Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 11 V 552/94
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 250/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13. Januar 1995 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) im Verfahren nach § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren (SGB X).
Der 1935 geborene Kläger lebt als slowenischer Staatsbürger in der Republik Slowenien, der früheren Teilrepublik der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ). Er erlitt am 10. Mai 1944 bei der Explosion einer Handgranate in seinem Heimatort bei schwere Verletzungen an der linken Hand und verlor das Augenlicht. 1946 wurde er in die Blindenschule in auf genommen und zum Telefonisten ausgebildet. Diesen Beruf übt er seit 1962 aus. Aufgrund der 1944 erlittenen Verletzungen wurde er in seinem Heimatstaat Slowenien als Zivilkriegsopfer anerkannt und ihm wurde eine Rente zugebilligt. Erstmals am 4. Juli 1989 beantragte der Kläger beim Versorgungsamt Fulda die Gewährung von Beschädigtenversorgung und gab an, als noch nicht neunjähriges Kind in der Nähe seines Heimatortes bei dem Versuch, eine von deutschen Wehrmachtsangehörigen zurückgelassene Handgranate einzusammeln, schwer verletzt worden zu sein. Der Kläger legte Nachweise über die Anerkennung als ziviles Kriegsopfer in seinem Heimatstaat, Zahlungsnachweise sowie ärztliche Unterlagen und weitere Dokumente vor. Nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 20. August 1990 erkannte das Versorgungsamt Fulda mit Bescheid vom 12. Juni 1991 die vom Kläger geltend gemachten Gesundheitsstörungen ("Verlust des Sehvermögens beiderseits, Verlust der Endglieder der Finger III und IV und Narben an der Handinnenfläche links”) als Schädigungsfolgen nach dem BVG an und gewährte ihm Beschädigtenversorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. in Form von Grundrente, Schwerstbeschädigtenzulage (Stufe I) und einer Pflegezulage (Stufe III). Zuletzt wurde die Beschädigtenversorgung durch monatlich 821,00 DM erhöht. Im ursprünglichen Bewilligungsbescheid war u.a. ausgeführt worden, daß die Leistung als sogenannte "Kannversorgung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG zuerkannt werde.
Mit Bescheid vom 11. Januar 1993 nahm das Versorgungsamt Fulda ohne vorherige Anhörung des Klägers den Bewilligungsbescheid vom 12. Juni 1991 mit Wirkung vom 1. Februar 1993 unter Berufung auf § 45 SGB X zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, daß der Bewilligungsbescheid rechtswidrig gewesen sei, weil der Kläger wegen derselben Ursache einen Anspruch auf Zivil-Kriegsopferrente gegenüber seinem Heimatstaat gehabt habe und gemäß § 7 Abs. 2 BVG eine Doppelversorgung jedoch ausgeschlossen sei. Da diese gesetzliche Bestimmung bei Erteilung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides nicht beachtet worden sei, habe dieser zurückgenommen werden müssen. Zwar setze die Rücknahme voraus, daß das Interesse des Bürgers an der Aufrechterhaltung des Vorteils nicht höher zu bewerten sei, als das öffentliche Interesse des Staates und der Allgemeinheit an der Beseitigung der Rechtswidrigkeit eines Bescheides. Die Rücknahme des rechtswidrigen Bescheides sei aber aus öffentlichem Interesse geboten, wobei zugunsten des Klägers berücksichtigt worden sei, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein im Verantwortungsbereich der deutschen Verwaltung gelegen habe. Daraus allein ergebe sich aber nicht die Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Klägers in den Bestand des Bescheides. Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung sei die persönliche Situation des Klägers gewürdigt worden. Die niedrige Höhe der Versorgung im Heimatstaat könne jedoch nicht zu einer Ausübung des Ermessens zugunsten des Klägers führen, weil deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß auf die wirtschaftlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Klägers haben könnten. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 13. Februar 1993 (Eingang) Widerspruch ein und machte geltend, daß er durch eine von deutschen Soldaten in sein Heimatland gebrachte Granate schon 1944, als kaum 9-jähriger, sein Augenlicht verloren habe. Die Unterstützung aus Deutschland habe ein wenig die Lebensqualität verbessert; die verlorene Gesundheit könne ihm so oder so niemand ersetzen. Der Beklagte wies den Widerspruch ohne weitere Anhörung des Klägers durch Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 1993 u.a. mit der Begründung zurück, es sei auch geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistung hätte abgesehen werden können. Zwar sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Diese Umstände würden aber bei Beziehern von Sozialleistungen vielfach vorliegen und könnten deshalb nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Gegen den ihm unter Vermittlung der Deutschen Botschaft am 22. Juli 1993 zugeleiteten Widerspruchsbescheid hat sich der Kläger mit einem am 27. September 1993 beim Landesversorgungsamt eingegangenen Schreiben gewandt. Der Beklagte hat dieses Schreiben als Klage gewertet und die Klageschrift an das Sozialgericht Frankfurt am Main weitergeleitet (Eingang am 16. Februar 1994).
