von der Firma S. eine Übergangszuschuß, eine Beihilfe für langjährige Dienstzeit und ein Ruhegeld ab 1. Oktober 1991 erhielt. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, daß gemäß § 21 Nr. 5 des gemeinsamen Manteltarifvertrages für Arbeiter und Angestellte in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen dem Kläger, da er das 55., aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet und das Arbeitsverhältnis mindestens 10 Jahre ununterbrochen bestanden hatte, nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden konnte. Dieser besondere Kündigungsschutz galt nicht bei Vorliegen eines für den Arbeitnehmer geltenden Sozialplanes sowie bei Änderungskündigungen zum Zwecke innerbetrieblicher Versetzungen und Versetzungen im Rahmen des Unternehmens bzw. Konzerns, wenn damit keine Veränderung des Wohnsitzes erforderlich wurde.

Mit Schreiben vom 28. Oktober 1991 hörte das Arbeitsamt Hanau den Kläger zur Frage des Verlustes seines Arbeitsplatzes an. Der Kläger teilte daraufhin mit Schreiben vom 31. Oktober 1991 mit, durch eine innerbetriebliche Umorganisation und Personalabbau sei sein Arbeitsplatz wegrationalisiert worden. Hätte er auf einer Änderungskündigung bestanden, wäre einem anderen Mitarbeiter gekündigt worden. Von einer möglichen Kündigungsschutzklage habe er abgesehen, da er diverse finanzielle Unterstützungen erhalte und der Meinung sei, auch vom Arbeitsgericht hätte ihm nicht mehr zugesprochen werden können. Nach 22 Jahren korrekter Behandlung sei ihm eine Klage gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber nicht zumutbar.

Mit Bescheid vom 14. November 1991 stellte die Beklagte daraufhin den Eintritt einer Sperrzeit vom 1. Oktober 1991 bis zum 23. Dezember 1991 fest. Die Beklagte wertete den Sachverhalt dahingehend, daß der Kläger mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses offensichtlich einverstanden gewesen sei und dadurch konkludent das Beendigungsangebot des Arbeitgebers angenommen habe, so daß ein Aufhebungsvertrag – der einer Eigenkündigung gleichstehe – vorliege. Den Widerspruch des Klägers vom 18. November 1991 wies die Beklagte durch Bescheid vom 5. Februar 1992 zurück. Der daraufhin am 2. März 1992 bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main (SG) erhobenen Klage gab das SG mit Urteil vom 7. Mai 1993 statt. Die Kammer war der Auffassung, daß die Voraussetzungen des § 119 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AFG nicht vorlägen, da der Kläger sein Beschäftigungsverhältnis nicht in diesem Sinne "gelöst” habe. Das bloße Schweigen oder Hinnehmen einer Kündigung, allein das Absehen von der Erhebung einer Kündigungsschutzklage ohne erkennbare Zustimmung also, sei nicht ausreichend für die Annahme einer Zustimmung und könne auch nicht als Ausdruck einer rechtsgeschäftlichen Willenserklärung zum Abschluß eines Aufhebungsvertrages angesehen werden. Auf die Entscheidungsgründe im übrigen wird ergänzend Bezug genommen.

Gegen dieses ihr am 6. August 1993 zugestellte Urteil richtet sich die am 26. August 1993 eingelegte Berufung der Beklagten. Sie trägt vor, den Arbeitnehmern sei bekannt gewesen, daß die Kündigungen tarifrechtlich unwirksam gewesen seien, sie seien wegen der finanziellen Zuwendungen durch den Arbeitgeber jedoch hingenommen worden. Nach den Gesamtumständen habe der Kläger Kenntnis von der tarifrechtlichen Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung gehabt und habe auch erkennen können, daß die Kündigung der Firma S. ein Vertragsangebot zur einvernehmlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses darstelle und der Kläger sei darüber hinaus bereit gewesen, diesem Willen zu entsprechen. Dafür sei ein wichtiger Grund nicht anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Mai 1993 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und verweist im übrigen auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sowie verschiedener Sozialgerichte.

Wegen des Sach- und Streitstandes im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet.

Gemäß § 119 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AFG in der vorliegend anwendbaren Fassung des Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes und zur Förderung eines gleitenden Übergangs älterer Arbeitnehmer in den Ruhestand vom 20. Dezember 1988 (BGBl. I S. 2334) tritt eine Sperrzeit von acht Wochen ein, wenn der Arbeitslose das Beschäftigungsverhältnis gelöst und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat, ohne für sein Verhalten einen wichtigen Grund zu haben. Nach § 119 a Nr. 1 AFG in der Fassung des Gesetzes zur Verlängerung beschäftigungsfördernder Vorschriften (Beschäftigungsförderungsgesetz 1990) vom 22. Dezember 1989 (BGBl. I S. 2406) gilt bei Sperrzeiten nach § 119 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AFG, die in der Zeit vom 1. Januar 1985 bis zum 31. Dezember 1995 eintreten, § 119 AFG mit der Maßgabe, daß die Dauer der Sperrzeit nach Abs. 1 Satz 1 zwölf Wochen beträgt.

