L 3 U 519/73

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 519/73
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 24. April 1973 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die im Jahre 1925 geborene Klägerin hatte am 14. Oktober 1969 dadurch einen landwirtschaftlichen Arbeitsunfall, daß sie beim Äpfelernten von einer Leiter stürzte. Dem Durchgangsarztbericht des Dr. L., F. zufolge erlitt sie hierbei einen Schädelbruch, eine Gehirnerschütterung, einen Schulterblattbruch links sowie eine Kopfwunde. Eine Bewußtlosigkeit sei mit 10 Minuten anzunehmen. Der Augenarzt Dr. D., F. konnte am 28. Oktober 1969 keine unfallbedingten Augenveränderungen feststellen. Ausweislich des Arztschreibens des Durchgangsarztes Dr. W., K., vom 28. November 1969 klagte die Klägerin an diesem Tag noch über zeitweilige Kopfschmerzen, über eigenartige Beschwerden in beiden Ohren, über Schwindelerscheinungen beim Bücken und Wiederaufrichtung und bei schnellen Drehbewegungen des Kopfes nach links, über Riech- und Geschmacksstörungen und über leichte Ermüdbarkeit beim Lesen. In dem Augenarztbericht vom 2. Dezember 1969 bezeichnete die Augenärztin Dr. W., K. eine auf beiden Augen festgestellte leichte Papillenunschärfe als fragliche Unfallfolge.

Die Nervenärztin Dr. von der H. äußerte in dem Bericht vom 4. Dezember 1969 den Verdacht, daß es bei dem Unfall nicht nur zu einer Gehirnerschütterung, sondern auch zu einer contusionellen Hirnschädigung gekommen sei. In dem Zwischenbericht vom 23. Dezember 1969 wies sie darauf hin, daß sich die Unfallfolgen weiter zurückgebildet hätten. Das am 22. Dezember 1969 abgeleitete EEG habe keine sicheren Seitendifferenzen ergeben. Pathologische Abläufe seien nicht registriert worden. Es bestehe eine Mundfacialisschwäche rechts. Der übrige neurologische Befund sei nicht mehr sicher verändert. In dem ohrenfachärztlichen Gutachten vom 30. Dezember 1969 kam Dr. St., K. zu dem Ergebnis, daß bei der Klägerin eine unfallbedingte Anosmie und eine Vestibularstörung bestünden. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 20 %. Eine chronische Tonsillitis sei unfallunabhängig.

Nachdem die Beklagte noch den Bericht des Dr. W. vom 21. Januar 1970 sowie die gutachterliche Stellungnahme ihres beratenden Arztes Dr. M., K., vom 3. Februar 1970 eingeholt hatte, erteilte sie den Bescheid vom 23. März 1970, mit dem sie der Klägerin vom 26. Januar 1970 an, dem Tag nach dem Wegfall der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung, eine vorläufige Rente nach einer MdE um 20 % gewährte. Als Unfallfolgen wurden anerkannt: Leichtere Gleichgewichtsstörungen und Störung des Geruchsempfindens. Der Bescheid wurde rechtsverbindlich.

In dem auf Veranlassung der Beklagten erstatteten ohrenärztlichen Gutachten vom 17. Juli 1970 schätzte Dr. B. K., die unfallbedingte MdE weiterhin mit 20 % ein. Der totale Verlust des Riechvermögens sei unverändert geblieben. Es liege sicher ein Abriß der Riechfasern vor, der irreversibel sei. Der damit gekoppelte Verlust der aromatischen Geschmacksempfindung sei ebenso unabänderlich. Dagegen habe sich die Vestibularstörung gebessert. Der Gutachter schätzte die MdE von Seiten der zentralen Vestibularschädigung auf 10 bis 15 % und für die Riech- und Geschmackstörung auf 10 % zusammen auf 20 %.

Nachdem die Klägerin bei der Nachuntersuchung durch Dr. W. am 18. September 1970 über zunehmende Kopfschmerzen und Schwindelerscheinungen geklagt hatte, wurde sie erneut durch Dr. St. untersucht. Dem Bericht vom 7. Dezember 1970 zufolge, stellte dieser Arzt wie bisher eine Anosmie und eine fast abgeklungene Vestibularschädigung fest. Letztere sei in Kürze sicherlich nicht mehr nachweisbar. Die MdE von 20 % bleibe bis zu der in 1/4 bis 1/2 Jahr durchzuführenden Nachuntersuchung bestehen.