Mit Urteil vom 13. Januar 1995 hat das Sozialgericht Frankfurt am Main den angegriffenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben und zur Begründung u.a. ausgeführt, eine Aufhebung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X erfolgen können. Dabei könne dahingestellt bleiben, ob der ursprüngliche Bewilligungsbescheid überhaupt rechtswidrig gewesen sei und auch, ob der Aufhebungsbescheid schon allein deshalb rechtswidrig sei, weil vor Erlaß dieses, in die Rechte des Klägers eingreifenden, Bescheides, keine Anhörung erfolgt sei. Der Beklagte habe jedenfalls von der ihm, auch nach Prüfung der Frage, ob das öffentliche Interesse an der Aufhebung das Interesse des Klägers am Bestand des Verwaltungsaktes überwiege, verbleibenden Verpflichtung zur Ausübung sachgerechten Ermessens fehlerhaft Gebrauch gemacht. In der Begründung sowohl des angefochtenen Bescheides wie auch des Widerspruchsbescheides habe der Beklagte nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Hinsichtlich des Rücknahmebescheides vom 11. Januar 1993 sei dies schon deshalb offenkundig, weil der Kläger vor dessen Erlaß nicht angehört worden sei und das beklagte Land mangels aktueller Kenntnis der persönlichen und wirtschaftlichen Situation des Klägers eine individuelle Würdigung gar nicht habe vornehmen können. Das gelte auch für die Ausführungen zur Ermessensausübung in der Begründung des Widerspruchsbescheides vom 9. Juli 1993.
Die dort gebrauchten Formulierungen deuteten darauf hin, daß das beklagte Land bei seiner Entscheidung gerade nicht auf die individuellen Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalls abgestellt habe, sondern nur solche Aspekte, die für alle Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an Zivilkriegsopfer in der ehemaligen SFRJ zutreffen würden, auch gewürdigt habe. Das Fehlen jeglicher auf den Einzelfall bezogener Ausführungen zur Ermessensausübung zeige sich auch deutlich in der Verwaltungspraxis des beklagten Landes, das in allen dem vorliegenden vergleichbaren Fällen nach Kenntnis des Gerichts einheitlich entschieden habe. Es sei gerichtsbekannt, daß das beklagte Land nach Bekanntwerden des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 in ca. 300 Verwaltungsverfahren praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen habe. Diesen Schluß könne das Sozialgericht aufgrund der ihm bekannten Akten von ca. 100 vergleichbaren Streitverfahren ziehen. Aus der Tatsache, daß der Beklagte vor Erlaß des Widerspruchsbescheides keine Anhörung durchgeführt habe, könnte auch geschlossen werden, daß er gar nicht die Absicht gehabt habe, eine individuelle Einzelfallentscheidung zu treffen. Der Bescheid und der Widerpruchsbescheid seien deshalb wegen nicht ordnungsgemäßer Ausübung des Ermessens rechtswidrig und hätten aufgehoben werden müssen.
Gegen das ihm gegen Empfangsbekenntnis am 7. März 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte die am 13. März 1995 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung eingelegt. Er vertritt die Ansicht, daß bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht im Regelfall überhaupt kein Ermessensspielraum bestehe. Dies habe der 9. Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung entschieden. Soweit sich das erstinstanzliche Gericht für seine Auffassung, es sei Ermessen auszuüben gewesen (und nicht pflichtgemäß ausgeübt worden), auf Rechtsprechung anderer Senate des BSG beziehe, sei diese Rechtsprechung im sozialen Entschädigungsrecht nicht einschlägig. Im Falle des Klägers handele es sich um einen klassischen Regelfall, weshalb keinerlei Ermessen hätte ausgeübt werden müssen. Auch soweit das Sozialgericht meine, die Verwaltung habe überhaupt kein Ermessen ausgeübt, habe es den Text des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides nicht vollständig zur Kenntnis genommen. Es seien sowohl die Höhe der ausländischen Zivilkriegsopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relative Gesamteinkommen des Klägers in die Überlegungen einbezogen worden. Ermittlungen zu den aktuellen Einkommensverhältnissen seien nicht erforderlich gewesen, da zugunsten des Klägers dessen schwierige persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse unterstellt worden seien. Auch soweit das Sozialgericht bemängele, daß der Beklagte die Situation in der früheren SFRJ nicht berücksichtigt habe, könne dem nicht gefolgt werden. Der Kläger, der in Ljubljana wohne, sei dort von den Auswirkungen des Bürgerkrieges überhaupt nicht betroffen. Soweit sich das Sozialgericht an den gleichlautenden Texten störe, sei darauf hinzuweisen, daß die Formulierung mit Hilfe moderner technischer Hilfsmittel (Schreibcomputer, Textbausteine) kein Grund sein könne, dem Beklagten vorzuwerfen, er habe keine Überlegungen angestellt.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13. Januar 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil, das er für zutreffend hält, und macht geltend, daß nach seiner Meinung die Bundesrepublik Deutschland eine Verpflichtung habe, den von der deutschen Wehrmacht Geschädigten eine Entschädigung zukommen zu lassen.
Für den Sach- und Streitstand im übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichts- und Verwaltungsakte (Beschädigtenakten des Versorgungsamtes Fulda, Archiv-Nr. XXXX), die dem Senat vorgelegen haben und auszugsweise zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 12. Juni 1997 und der Beratung des Senats gemacht worden sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden sowie an sich statthaft (§ 151 in Verbindung mit §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – (SGG) –).