Zutreffend und mit überzeugender Begründung hat das SG im angefochtenen Urteil dargelegt, daß der Kläger sein Beschäftigungsverhältnis mit der Firma S. AG/Brennelementewerk H. nicht im Sinne des § 119 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AFG "gelöst” hat, weshalb bereits diese erste Voraussetzung einer Sperrzeit nicht erfüllt war und es nicht mehr darauf ankam, ob der Kläger für sein Verhalten einen wichtigen Grund im Sinne des Gesetzes hatte. Weder wurde das Beschäftigungsverhältnis vom Kläger selbst gelöst, noch gab der Kläger durch ein arbeitsvertragswidriges Verhalten Anlaß für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses. Entgegen der Auffassung der Beklagten hat der Kläger auch keinen Aufhebungsvertrag mit seinem Arbeitgeber geschlossen. Insoweit trägt die Beklagte mit ihrem Berufungsvorbringen selbst vor, daß allein in dem Unterlassen einer Kündigungsschutzklage im allgemeinen keine Vereinbarung mit dem Arbeitgeber über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gesehen werden könne. Die zum vorliegenden Fall vorgetragene Auffassung jedoch, daß etwas anderes im Falle des Bestehens eines besonderen Kündigungsschutzes gelte, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Er folgt vielmehr der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 20. April 1977 – 7 RAr 81/75), daß das Unterlassen der Kündigungsschutzklage keine Lösung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer und mithin keinen Tatbestand für eine Sperrzeit darstellt (so auch Gagel/Vogt, Beendigung von Arbeitsverhältnissen, Neuwied 1992 Randziffern 87, 97). Insoweit verweist der Senat auf seine Entscheidung vom 16. September 1994 (L-10/Ar-836/93) in einem Parallelfall, in der folgendes ausgeführt wurde:

"Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses erfolgte durch die Kündigung des Arbeitgebers. Der Kläger hat diese Kündigung hingenommen. Hieraus ist nicht der rechtliche Schluß zu ziehen, daß durch das Nichtreagieren des Klägers in Form einer Kündigungsschutzklage ein Verhalten dem Kläger vorzuwerfen ist, was einem Mitwirken an einer Auflösungsvereinbarung gleichkommt. Hierbei ist nicht entscheidend, daß die Kündigung durch den Arbeitgeber objektiv unwirksam bzw. rechtswidrig war, da der Kläger gemäß § 21 Nr. 5 Satz 2 des gemeinsamen Manteltarifvertrages für Arbeiter und Angestellte in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen aufgrund seiner langjährigen Zugehörigkeit zum Betrieb als unkündbar anzusehen war. Ob eine Kündigung rechtswidrig oder rechtmäßig ist, ist in diesem Fall nicht relevant für den Eintritt der tatsächlichen Arbeitslosigkeit. Auf jeden Fall wurde die Kündigung dadurch wirksam, daß der Kläger gegen die Kündigung keine Kündigungsschutzklage erhoben hat. Damit ist die Kündigung des Arbeitgebers auch dann wirksam geworden, wenn die von ihm geltend gemachten Rationalisierungsgründe unter anderem keinen wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) darstellen (so im Ergebnis BSG 7 RAr 85/75, Urteil vom 20. April 1977 sowie BSG 7 RAr 28/83, Urteil vom 12. April 1984). Somit rechtfertigt der Umstand allein, daß sich der Kläger nicht mit der Kündigungsschutzklage gegen eine Kündigung wehrt, keinen Grund für eine Sperrzeit. Die Besprechung der Kündigungsgründe zwischen den Parteien des Arbeitsvertrages, wie sie hier erfolgt ist, kann ebenso gut dem Zweck gedient haben, den Kläger geneigt zu machen, von einer Feststellungsklage gegen die Kündigung abzusehen. Richtig ist zwar, daß eine Kündigung in das Vertragsangebot zur sofortigen einverständlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses umgedeutet werden kann, wenn es dem mutmaßlichen Willen des Kündigenden entspricht, auch beim Fehlen eines Kündigungsschutzgrundes gleichwohl unter allen Umständen das Arbeitsverhältnis zu beenden. Auch aufgrund eines derartigen Angebots des Kündigenden kommt es aber nicht stets zum Abschluß eines Aufhebungsvertrages, wenn der Kündigungsempfänger die Kündigung akzeptiert, sondern nur dann, wenn das in dem Bewußtsein geschieht, eine rechtsgeschäftliche Willenserklärung abgeben zu können und zu wollen. Auch wenn im Zusammenhang mit der Kündigung zwischen Arbeitgeber, Betriebsvertretung und Kläger Gespräche geführt wurden, die nach Meinung des Arbeitgebers zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses in Form der Kündigung geführt haben, so zeigt gerade der Umstand, daß der Arbeitgeber zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses den Weg der Kündigung beschritten hat, daß der hierfür ebenfalls mögliche Weg über den Aufhebungsvertrag nicht beschritten werden sollte (BSG a.a.O.). Jedenfalls kann allein die Tatsache des Schweigens des Klägers in der Form der schlichten Hinnahme der Kündigung (ohne Erhebung einer Kündigungsschutzklage) nicht als Ausdruck einer rechtsgeschäftlichen Willenserklärung zum Abschluß eines Aufhebungsvertrages angesehen werden. Bezüglich des Verhaltens, aus dem auf einen das Arbeitsverhältnis beendenden Geschäftswillen beider Parteien des Arbeitsverhältnisses geschlossen werden soll, ist ein strenger Maßstab anzulegen. Das Schweigen des Klägers auf eine Kündigung und die widerspruchslose Hinnahme einer Kündigung bedeuten noch kein Einverständnis zu einer der vertraglichen Aufhebung (so unter anderem auch SG Stuttgart – Az.: S-1/Ar-2290/93 vom 24. November 1993 und Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 122 II. 2 S. 810 bis 811). Zurecht hat in diesem Zusammenhang auch das SG Stuttgart (wie zitiert) darauf hingewiesen, daß die Verfahrensweise, zu der die Fa. S. jetzt in dieser Form, nachdem sie früher Aufhebungsverträge mit den Arbeitnehmern abgeschlossen hatte, übergegangen ist, die Verhängung von Sperrzeiten praktisch nicht ermöglicht. Dies würde jedoch auch die Interessen der Versichertengemeinschaft insofern nicht schädigen, denn nach § 117 Abs. 2 und 3 AFG sind die gezahlten Abfindungen bzw. Beihilfen bzw. Übergangsgelder in der Regel zu berücksichtigen und die Erstattungspflicht des Arbeitgebers nach § 128 AFG ist ein weiteres Korrektiv, um die Versichertengemeinschaft zu schützen.”