Der Facharzt für HNO-Krankheiten Dr. B. K., erstattete dann für die Beklagte das Gutachten vom 9. September 1971. Eine faßbare MdE von Seiten des Vestibularis sei auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr zu erkennen, wenn auch noch ein leichter Lagenystagusus nachweisbar sei. Die vor etwa einem Jahr geklagten verstärkten Schwindelerscheinungen und Kopfschmerzen dürften mit einem Blutunterdruck in Zusammenhang gestanden haben. Erwerbsmindernd bleibe nur noch die Riechnervenschädigung mit 10 %, so daß sich die MdE auf dem HNO-Gebiet um 10 % vermindert habe.

Die Beklagte entzog daraufhin mit Bescheid vom 4. Oktober 1971 ab 1. Dezember 1971 die vorläufige Rente und lehnte die Gewährung einer Dauerrente (§ 1585 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ab. Als Unfallfolge wurde anerkannt: Verlust des Geruchssinnes durch Schädigung des Riechnervs. Die hierdurch bedingte MdE betrage nur noch 10 %, so daß eine Verletztenrente nicht mehr zu zahlen sei.

Hiergegen hat die Klägerin mit Schreiben vom 18. Oktober 1971, das bei der Beklagten am 22. Oktober 1971 und bei dem Sozialgericht Kassel (SG) am 13. April 1972 eingegangen ist, Klage erhoben und hauptsächlich geltend gemacht: Es sei ihr unverständlich, daß die festgestellte Unfallfolge im angefochtenen Bescheid "Verlust des Geruchssinnes durch Schädigung des Riechnervs” nur eine MdE von 10 % bedinge, während für die im Bescheid vom 23. März 1970 festgestellten Unfallfolgen, nämlich "leichte Gleichgewichtsstörungen, Störung des Geruchsempfindens” eine 20%ige MdE bestanden habe. Der Verlust werde mithin geringer als die Minderung des Geruchssinnes bewertet. In dem angefochtenen Bescheid seien die Gleichgewichtsstörungen und Kopfschmerzen zu Unrecht unberücksichtigt geblieben. In der von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Bescheinigung der Nervenärztin Dr. von der H. vom 12. Oktober 1971 wird angegeben, die Klägerin stehe wegen Cephalgien in ambulanter Behandlung. Die Klägerin bekunde, seit dem Unfall im Jahre 1969 unter Hinterkopfschmerzen zu leiden. Die Beklagte hat hierzu darauf hingewiesen, daß der Nervenarzt Dr. M., K., in dem von ihr eingeholten Gutachten vom 9. Dezember 1971, das dem SG erst am 23. Februar 1973 in unbeglaubigter Abschrift übersandt wurde, die gesamte unfallbedingte MdE auf 10 % geschätzt habe.

Von Amts wegen hat das SG das von Dr. Z., K., erstattete hals-nasen-ohrenfachärztliche Gutachten vom 26. Mai eingeholt. Der Gutachter vertritt die Auffassung, wenn auch durch den Riechverlust allein das Geschmacksvermögen zwar nicht aufgehoben aber doch nicht unwesentlich beeinträchtigt sei und es beim Abschmecken von Speisen gerade auf Feinheiten ankomme, die bei der Klägerin verlorengegangen seien, so sei doch festzuhalten, daß eine Hausfrau durch diese Funktionsstörungen mehr betroffen sei als im allgemeinen Erwerbsleben (z.B. ein Tischler). Die MdE sei daher nicht mit 10 % sondern mit 20 % zu bewerten. Als Unfallfolgen, die auf seinem Fachgebiet zu beurteilen waren, nannte der Gutachter: Verlust des Riechvermögens mit Beeinträchtigung des Geschmackssinnes und reaktionslose Narbe in der rechten Scheitelbeingegend. In dem neurologischen Zusatzgutachten vom 26. Mai 1972 sah Dr. R., K., auf seinem Fachgebiet eine reaktionslose Narbe in der rechten Scheitelbeingegend als Unfallfolge an, die keine MdE bedinge.