Die Berufung ist sachlich jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht Frankfurt am Main hat durch Urteil vom 13. Januar 1995 den Bescheid des Beklagten vom 11. Januar 1993 und den Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 1993 zu Recht aufgehoben, weil diese Verwaltungsentscheidungen wegen fehlerhafter Ermessensausübung rechtswidrig sind und den Kläger beschweren (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Nach § 45 Abs. 1 SGB X nämlich "darf” ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den dort genannten weiteren Voraussetzungen ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Aus dieser Formulierung ergibt sich, daß die Verwaltung nicht schlechthin verpflichtet ist, jeden rechtswidrigen Verwaltungsakt zurückzunehmen. Selbst wenn die Voraussetzungen der Abs. 2–4 von § 45 SGB X gegeben sind und insoweit eine Rücknahme grundsätzlich in Betracht kommt, steht es im Ermessen der Verwaltung, von einer Rücknahme abzusehen (BSG, Urteil vom 18. August 1983 – 11 RZ/Lw 11/82 = SozR 2-1300 § 52 Nr. 3; Urteil vom 25. Oktober 1984 – 11 RA 24/84 SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 12; Urteil vom 14. November 1985 – 7 RAr 123/84 = SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 19; Urteil vom 28. November 1994 – 10 RKg 15/94 –; Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93 –; vgl. auch Kasseler Kommentar – Steinwedel § 45 SGB X Rdnr. 52; Hauck/Haines a.a.O., K § 45 SGB X Rdz. 16; Grüner, a.a.O., § 45 Erläuterungen III. 7). Nur bei ganz wenigen, eingeschränkten Fallkonstellationen kann davon ausgegangen werden, daß das Ermessen zur Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes derart auf "Null” reduziert ist, daß die Verwaltung nur diese und keine andere Entscheidung treffen kann und darf. So wird allgemein anerkannt, daß bei vorsätzlicher, betrügerischer Leistungserschleichung auf jeden Fall eine Rücknahme des begünstigenden Verwaltungsaktes erfolgen muß. Bereits für den Fall fahrlässiger Bösgläubigkeit im Hinblick auf wesentliche für den Erlaß des rechtswidrigen Bescheides maßgeblichen Tatsachen (Abs. 2 Nrn. 2 und 3 von § 45 SGB X) wird in der neueren Rechtsprechung des BSG teilweise eine Ermessensreduzierung auf "Null” vertreten, teilweise aber auch nicht (vgl. BSG, SozR 3-1300 § 50 Nr. 16 einerseits und andererseits BSG, Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93).
Für den Bereich der Kriegsopferversorgung wird in der Rechtsprechung des 9. (9/9 a)-Senates des BSG – wie dies vom Beklagten zutreffend ausgeführt worden ist – die Auffassung vertreten, daß "in den üblichen Fällen” eine Ermessensreduzierung auf "Null” eintritt und damit weitere Erwägungen der Verwaltung bei der Ausübung des Ermessens weder erforderlich sind noch dargelegt werden müssen (BSG, Urteil vom 25. Juni 1986 – 9a RVg 2/94 – = BSGE 60, 147 ff.). Begründet wird diese einschränkende Interpretation des § 45 SGB X unter Bezugnahme auf Formulierungen im Rücknahmetatbestand der früher geltenden §§ 40, 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes zum Kriegsopferrecht (KOVVfG). Diese Begründung hält der erkennende Senat jedoch nicht mehr für überzeugend, weil das SGB X sämtliche Verfahrensvorschriften der Sozialleistungsbereiche, für die es gilt, abgelöst hat und deshalb auch die Vorschriften des KOVVfG nicht mehr Anwendung finden. Die Regelungen des SGB X hatten die Vereinheitlichung des Verfahrensrechts und der für ein rechtsstaatliches Verfahren geltenden Maßstäbe im gesamten Sozialrecht zum Ziel. Besondere Regelungen und "bereichsspezifische” Interpretationen für Teile des Sozialleistungsrechts können deshalb nur gelten, wenn sie auch aus den seit Erlaß des SGB X ergangenen und heute geltenden Vorschriften herzuleiten sind. So hat z.B. der parlamentarische Gesetzgeber für den Bereich der Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit und das Arbeitsförderungsrecht mit der am 1. Januar 1994 in Kraft getretenen Neufassung des § 152 Abs. 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) klargestellt, daß das der Verwaltung durch § 45 SGB X eingeräumte Ermessen in besonders gelagerten Fällen ausdrücklich eingeschränkt werden sollte. Der grundsätzliche Vorrang der Regelungen des SGB X und ihre einheitliche Interpretation sind auch im sozialen Entschädigungsrecht zu beachten. Normen, die nach Inkrafttreten des SGB X Geltung erlangt haben und die eine Einschränkung der Notwendigkeit zur Ermessensausübung für die Versorgungsverwaltung begründen könnten, sind weder in der zitierten Rechtsprechung des 9/9 a-Senates des BSG angeführt noch vom Beklagten benannt worden; auch der erkennende Senat vermag solche nicht zu erkennen und/oder zu benennen. Der Senat verkennt dabei nicht, daß in den Regelfällen, wie sie in § 45 Abs. 2 SGB X normiert sind, es der Verwaltung schwer fallen wird, weitere Gesichtspunkte bei der Ermessensprüfung zu benennen, die nicht schon bereits bei der Prüfung des Vertrauenstatbestandes Erwähnung gefunden haben (vgl. hierzu Haus, SGb 1987, S. 190 ff.). Die gesetzliche Regelung schließt es jedoch nicht aus, bei der Ermessensausübung wieder auf die Gesichtspunkte zurückzugreifen, die bereits zur Versagung des Vertrauensschutzes geführt haben (Kasseler Kommentar – Steinwedel, a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53 unter Bezugnahme auf BSGE 59, 157 ff., 169 f.). Die bislang – soweit erkennbar – vom 9/9 a-Senat des BSG noch ausdrücklich vertretene Auffassung zur Reduzierung des den Verwaltungsbehörden eingeräumten Ermessens auf "Null”, kann der erkennende Senat, wie schon bisher, nicht zur Grundlage seiner Entscheidungen machen (vgl. HLSG, Urteile vom 17. Januar 1991 – L-5/V-747/87 und vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-124/94 – und – 343/95).