Ergänzend zu diesem Urteil vom 16. September 1994 ist nach Auffassung des Senats noch folgendes zu bemerken: Die Beklagte selbst führt in ihrer Berufungsbegründung aus, es habe sich vorliegend um Umstrukturierungsmaßnahmen gehandelt, die infolge Rationalisierung einen Wegfall von Arbeitsplätzen zur Folge gehabt hätten. Der Personalabbau habe dabei aus einer innerbetrieblichen Umorganisation resultiert, wie sie im Zuge der technischen Entwicklung bei vielen Betrieben zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit getroffen werde. Ausgehend von diesem Sachverhalt zeigt sich, daß die Anwendung des Sperrzeitinstrumentariums vorliegend nach dessen Sinn und Zweck verfehlt ist. Aufgabe der Beklagten ist es nämlich nach § 2 Nr. 3 AFG u.a., daß nachteilige Folgen, die sich für die Erwerbstätigen aus der technischen Entwicklung oder aus wirtschaftlichen Strukturwandlungen ergeben könnten, vermieden, ausgeglichen oder beseitigt werden. Um der Beklagten die Erfüllung dieser Aufgabe zu ermöglichen, treffen den Arbeitgeber gemäß § 8 u.a. Meldepflichten einschließlich der Beifügung einer Stellungnahme des Betriebsrates. Für den Fall, daß der Arbeitgeber diese Mitteilung vorsätzlich oder gar grob fahrlässig unterläßt, kann die Beklagte in gewissem Maße auch Aufwendungsersatz verlangen. Aus den genannten Vorschriften zeigt sich mit hinreichender Deutlichkeit, daß Maßnahmen eines wirtschaftlichen oder personellen Strukturwandels im Gefüge des Arbeitsförderungsrechts eine Frage des Verhältnisses der Bundesanstalt für Arbeit zu den Arbeitgebern und, wie die Beteiligung des Betriebsrates zeigt, darüber hinaus eine kollektiv-rechtliche Angelegenheit sind. Auch das Kündigungsschutzgesetz (KSchG) macht in § 17 aus individuellen Kündigungen Vorgänge, die gegenüber der Beklagten anzeigepflichtig sind, sofern die in § 17 Abs. 1 Ziffern 1 bis 3 KSchG genannten Erheblichkeitsgrenzen überschritten sind. Die §§ 18 f. geben für diese Fälle der Beklagten zudem bestimmte Handhabungen bis hin zu einer Entlassungssperre.

Für den vorliegenden Fall ergibt sich somit, daß das Vorgehen der Beklagten gegenüber dem Kläger darauf hinausläuft, diesen individuell für einen wirtschaftlichen Strukturwandel verantwortlich zu machen, der nach den einschlägigen Gesetzen allein in die Verantwortung des Arbeitgebers, der Beklagten sowie ggf. der Betriebsvertretung fällt.

Die Revisionszulassung beruht auf § 160 Abs. 2 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Rechtskraft
Aus
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