Nachdem das SG bei Dr. U. K., das fachröntgenologische Gutachten vom 31. Oktober 1972 und die ergänzende neurologische Stellungnahme des Dr. R. vom 2. November 1972 eingeholt hatte, hat es mit Urteil vom 24. April 1973 die Klage abgewiesen. Die unfallbedingte MdE sei mit 10 % zutreffend beurteilt worden. Eine besondere berufliche Betroffenheit i.S. von § 581 Abs. 2 RVO liege bei der Klägerin nicht vor. Sie sei vor dem Unfall Hausfrau gewesen und sei es auch jetzt noch. Sie versorge nach wie vor ihren Ehemann und die zwei Kinder. Daraus ergebe sich, daß die Klägerin in ihrer Berufsarbeit als Hausfrau nicht behindert sei. Selbst wenn man bei der Klägerin in ihrem Beruf als Hausfrau besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen voraussetze, so sei sie in deren Nutzung nicht gehindert, denn sie könne etwa bei der Zubereitung der Mahlzeiten die Geschmacksrichtung noch bestimmen und müsse sich evtl. bezüglich der geschmacklichen Feinheiten anderer Familienmitglieder bedienen. Im einzelnen wird auf die Entscheidungsgründe verwiesen.

Gegen das ihr am 14. Mai 1973 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 23. Mai 1973 Berufung eingelegt. Nach ihrer Auffassung liegt allein wegen des Verlustes der Riechnerven und der Beeinträchtigung des Geschmacksempfindens eine MdE von 20 % auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vor. Außerdem sei aber zu beachten, daß sie in ihrer Berufsarbeit als Hausfrau durch die Unfallfolgen behindert sei. Die Hausfrauentätigkeit sei anderen Küchenberufen gleichzustellen. Die Tatsache, daß sie trotz ihrer Behinderung ihren Haushalt weiterführe, stehe der Berücksichtigung eines besonderen Betroffenseins nicht im Wege. Das SG verkenne, daß sie nicht in der Lage sei, einen fremden Haushalt zu führen, um auf diese Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ein grundsätzlicher Unterschied zu einem Koch oder einem Angehörigen einer ähnlichen Berufsgruppe bestehe hinsichtlich der Hausfrauentätigkeit nicht. Die vorliegenden neurologischen Gutachten seien nicht überzeugend, so daß eine nochmalige Begutachtung erforderlich sei.

Nach ihrer Auffassung sei der in dem Gutachten des Dr. U. vom 31. Oktober 1972 festgestellte Schädelbasisbruch die Ursache für die Zerstörung des Geruchssinnes, die erhebliche Beeinträchtigung des Geschmacksempfindens und für die immer wieder auftretenden Kopfschmerzen. Letztere habe sie erst seit dem Unfall. Da in Verbindung mit dem Riechverlust auch stets die Beeinträchtigung des Geschmacksempfindens gesehen werden müsse, komme man zwangsläufig, auch ohne Berücksichtigung des besonderen beruflichen Betroffenseins, auf eine MdE von 20 %. Sie verweist hierzu auf das Urteil des BSG vom 16. November 1972 (Az.: 11 RA 154/71). Die immer wieder auftretenden Kopfschmerzen seien ebenfalls eine Folge des Unfalls und müßten entsprechend berücksichtigt werden. Im übrigen sei sie seit Anfang Oktober 1973 wegen Verschlimmerung ihres Ohrenleidens, das ebenfalls eine Unfallfolge sei, bei Dr. St. in Behandlung. Einen von Amts wegen angeforderten Befundbericht hat Dr. St. erst nach zweimaliger Erinnerung nach Schluß der letzten mündlichen Verhandlung vom 6. November 1974 am 8. November 1974 übersandt. Den Antrag, bei Frau Dr. von der H. ein nervenfachärztliches Gutachten einzuholen, hat die Klägerin nicht aufrechterhalten. Sie hat erklärt, daß ein Antrag nach § 109 SGG nicht gestellt werde.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 24. April 1973 aufzuheben und den Bescheid vom 4. Oktober 1971 dahin abzuändern, daß die Beklagte verurteilt wird, ihr über den 30. November 1971 hinaus Verletztenrente wegen unfallbedingter Kopfschmerzen und eines Ohrenleidens sowie der anerkannten Unfallfolgen nach einer MdE um mindestens 20 % zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Die vorliegenden Gutachten ließen erkennen, daß die Kopfschmerzen vasomotorischer Natur, also nicht unfallbedingt seien. Bei der Beurteilung der MdE sei allein der Verlust des Riechvermögens verbunden mit einer Beeinträchtigung des Geschmacksvermögens zu berücksichtigen. Hierfür werde im allgemeinen die MdE mit weniger als 20 % bewertet. Lediglich in Berufen, in denen es ganz besonders auf das Riechvermögen ankomme, sie bei dessen Beeinträchtigung eine höhere MdE angenommen worden. Einer solchen Berufsgruppe gehöre die Klägerin nicht an.