Jedenfalls für den vorliegenden Fall geht der Senat davon aus, daß es sich nicht um einen solchen Regelfall handelt, bei dem die Verwaltung des Beklagten auf jegliche Ermessenserwägungen verzichten konnte und auch nicht um einen Fall, bei dem es für die erforderliche Ermessensausübung ausreichend war, lediglich mit floskelhaften allgemeinen Ausführungen, die jegliches Eingehen auf die besonderen Umstände des Klägers vermissen ließen, von dem eingeräumten Ermessen Gebrauch zu machen. Insoweit handelt es sich um den Fall des Ermessensfehlgebrauchs durch "Ermessensunterschreitung” (Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 5. Aufl., § 54 Rdnrn. 25, 30). Von Ermessensunterschreitung wird gesprochen, wenn die Behörde den ihr eingeräumten Spielraum irrtümlich zu eng einschätzt oder wenn sie grob gegen Anforderungen, die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellen sind, verstößt (Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr. 30).
Der Senat sieht vorliegend Umstände gegeben, die eine sorgfältige und differenzierte Ermittlung erforderlich machten und – nachfolgend – eine ebensolche Ermessensausübung unerläßlich erscheinen lassen. Der Kläger lebte zum Zeitpunkt der Entscheidung in Slowenien, einem Teil der ehemaligen SFRJ, der nach der Auflösung der SFRJ kurz vor dem Bürgerkrieg stand. In den übrigen Landesteilen herrschte Krieg, bei dem es zu teilweise völkerrechtswidrigen und außerordentlich grausam geführten Maßnahmen der Kriegsparteien kam. Zwar war Slowenien – relativ – am wenigsten von diesen kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen, doch hat der Kläger geltend gemacht, daß seine wirtschaftliche Existenz von Leistungen nach dem BVG – auch wenn sie rechtswidrig bewilligt sein sollten – abhänge und andernfalls aufs äußerste gespannt wäre. Soweit man nicht allein die Tatsache, daß der Kläger zum zweiten Mal in seinem Leben – wenn auch nur entfernt – von kriegerischen Ereignissen beeinträchtigt worden war, für ausreichend hält, um zusätzliche weitere Ermessenserwägungen zu fordern, so ist der Beklagte jedoch in keiner Weise erkennbar dem Vorbringen des Klägers weiter nachgegangen, daß der vollständige Entzug der seit Erlaß des Bescheides im Jahre 1991 bewilligten Leistung für ihn eine besondere Härte bedeuten würde und zur Verarmung des Klägers und seiner Familie führen müßte. Auch hat der Beklagte nicht gesondert und besonders berücksichtigt, daß der Kläger als Blinder des besonderen Schutzes und der besonderen Unterstützung bedarf, obwohl der Kläger ausdrücklich darauf hingewiesen hat. Insoweit erweisen sich die von dem Beklagten angestellten Ermessenserwägungen zur Überzeugung des Senates als rechtlich nicht haltbar, weil der Beklagte Härtegesichtspunkte nicht weiter aufgeklärt hat und deshalb von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch machen konnte. Zwar steht es der Behörde in den Grenzen ihres Ermessens in der Regel frei, auf welche Umstände sie abstellen will (vgl. BSG in SozR 3-1300 § 45 SGB X Nrn. 2 und 5). Ermessen ist dann von den Gerichten allein daraufhin zu überprüfen, ob von der Verwaltung bei ihrer Entscheidung alle wesentlichen Umstände berücksichtigt worden sind (BSG, Beschluss vom 10. August 1993 – 9 BV 4/93, Kasseler Kommentar, Steinwedel a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53). Um die Ermessensentscheidung überhaupt einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich zu machen, sieht aber § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X vor, daß bei einem Verwaltungsakt, der nach pflichtgemäßem Ermessen ergeht, die wesentlichen Gesichtspunkte schriftlich mitgeteilt werden müssen, von denen die Verwaltungsbehörde bei ihrer Entscheidung ausgegangen ist. Dabei können Billigkeitsgesichtspunkte (BSG in SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 34), die wirtschaftlichen Folgen für den Betroffenen (BSGE 59, S. 157 ff.) und – nicht zuletzt – das Verschulden des Leistungsträgers ebenso wie das Verschulden des Leistungsempfängers (BSG, SozR 3-1300 a.a.O. Nr. 2) berücksichtigt werden. Auf jeden Fall aber sind die sog. besonderen Härtetatbestände mit einzubeziehen, wie etwa ein hohes Alter und das psychische Befinden (Frehse, VersorgB 1987, S. 31 ff.), die familiäre Situation, unverschuldete Notlagen oder schwere Krankheiten und auch solche besonderen Umstände, die es allgemein rechtfertigen, von einer besonderen Härte auszugehen. Das Vorliegen solcher Härtegesichtspunkte hat die Verwaltung im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 20 SGB X von Amts wegen zu prüfen (vgl. z.B. Grüner a.a.O., § 45 SGB X, Erl. III/7.). Ermessensentscheidungen – insbesondere dann, wenn Anlaß für die Einbeziehung von Härtegesichtspunkten besteht – sind dann als individuelle Einzelfallentscheidungen zu treffen, die auf jede Besonderheit abstellen und versuchen müssen, ihr gerecht zu werden. Leerformeln in einem Verwaltungsakt, die inhaltlich nichts aussagen, reichen für die Darlegung der maßgeblichen Ermessensgesichtspunkte nicht aus (BSGE 59, 157 ff.