L 10 Kg 1212/68

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
10
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 10 Kg 1212/68
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein über 18 Jahre altes gebrechliches Kind wird bei der Kindergeldzahlung gem. § 2 Abs. 2 Nr. 3 BKGG dann nicht berücksichtigt, wenn ihm genügend Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts zur Verfügung stehen, wobei es nicht darauf ankommt, ob es außerstande ist, diese Mittel selbst in Unterhalt umzusetzen.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Marburg/L. vom 6. November 1968 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin, die Witwe ist, hat zwei geistig behinderte Kinder, die bei ihr wohnen, und zwar die 1940 geborene Tochter W. und den 1951 geborenen Sohn H. Sie erhielt von der Beklagten ab 1. Juli 1965 Zweitkindergeld. Nach einer Bescheinigung der Nervenfachärztin Dr. Med. E., M., leidet die Tochter W. an einer hochgradigen Debilität und ist auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht erwerbsfähig.

Im August 1967 erfuhr die Beklagte durch einen von der Klägerin ausgefüllten Fragebogen, daß die Tochter W. in einem Tageskinderheim der St. E.-Stiftung M. als Küchenhilfe tätig ist und ihr Bruttoarbeitslohn einschließlich Sachbezügen im Jahre 1966 2.589,93 DM = 215,82 DM monatlich betrug. Das Stadt- und Kreisgesundheitsamt M. bescheinigte am 18. September 1967, daß die Tochter W. der Klägerin lediglich für leichte Hilfsarbeiten unter ständiger Aufsicht arbeitsfähig ist und ohne den Heimaufenthalt wegen familiärer Betreuung anderweitig untergebracht werden müsste. Mit Bescheid vom 3. Oktober 1967 entzog die Beklagte der Klägerin daraufhin das Zweitkindergeld ab November 1967, weil ihre Tochter W. trotz ihres Gebrechens in der Lage sei, sich selbst zu unterhalten und daher nicht mehr als Kind im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 3 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) berücksichtigt werden könne.

Nachdem ihrem hiergegen eingelegten Widerspruch mit Bescheid vom 18. Oktober 1967 nicht abgeholfen worden war, hat die Klägerin am 25. Oktober 1967 beim Sozialgericht Marburg/L. Klage erhoben und die Auffassung vertreten, die Tätigkeit ihrer Tochter W. könne nicht als verdienstbringend angesehen werden. Sie erhalte nur eine Barvergütung von 150,– DM netto monatlich zuzüglich Frühstück und Mittagessen an den Arbeitstagen.

Das Sozialgericht Marburg/L. hat die Beklagte am 6. November 1968 verurteilt, der Klägerin das Zweitkindergeld über den Monat Oktober 1967 hinaus weiterzugewähren und zur Begründung ausgeführt, die Tochter der Klägerin könne sich im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 3 BKGG nicht selbst unterhalten, weil sie nicht fähig sei, das ihr gewährte Arbeitsgeld in Essen, Wohnung, Heizung, Kleidung usw. umzusetzen, sondern nach wie vor auf die Fürsorge ihrer Mutter angewiesen sei. Selbst wenn sie mehr verdienen würde, wäre sie infolge ihres Geisteszustandes nicht in der Lage, sich selbst zu unterhalten.

Gegen das ihr am 19. November 1968 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 28. November 1968 Berufung eingelegt. Sie führt u.a. aus, nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 2 Nr. 3 BKGG und dem das Kindergeldrecht beherrschenden Gesichtspunkt des Familienlastenausgleichs komme es nur darauf an, ob der Unterhalt eines Kindes anderweitig sichergestellt ist. Treffe das, wie im vorliegenden Fall, zu, so entstünden den Eltern aus der Gebrechlichkeit des Kindes keine zusätzlichen finanziellen Belastungen, so daß dieses nicht außerstande sei, sich selbst zu unterhalten.

Sie beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Marburg/L. vom 6. November 1968 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin hat nichts vorgetragen und auch keinen Antrag gestellt. Sie war in dem Termin zur mündlichen Verhandlung weder anwesend noch vertreten. Ihr war mitgeteilt worden, daß auch im Falle ihres Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und daher zulässig.