Die Beklagte hat den angefochtenen Bescheid vom 4. Oktober 1971 in der letzten mündlichen Verhandlung wie folgt ergänzt: "mit entsprechender Beeinträchtigung des Geschmackssinns.”

Auf den weiteren Inhalt der Gerichts- und Unfallakten wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig.

Sie ist aber unbegründet. Die Klägerin hat vom 1. Dezember 1971 an keinen Anspruch mehr auf Verletztenrente. Die Vorinstanz hat im Ergebnis zutreffend die Klage abgewiesen und damit den angefochtenen Bescheid bestätigt.

Da der Bescheid vom 4. Oktober 1971, gegen den sich die Klägerin wendet, nicht nur die Entziehung der vorläufigen Rente, sondern in der Hauptsache die erstmalige – negative – Feststellung der Dauerrente betrifft, bedurfte es bei der Feststellung des Grades der MdE entgegen der Auffassung der Klägerin nicht des Nachweises einer wesentlichen Besserung i.S. von § 622 RVO. Vielmehr hatte die Beurteilung der Unfallfolgen unabhängig von früheren Begutachtungen zu erfolgen, § 1585 Abs. 2 RVO.

Nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO wird eine Verletztenrente gewährt, solange infolge des Arbeitsunfalles die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens ein Fünftel (= 20 %) gemindert ist. Eine unfallbedingte MdE in dieser Höhe besteht bei der Klägerin nicht mehr.

Als Unfallfolgen liegen bei der Klägerin entsprechend dem angefochtenen Bescheid nur der Verlust des Geruchssinnes durch Schädigung des Riechnervs sowie eine Beeinträchtigung der Geschmacksempfindung vor, die von der Beklagten nunmehr ebenfalls als Unfallfolge anerkannt ist. Die von der Klägerin darüber hinaus geltend gemachten Gesundheitsstörungen, nämlich Kopfschmerzen und ein Ohrenleiden, sind als Unfallfolgen nicht festzustellen. Ausweislich des Gutachtens des Dr. R. vom 26. Mai 1972 mit der ergänzenden Beurteilung vom 2. November 1972 hatte die Klägerin bei dem Unfall vom 14. Oktober 1969 eine Hirnerschütterung und, wie die Röntgenaufnahmen ergaben, auch eine Fraktur im Bereich des rechten Hinterhauptes erlitten. Dieser Befund rechtfertigt aber nach den Ausführungen des Dr. R. nicht die Annahme, daß eine Hirnverletzung vorlag. Mit Recht weist Dr. R. darauf hin, daß schon bei der ersten Untersuchung klinische Hirnverletzungszeichen fehlten. Selbst der vom Durchgangsarzt beschriebene blutige Liquor müsse kein Zeichen einer Hirnverletzung sein. Die auf den von Frau Dr. W. im Jahre 1969 gefertigten Röntgenaufnahmen zu erkennende Fraktur im Bereich des rechten Hinterhauptes sei ausweislich der von Dr. U. erstellten Röntgenbilder des Schädels gut konsolidiert. Auf eine Hirnverletzung könne hieraus allein nicht geschlossen werden. Überzeugend führt Dr. R. weiter aus, daß angesichts fehlender klinischer Hirnverletzungszeichen die subjektiven Kopfbeschwerden nach Hirnerschütterung zwei Jahre nach dem Unfall als abgeklungen anzusehen seien. Sie müßten als Ausdruck von Volumenschwankungen der Hirngefäße aufgefaßt werden und stellten somit keine Unfallfolgen dar. Im übrigen bedingten sie auch keine MdE. Das Gutachten des Dr. R. ist überzeugend. Der Senat hat sich ihm angeschlossen. Zu seiner Überzeugung steht hiernach fest, daß der Unfall nicht ursächlich für die subjektiv geklagten Kopfschmerzen ist.