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen, die sich der Senat zu eigen macht, kommt der Senat zu dem Ergebnis, daß der Beklagte von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht pflichtgemäß Gebrauch gemacht hat. In dem angefochtenen Bescheid vom 11. Januar 1993 heißt es lediglich: "Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung wurde Ihre persönliche Situation gewürdigt. Die niedrigere Höhe der Versorgung Ihres Heimatstaates kann nicht zu einer Ermessensausübung zu Ihren Gunsten führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß haben. Eine Ermessensausübung zu Ihren Gunsten kommt daher nicht in Betracht.” Mit diesen Ausführungen hat der Beklagte jedoch gerade nicht auf den Einzelfall Bezug genommen und ist nicht auf die besondere Situation des Klägers eingegangen. Er hat nur auf alle ähnlichen bzw. vergleichbaren Fälle von denjenigen Leistungsempfängern verwiesen, bei denen eine äußerst geringfügige Versorgungsleistung vom Heimatstaat gewährt wird. Die Ausführungen im Bescheid vom 11. Januar 1993 lassen nicht erkennen, inwieweit eine individuelle Ermessensentscheidung getroffen worden ist. Auch im Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 1993, in dem der Beklagte eine Ermessensentscheidung noch hätte nachholen können, wird lediglich ausgeführt: "Es ist ferner geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden kann. Es ist bekannt, daß Sie schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sind und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Diese Umstände treffen bei Sozialleistungen vielfach zu und können bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt wird, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen”. Auch hierin liegt zur Überzeugung des erkennenden Senates lediglich ein standardisierter, leerformelartiger Text vor, der in keinem Fall geeignet war und ist, auf die jeweils besondere Lebenslage der in den Teilstaaten der ehemaligen SFRJ, in denen Krieg herrschte, lebenden Leistungsempfänger einzugehen und das besondere Schicksal eines im Kindesalter Erblindeten zu würdigen. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main deshalb darauf hingewiesen, daß praktisch dieselbe Formulierung in allen 100 beim Sozialgericht anhängigen Klageverfahren und in insgesamt rund 300 Verwaltungsverfahren benutzt worden ist. Dies ist, wie das Sozialgericht zur Überzeugung des Senates zutreffend ausgeführt hat, gerade ein entscheidender Hinweis darauf, daß keine individuellen Gesichtspunkte berücksichtigt worden sind und auch nicht geprüft werden sollten. Zwar ist für den Bereich einer Massenverwaltung dem Beklagten gegenüber einzuräumen, daß er ohne die Verwendung von Textbausteinen heute nicht mehr würde arbeiten können. Dies steht einer sorgfältigen und auf den Einzelfall bezogenen Ermessenserwägung aber auch nicht entgegen. Neben der Verwendung von standardisierten Texten enthalten heutige Textverarbeitungssysteme ausreichende Möglichkeiten, um ergänzende Textteile einzufügen, in denen alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt, gewürdigt und in die Begründung des Bescheides miteinbezogen werden können. Der Kläger war – wenn er auch nicht unmittelbar im Kampfgebiet wohnte – zum zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen in seiner Heimat betroffen. Er hat sich ausdrücklich darauf berufen, daß er zur Sicherung des Lebensunterhaltes für sich und seine Familie auf die seit der Erteilung des Anerkennungsbescheides im Jahre 1991 zufließenden Versorgungsleistungen angewiesen ist. Insoweit ist nicht auszuschließen, daß der Kläger, der trotz der bereits im Kindesalter erlittenen Verletzung und Erblindung einen Beruf erlernt und ausgeübt hat, nunmehr trotz dieser Tätigkeit in große Not geraten könnte. Ein solcher Umstand hätte zumindest geeignet sein können, eine Ermessensentscheidung auch dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Der Senat kann dahinstehen lassen, ob eine solche Entscheidung richtig gewesen wäre und hätte ergehen können und dürfen. Auf jeden Fall hat der Beklagte schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt noch bei seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in die Begründung des Bescheides und des Widerspruchsbescheides aufgenommen hat.
Gerade weil sich der Beklagte darauf beruft, daß auch bei Berücksichtigung der zur Überzeugung des Senats zu diskutierenden Härtegesichtspunkte kein Verzicht auf die Rücknahme hätte erfolgen können, wird zur Überzeugung des Senates deutlich, daß ein Verwaltungsverfahren mit sorgfältiger Abwägung aller Gesichtspunkte eben gerade nicht stattgefunden hat und auch nicht hat stattfinden sollen. Nach übereinstimmender Auffassung in der Rechtsprechung aber kann im Klage- und Berufungsverfahren bezüglich des angegriffenen Rücknahmebescheides und des Widerspruchsbescheides die Ermessensausübung durch den Beklagten nicht mehr nachgeholt werden. Zu Recht hat deshalb das Sozialgericht Frankfurt am Main die angegriffenen Bescheide aufgehoben. Aus denselben Gesichtspunkten war auch die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision mußte zugelassen werden, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
II. Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) im Verfahren nach § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren (SGB X).