Sie ist auch begründet. Die Beklagte hat der Klägerin das Zweitkindergeld ab 1. November 1967 zu Recht versagt, weil ihre am 2. März 1940 geborene Tochter W. nicht mehr als Kind im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 3 BKGG berücksichtigt werden kann.

Zwar stünde der Klägerin das Zweitkindergeld allenfalls für ihr jüngstens Kind, den am 1951 geborenen Sohn H. zu, der im Zeitpunkt der Entziehung des Kindergeldes das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, während ihre ältere Tochter W. nur als sog. Zählkind in Betracht kommt. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 BKGG müssen aber auch bei den Kindern erfüllt sein, die nur mitzählen und den Anspruch begründen, ohne daß für sie Kindergeld gezahlt werden kann (vgl. Wickenhagen/Krebs, Komm. zum Bundeskindergeldgesetz, Anm. 4 zu § 2). Der Klägerin würde daher Zweitkindergeld für ihren Sohn H. nur zustehen, wenn ihre über 18 Jahre alte Tochter W. wegen ihrer geistigen Gebrechen außerstande wäre, sich selbst zu unterhalten (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 BKGG). Darüber, daß die Tochter W. der Klägerin geistig gebrechlich im Sinne dieser Bestimmung ist, können keine Zweifel bestehen. Sie befindet sich in einem von der Regel abweichenden geistigen Zustand, mit dessen Dauer für nicht absehbare Zeit zu rechnen ist (vgl. GE des RVA Nr. 3194, AN 1928, S. 232, zu § 1259 Abs. 1 Satz 3 RVO a.F.; Wickenhagen/Krebs a.a.O., Anm. 18 zu § 2). Nach der amtsärztlichen Bescheinigung des Stadt- und Kreisgesundheitsamtes M. vom 18. September 1967 ist die Tochter der Klägerin dauernd debil sowie Analphabetin, kann leichte Hilfsarbeiten nur unter ständiger Aufsicht verrichten und müsste ohne familiäre Betreuung anderweitig untergebracht werden. Die Beklagte hatte der Klägerin aus diesem Grunde auch antragsgemäß ab Juli 1965 Zweitkindergeld gewährt und es nur deshalb ab November 1967 entzogen, weil ihr nachträglich bekannt geworden war, daß die Tochter der Klägerin bereits seit 1962 gegen Entgelt tätig ist. Der sonst ausführliche Antragsvordruck der Beklagten enthielt keine dahingehende Frage.

Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 3 BKGG liegen aber – entgegen der Ansicht des Sozialgerichts – deshalb nicht vor, weil die Tochter der Klägerin ab November 1967 nicht "außerstande ist, sich selbst zu unterhalten”. Der Gesetzgeber des Bundeskindergeldgesetzes hat insoweit die für die Gewährung von Kinderzulage bzw. Kinderzuschuß in den §§ 583 Abs. 3, 1262 Abs. 3 RVO, 39 Abs. 3 AVG enthaltenen Anspruchsvoraussetzungen übernommen. Das frühere RVA hat hierzu die Ansicht vertreten, ein gebrechliches Kind sei vom ärztlichen Standpunkt aus außerstande sich selbst zu unterhalten, wenn sein Zustand derartig ist, daß die Verrichtung einer Erwerbstätigkeit mit der Gefahr einer alsbaldigen wesentlichen Verschlimmerung des Leidens verbunden ist, so daß es seinen Lebensunterhalt nicht durch Arbeit verdienen kann (vgl. GE 3804 AN 1930 S. IV/339; Komm. zur RVO, herausgegeben vom Verband deutscher Rentenversicherungsträger, Anm. 20 zu § 1262). Demgegenüber vertritt der erkennende Senat jedoch die Auffassung, daß ein gebrechliches Kind auch dann in der Lage sein kann, sich selbst zu unterhalten, wenn es keiner Erwerbstätigkeit nachzugehen vermag. Es ist stets dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn ihm genügend Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes zur Verfügung stehen.