Ein unfallbedingtes Ohrenleiden ist ebenfalls nicht festzustellen. Sowohl dem im Klageverfahren eingeholten Gutachten des Dr. Z. vom 26. Mai 1972 als auch dem für die Beklagte von Dr. B. erstatteten Gutachten vom 9. September 1971 zufolge ergaben die Untersuchungen der Vestibularisorgane keine wesentlichen Störungen mehr. Der Senat ist diesen Gutachten gefolgt. Danach sind die zeitweise noch auftretenden Schwindelerscheinungen, wie beide Gutachter übereinstimmend ausführen, wahrscheinlich auf vasomotorische Störungen, die unabhängig vom Unfall bestehen, zurückzuführen.

Hiernach ist festzustellen, daß andere als die von der Beklagten in dem angefochtenen Bescheid anerkannten Unfallfolgen nicht vorhanden sind. Die durch sie bedingte MdE ist von Dr. B. zutreffend mit 10 % eingeschätzt worden. In der gesetzlichen Unfallversicherung ist der Grad der durch den Arbeitsunfall verminderten Erwerbsfähigkeit grundsätzlich nach dem Umfang der verbleibenden Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens zu beurteilen. Diesen Grundsatz hat auch das BSG ausdrücklich in dem Urteil vom 26. Juni 1970 (Az.: 2 RU 108/67) angewandt, in dem es um die Höhe der bei einem Lebensmittelhändler vorliegenden MdE ging, der infolge eines Arbeitsunfalles den Geruchs- und Geschmackssinn verloren hatte. Das BSG hat hier, nachdem es die im versicherungsmedizinischen Schrifttum vertretenen unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich der Beurteilung der durch den Verlust dieser Sinnesorgane bedingten MdE dargestellt hat, mit Recht ausgeführt, daß es darauf ankomme, ob der Ausfall dieser Sinnesorgane die Fähigkeit zum Erwerb auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens mindere. Für andere bei der Bewertung der MdE zu berücksichtigende Gesichtspunkte, etwa eine mögliche Einengung des Lebensgefühls infolge dieser Gesundheitsstörungen, sei daher kein Raum. Daraus ergibt sich aber nach der Auffassung des erkennenden Senats, daß die durch die anerkannten Unfallfolgen verursachte MdE auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt jedenfalls nicht höher als 10 % – entsprechend dem angefochtenen Bescheid – zu bewerten ist.

Der Klägerin steht auch nach § 581 Abs. 2 RVO keine MdE im rentenberechtigenden Grade zu. Die Voraussetzungen dieser gesetzlichen Regelung sind nicht erfüllt. Hiernach sind bei der Bemessung der MdE Nachteile zu berücksichtigen, die der Verletzte dadurch erleidet, daß er bestimmte von ihm erworbene berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Unfalls nicht mehr oder nur in vermindertem Umfang nutzen kann, soweit sie nicht durch Fähigkeiten, deren Nutzung ihm zugemutet werden kann, ausgeglichen werden. Das BSG – und in gleicher Weise der erkennende Senat – hat hierzu in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, daß bei Anwendung des § 581 Abs. 2 RVO die in der gesetzlichen Unfallversicherung seit jeher angewandten Grundsätze der abstrakten Schadensbemessung und der Verweisung des Verletzten auf das Gesamtgebiet des Erwerbslebens zu beachten sind. Diese Grundsätze gelten einheitlich für alle Versicherten. Eine zu weitgehende Berücksichtigung des Einzelfalles wird dem Wesen der gesetzlichen Unfallversicherung nicht gerecht (vgl. BSG vom 25.8.1965 – 2 RU 52/64; vom 27.9.1968 – 2 RU 149/66). Unfallbedingte Nachteile i.S. von § 581 Abs. 2 RVO liegen hiernach im allgemeinen nur vor, wenn der Verletzte sich bis zum Zeitpunkt des Unfalles in einen speziellen Beruf mit der Folge hineingelebt hat, daß seine Verwendungsfähigkeit im allgemeinen Erwerbsleben durch den Unfall erheblich eingeengt ist (vgl. BSG vom 25.8.1965). Die Verletzung, die sich der Verletzte durch den Unfall zugezogen hat, muß sich spezifisch auf die Fähigkeit zum Erwerb auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens auswirken (BSG v. 26.6.1970 – 2 RU 108/67). Dabei spielt bei der Bemessung der individuellen MdE das Lebensalter des Verletzten eine wesentliche Rolle. In den vom BSG bisher entschiedenen Streitfällen wirkte sich die Unfallverletzung regelmäßig dahin aus, daß der Versicherte seinen Lebensberuf nicht mehr ausüben konnte und angesichts seines Lebensalters sowie der Art und der jahrzehntelangen Ausübung des Berufes eine berufliche Umstellung erheblichen Schwierigkeiten begegnete. Die Klägerin, die im Unfallzeitpunkt erst 44 Jahre alt war und im Haushalt außer ihrem Ehemann noch 2 Kinder im Alter von damals unter 18 Jahren zu versorgen hatte, ist jedoch nach wie vor als Hausfrau tätig. Die durch die Unfallfolgen bestehende sicherlich lästige Behinderung der Klägerin bei ihrer Tätigkeit als Hausfrau ist nicht vergleichbar mit der Lage, in der sich ein abhängig Beschäftigter befindet, der infolge eines Unfalles den erlernten Beruf aufgeben muß. Selbst wenn aber der Verletzte infolge des Arbeitsunfalles seinen erlernten Beruf nicht mehr ausüben kann, hat dies nach der Auffassung des BSG noch nicht zwangsläufig eine höhere Bewertung der MdE nach § 581 Abs. 2 RVO zur Folge (vgl. BSG v. 26.6.1970). Die bloße Beeinträchtigung der Klägerin bei der Zubereitung der Speisen ist daher nicht geeignet, zur Erhöhung des MdE-Grads zu führen. Ein besonderes berufliches Betroffensein der Klägerin in ihrer Tätigkeit als Hausfrau ist hiernach zu verneinen.