Der 1935 geborene Kläger lebt als slowenischer Staatsbürger in der Republik Slowenien, der früheren Teilrepublik der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ). Er erlitt am 10. Mai 1944 bei der Explosion einer Handgranate in seinem Heimatort bei schwere Verletzungen an der linken Hand und verlor das Augenlicht. 1946 wurde er in die Blindenschule in auf genommen und zum Telefonisten ausgebildet. Diesen Beruf übt er seit 1962 aus. Aufgrund der 1944 erlittenen Verletzungen wurde er in seinem Heimatstaat Slowenien als Zivilkriegsopfer anerkannt und ihm wurde eine Rente zugebilligt. Erstmals am 4. Juli 1989 beantragte der Kläger beim Versorgungsamt Fulda die Gewährung von Beschädigtenversorgung und gab an, als noch nicht neunjähriges Kind in der Nähe seines Heimatortes bei dem Versuch, eine von deutschen Wehrmachtsangehörigen zurückgelassene Handgranate einzusammeln, schwer verletzt worden zu sein. Der Kläger legte Nachweise über die Anerkennung als ziviles Kriegsopfer in seinem Heimatstaat, Zahlungsnachweise sowie ärztliche Unterlagen und weitere Dokumente vor. Nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 20. August 1990 erkannte das Versorgungsamt Fulda mit Bescheid vom 12. Juni 1991 die vom Kläger geltend gemachten Gesundheitsstörungen ("Verlust des Sehvermögens beiderseits, Verlust der Endglieder der Finger III und IV und Narben an der Handinnenfläche links”) als Schädigungsfolgen nach dem BVG an und gewährte ihm Beschädigtenversorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. in Form von Grundrente, Schwerstbeschädigtenzulage (Stufe I) und einer Pflegezulage (Stufe III). Zuletzt wurde die Beschädigtenversorgung durch monatlich 821,00 DM erhöht. Im ursprünglichen Bewilligungsbescheid war u.a. ausgeführt worden, daß die Leistung als sogenannte "Kannversorgung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG zuerkannt werde.
Mit Bescheid vom 11. Januar 1993 nahm das Versorgungsamt Fulda ohne vorherige Anhörung des Klägers den Bewilligungsbescheid vom 12. Juni 1991 mit Wirkung vom 1. Februar 1993 unter Berufung auf § 45 SGB X zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, daß der Bewilligungsbescheid rechtswidrig gewesen sei, weil der Kläger wegen derselben Ursache einen Anspruch auf Zivil-Kriegsopferrente gegenüber seinem Heimatstaat gehabt habe und gemäß § 7 Abs. 2 BVG eine Doppelversorgung jedoch ausgeschlossen sei. Da diese gesetzliche Bestimmung bei Erteilung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides nicht beachtet worden sei, habe dieser zurückgenommen werden müssen. Zwar setze die Rücknahme voraus, daß das Interesse des Bürgers an der Aufrechterhaltung des Vorteils nicht höher zu bewerten sei, als das öffentliche Interesse des Staates und der Allgemeinheit an der Beseitigung der Rechtswidrigkeit eines Bescheides. Die Rücknahme des rechtswidrigen Bescheides sei aber aus öffentlichem Interesse geboten, wobei zugunsten des Klägers berücksichtigt worden sei, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein im Verantwortungsbereich der deutschen Verwaltung gelegen habe. Daraus allein ergebe sich aber nicht die Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Klägers in den Bestand des Bescheides. Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung sei die persönliche Situation des Klägers gewürdigt worden. Die niedrige Höhe der Versorgung im Heimatstaat könne jedoch nicht zu einer Ausübung des Ermessens zugunsten des Klägers führen, weil deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß auf die wirtschaftlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Klägers haben könnten. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 13. Februar 1993 (Eingang) Widerspruch ein und machte geltend, daß er durch eine von deutschen Soldaten in sein Heimatland gebrachte Granate schon 1944, als kaum 9-jähriger, sein Augenlicht verloren habe. Die Unterstützung aus Deutschland habe ein wenig die Lebensqualität verbessert; die verlorene Gesundheit könne ihm so oder so niemand ersetzen. Der Beklagte wies den Widerspruch ohne weitere Anhörung des Klägers durch Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 1993 u.a. mit der Begründung zurück, es sei auch geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistung hätte abgesehen werden können. Zwar sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Diese Umstände würden aber bei Beziehern von Sozialleistungen vielfach vorliegen und könnten deshalb nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Gegen den ihm unter Vermittlung der Deutschen Botschaft am 22. Juli 1993 zugeleiteten Widerspruchsbescheid hat sich der Kläger mit einem am 27. September 1993 beim Landesversorgungsamt eingegangenen Schreiben gewandt. Der Beklagte hat dieses Schreiben als Klage gewertet und die Klageschrift an das Sozialgericht Frankfurt am Main weitergeleitet (Eingang am 16. Februar 1994).