Somit ist auch die Ansicht des Sozialgerichts abzulehnen, ein gebrechliches Kind sei nur dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es die Fähigkeit habe, den zum Lebensunterhalt erforderlichen Geldbetrag in Unterhalt, also in Essen, Wohnung, Kleidung usw. umzusetzen, wozu die Tochter der Klägerin zweifellos nicht in der Lage ist. Die Ansicht des Sozialgerichts würde dazu führen, daß z.B. ein blindes Kind mit normalem Erwerbseinkommen, etwa als Telefonistin oder Schreibkraft, im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 3 BKGG sowie der anderen oben angeführten Bestimmungen als außerstande angesehen werden müsste, sich selbst zu unterhalten, desgleichen z.B. auch ein dauernd bettlägeriges Kind über 18 Jahre mit großem Vermögen oder hohem Einkommen.

Diese Ansicht ist bereits mit dem Wortlaut des § 2 Abs. 2 Nr. 3 BKGG nicht vereinbar, denn als Unterhalt ist nur die Summe der Mittel anzusehen, die zur Befriedigung der Bedürfnisse des täglichen Lebens erforderlich ist. Sich selbst unterhalten kann jeder, dem hierfür Mittel in ausreichender Menge zur Verfügung stehen, wobei es ohne Bedeutung ist, in welcher Weise er sie erworben hat, ob durch eine Erwerbstätigkeit oder auf andere Weise. Daß er auch die Fähigkeit haben muß, selbst für sich zu sorgen, ist dagegen nicht erforderlich. Hierbei handelt es sich um die Frage der Pflegebedürftigkeit, die mit der Fähigkeit, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, in keinem notwendigen Zusammenhang steht.

Auch mit Sinn und Zweck der in § 2 Abs. 2 Nr. 3 enthaltenen Bestimmung ist die Ansicht des Sozialgerichts nicht vereinbar. In ihr kommt das dem Kindergeldgesetz innewohnende Motiv zum Ausdruck, den durch Kinder bedingten erhöhten Aufwand einer Familie auszugleichen (vgl. Urteil des BSG, 7 RKg 2/63), wenngleich dieser Grundsatz nicht konsequent durchgeführt worden ist. So wird z.B. Kindergeld auch für in Schul- oder Berufsausbildung befindliche Kinder gezahlt, ohne daß deren eigenes Einkommen oder Vermögen berücksichtigt wird. Bei gebrechlichen Kindern über 18 Jahre kommt aber der Gedanke des Familienlastenausgleichs voll zur Auswirkung, so daß Kindergeld dann nicht zusteht, wenn das Kind über ausreichende Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts verfügt (so ohne Begründung auch Wickenhaben/Krebs, a.a.O. zu § 2 BKGG, S. IV/58).

Dies ist bei der Tochter der Klägerin der Fall. Sie erhielt im Jahre 1966 Bar- und Sachbezüge in Höhe von 215,82 DM monatlich, wie ihre Arbeitgeberin am 7. August 1967 bescheinigt hat, die ab 1967 nach der allgemeinen Lohnentwicklung eher noch höher waren. Nach Angabe der Klägerin im November 1968 erhielt ihre Tochter monatlich netto 150,– DM bar sowie das Frühstück und das Mittagessen an den Arbeitstagen. Da der Sozialhilfesatz für Haushaltsangehörige ab 18 Jahren seit dem 1. Juni 1966 104,– DM betrug und sich ab 1. Juni 1968 auf 109,– DM beläuft, steht der Tochter der Klägerin etwa der doppelte Sozialhilfesatz zur Verfügung und damit wesentlich mehr, als der für die fürsorgerechtliche Hilfsbedürftigkeit maßgebende notwendige Lebensunterhalt. Nach Auffassung des erkennenden Senats ist die Tochter der Klägerin somit in der Lage, sich selbst zu unterhalten, zumal sie auch sozialversichert ist, wie sich aus der angeführten Bescheinigung ihrer Arbeitgeberin ergibt und im Haushalt ihrer Mutter lebt. Die Klägerin bedarf somit keines Kindergeldes zum Ausgleich für eine durch die Gebrechlichkeit ihrer Tochter entstandene besondere Familienlast.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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