Der Senat ist der Anregung der Klägerin, noch ein weiteres neurologisches Gutachten einzuholen, nicht gefolgt, da er das bereits im erstinstanzlichen Verfahren eingeholte Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. R. vom 26. Mai 1972 für überzeugend hält. Einen Antrag nach § 109 SGG hat die Klägerin auf Befragen nicht gestellt.

Für den Senat bestand ferner keine Veranlassung, noch ein ohrenfachärztliches Gutachten einzuholen, da für die zunächst auf HNO-ärztlichem Fachgebiet anerkannte "leichte Gleichgewichtsstörung” keine Befunde mehr erhoben wurden. Im übrigen hatte Dr. St. bereits am 7. Dezember 1970 die Auffassung vertreten, daß die Vestibularisstörung in Kürze nicht mehr nachweisbar sein werde. Antragen des Berichterstatters, ob eine von der Klägerin geltend gemachte Verschlimmerung des Ohrenleidens eingetreten sei und worin sie ggf. bestehe, hat Dr. St. mit dem erst nach Schluß der letzten mündlichen Verhandlung am 8. November 1974 eingegangenen Bericht dahin beantwortet, daß die Klägerin vom 23. Oktober 1973 bis 7. Februar 1974 wegen eines chronischen Tubenmittelohrkatarrhs mit leichtgradiger komb. Schwerhörigkeit rechts bei ihm in ambulanter Behandlung gewesen sei. Eine Unfallfolge sei nicht erkennbar gewesen und sei auch nach Art des Befundes nicht wahrscheinlich. Die von dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin in Fotokopie überreichten zwei Entscheidungen des BSG vom 26. Juni 1970 (2 RU 59/69 und 2 RU 108/67) sind bei der Urteilsfindung berücksichtigt worden und stützen, wie oben dargelegt, die Auffassung des erkennenden Senats. Die weiterhin, ebenfalls in Fotokopie, vorgelegten Abhandlungen aus dem "Zentralblatt für Chirurgie” 94. Jahrgang/1969 S. 1610 ff. über "Erstaubung, Vestibularisausfall und Anosmie nach stumpfen Schädeltrauma” und aus der "Zeitschrift für Laryngologie, Rhinologie und Otologie” 40. Jahrgang 1961 S. 515 ff. über "Bilaterale Taubheit mit Vestibularausfall und Anosmie nach stumpfen Schädeltrauma” sowie die Dokumentation des Artikels "Das Problem abnormer Unfallreaktionen nach gedeckten Schädel-Hirn-Traumen” (Deutsches Gesundheitswesen 1971 S. 1943–1946) rechtfertigen keine andere Entscheidung, da es sich hierbei um allgemeine Darstellungen möglicher Gesundheitsschäden nach entsprechenden Unfällen handelt und außerdem dort aufgezeigten Probleme in dem im vorliegenden Rechtsstreit erstatteten ärztlichen Gutachten, soweit erforderlich, Berücksichtigung gefunden haben.

Nach allem konnte die Berufung keinen Erfolg haben.

Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, da die Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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