Mit Urteil vom 13. Januar 1995 hat das Sozialgericht Frankfurt am Main den angegriffenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben und zur Begründung u.a. ausgeführt, eine Aufhebung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X erfolgen können. Dabei könne dahingestellt bleiben, ob der ursprüngliche Bewilligungsbescheid überhaupt rechtswidrig gewesen sei und auch, ob der Aufhebungsbescheid schon allein deshalb rechtswidrig sei, weil vor Erlaß dieses, in die Rechte des Klägers eingreifenden, Bescheides, keine Anhörung erfolgt sei. Der Beklagte habe jedenfalls von der ihm, auch nach Prüfung der Frage, ob das öffentliche Interesse an der Aufhebung das Interesse des Klägers am Bestand des Verwaltungsaktes überwiege, verbleibenden Verpflichtung zur Ausübung sachgerechten Ermessens fehlerhaft Gebrauch gemacht. In der Begründung sowohl des angefochtenen Bescheides wie auch des Widerspruchsbescheides habe der Beklagte nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Hinsichtlich des Rücknahmebescheides vom 11. Januar 1993 sei dies schon deshalb offenkundig, weil der Kläger vor dessen Erlaß nicht angehört worden sei und das beklagte Land mangels aktueller Kenntnis der persönlichen und wirtschaftlichen Situation des Klägers eine individuelle Würdigung gar nicht habe vornehmen können. Das gelte auch für die Ausführungen zur Ermessensausübung in der Begründung des Widerspruchsbescheides vom 9. Juli 1993.
Die dort gebrauchten Formulierungen deuteten darauf hin, daß das beklagte Land bei seiner Entscheidung gerade nicht auf die individuellen Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalls abgestellt habe, sondern nur solche Aspekte, die für alle Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an Zivilkriegsopfer in der ehemaligen SFRJ zutreffen würden, auch gewürdigt habe. Das Fehlen jeglicher auf den Einzelfall bezogener Ausführungen zur Ermessensausübung zeige sich auch deutlich in der Verwaltungspraxis des beklagten Landes, das in allen dem vorliegenden vergleichbaren Fällen nach Kenntnis des Gerichts einheitlich entschieden habe. Es sei gerichtsbekannt, daß das beklagte Land nach Bekanntwerden des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 in ca. 300 Verwaltungsverfahren praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen habe. Diesen Schluß könne das Sozialgericht aufgrund der ihm bekannten Akten von ca. 100 vergleichbaren Streitverfahren ziehen. Aus der Tatsache, daß der Beklagte vor Erlaß des Widerspruchsbescheides keine Anhörung durchgeführt habe, könnte auch geschlossen werden, daß er gar nicht die Absicht gehabt habe, eine individuelle Einzelfallentscheidung zu treffen. Der Bescheid und der Widerpruchsbescheid seien deshalb wegen nicht ordnungsgemäßer Ausübung des Ermessens rechtswidrig und hätten aufgehoben werden müssen.
Gegen das ihm gegen Empfangsbekenntnis am 7. März 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte die am 13. März 1995 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung eingelegt. Er vertritt die Ansicht, daß bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht im Regelfall überhaupt kein Ermessensspielraum bestehe. Dies habe der 9. Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung entschieden. Soweit sich das erstinstanzliche Gericht für seine Auffassung, es sei Ermessen auszuüben gewesen (und nicht pflichtgemäß ausgeübt worden), auf Rechtsprechung anderer Senate des BSG beziehe, sei diese Rechtsprechung im sozialen Entschädigungsrecht nicht einschlägig. Im Falle des Klägers handele es sich um einen klassischen Regelfall, weshalb keinerlei Ermessen hätte ausgeübt werden müssen. Auch soweit das Sozialgericht meine, die Verwaltung habe überhaupt kein Ermessen ausgeübt, habe es den Text des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides nicht vollständig zur Kenntnis genommen. Es seien sowohl die Höhe der ausländischen Zivilkriegsopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relative Gesamteinkommen des Klägers in die Überlegungen einbezogen worden. Ermittlungen zu den aktuellen Einkommensverhältnissen seien nicht erforderlich gewesen, da zugunsten des Klägers dessen schwierige persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse unterstellt worden seien. Auch soweit das Sozialgericht bemängele, daß der Beklagte die Situation in der früheren SFRJ nicht berücksichtigt habe, könne dem nicht gefolgt werden. Der Kläger, der in Ljubljana wohne, sei dort von den Auswirkungen des Bürgerkrieges überhaupt nicht betroffen. Soweit sich das Sozialgericht an den gleichlautenden Texten störe, sei darauf hinzuweisen, daß die Formulierung mit Hilfe moderner technischer Hilfsmittel (Schreibcomputer, Textbausteine) kein Grund sein könne, dem Beklagten vorzuwerfen, er habe keine Überlegungen angestellt.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13. Januar 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil, das er für zutreffend hält, und macht geltend, daß nach seiner Meinung die Bundesrepublik Deutschland eine Verpflichtung habe, den von der deutschen Wehrmacht Geschädigten eine Entschädigung zukommen zu lassen.
Für den Sach- und Streitstand im übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichts- und Verwaltungsakte (Beschädigtenakten des Versorgungsamtes Fulda, Archiv-Nr. XXXX), die dem Senat vorgelegen haben und auszugsweise zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 12. Juni 1997 und der Beratung des Senats gemacht worden sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden sowie an sich statthaft (§ 151 in Verbindung mit §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – (SGG) –).
Die Berufung ist sachlich jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht Frankfurt am Main hat durch Urteil vom 13. Januar 1995 den Bescheid des Beklagten vom 11. Januar 1993 und den Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 1993 zu Recht aufgehoben, weil diese Verwaltungsentscheidungen wegen fehlerhafter Ermessensausübung rechtswidrig sind und den Kläger beschweren (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Nach § 45 Abs. 1 SGB X nämlich "darf” ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den dort genannten weiteren Voraussetzungen ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Aus dieser Formulierung ergibt sich, daß die Verwaltung nicht schlechthin verpflichtet ist, jeden rechtswidrigen Verwaltungsakt zurückzunehmen. Selbst wenn die Voraussetzungen der Abs. 2–4 von § 45 SGB X gegeben sind und insoweit eine Rücknahme grundsätzlich in Betracht kommt, steht es im Ermessen der Verwaltung, von einer Rücknahme abzusehen (BSG, Urteil vom 18. August 1983 – 11 RZ/Lw 11/82 = SozR 2-1300 § 52 Nr. 3; Urteil vom 25. Oktober 1984 – 11 RA 24/84 SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 12; Urteil vom 14. November 1985 – 7 RAr 123/84 = SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 19; Urteil vom 28. November 1994 – 10 RKg 15/94 –; Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93 –; vgl. auch Kasseler Kommentar – Steinwedel § 45 SGB X Rdnr. 52; Hauck/Haines a.a.O., K § 45 SGB X Rdz. 16; Grüner, a.a.O., § 45 Erläuterungen III. 7). Nur bei ganz wenigen, eingeschränkten Fallkonstellationen kann davon ausgegangen werden, daß das Ermessen zur Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes derart auf "Null” reduziert ist, daß die Verwaltung nur diese und keine andere Entscheidung treffen kann und darf. So wird allgemein anerkannt, daß bei vorsätzlicher, betrügerischer Leistungserschleichung auf jeden Fall eine Rücknahme des begünstigenden Verwaltungsaktes erfolgen muß. Bereits für den Fall fahrlässiger Bösgläubigkeit im Hinblick auf wesentliche für den Erlaß des rechtswidrigen Bescheides maßgeblichen Tatsachen (Abs. 2 Nrn. 2 und 3 von § 45 SGB X) wird in der neueren Rechtsprechung des BSG teilweise eine Ermessensreduzierung auf "Null” vertreten, teilweise aber auch nicht (vgl. BSG, SozR 3-1300 § 50 Nr. 16 einerseits und andererseits BSG, Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93).
Für den Bereich der Kriegsopferversorgung wird in der Rechtsprechung des 9. (9/9 a)-Senates des BSG – wie dies vom Beklagten zutreffend ausgeführt worden ist – die Auffassung vertreten, daß "in den üblichen Fällen” eine Ermessensreduzierung auf "Null” eintritt und damit weitere Erwägungen der Verwaltung bei der Ausübung des Ermessens weder erforderlich sind noch dargelegt werden müssen (BSG, Urteil vom 25. Juni 1986 – 9a RVg 2/94 – = BSGE 60, 147 ff.). Begründet wird diese einschränkende Interpretation des § 45 SGB X unter Bezugnahme auf Formulierungen im Rücknahmetatbestand der früher geltenden §§ 40, 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes zum Kriegsopferrecht (KOVVfG). Diese Begründung hält der erkennende Senat jedoch nicht mehr für überzeugend, weil das SGB X sämtliche Verfahrensvorschriften der Sozialleistungsbereiche, für die es gilt, abgelöst hat und deshalb auch die Vorschriften des KOVVfG nicht mehr Anwendung finden. Die Regelungen des SGB X hatten die Vereinheitlichung des Verfahrensrechts und der für ein rechtsstaatliches Verfahren geltenden Maßstäbe im gesamten Sozialrecht zum Ziel. Besondere Regelungen und "bereichsspezifische” Interpretationen für Teile des Sozialleistungsrechts können deshalb nur gelten, wenn sie auch aus den seit Erlaß des SGB X ergangenen und heute geltenden Vorschriften herzuleiten sind. So hat z.B. der parlamentarische Gesetzgeber für den Bereich der Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit und das Arbeitsförderungsrecht mit der am 1. Januar 1994 in Kraft getretenen Neufassung des § 152 Abs. 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) klargestellt, daß das der Verwaltung durch § 45 SGB X eingeräumte Ermessen in besonders gelagerten Fällen ausdrücklich eingeschränkt werden sollte. Der grundsätzliche Vorrang der Regelungen des SGB X und ihre einheitliche Interpretation sind auch im sozialen Entschädigungsrecht zu beachten. Normen, die nach Inkrafttreten des SGB X Geltung erlangt haben und die eine Einschränkung der Notwendigkeit zur Ermessensausübung für die Versorgungsverwaltung begründen könnten, sind weder in der zitierten Rechtsprechung des 9/9 a-Senates des BSG angeführt noch vom Beklagten benannt worden; auch der erkennende Senat vermag solche nicht zu erkennen und/oder zu benennen. Der Senat verkennt dabei nicht, daß in den Regelfällen, wie sie in § 45 Abs. 2 SGB X normiert sind, es der Verwaltung schwer fallen wird, weitere Gesichtspunkte bei der Ermessensprüfung zu benennen, die nicht schon bereits bei der Prüfung des Vertrauenstatbestandes Erwähnung gefunden haben (vgl. hierzu Haus, SGb 1987, S. 190 ff.). Die gesetzliche Regelung schließt es jedoch nicht aus, bei der Ermessensausübung wieder auf die Gesichtspunkte zurückzugreifen, die bereits zur Versagung des Vertrauensschutzes geführt haben (Kasseler Kommentar – Steinwedel, a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53 unter Bezugnahme auf BSGE 59, 157 ff., 169 f.). Die bislang – soweit erkennbar – vom 9/9 a-Senat des BSG noch ausdrücklich vertretene Auffassung zur Reduzierung des den Verwaltungsbehörden eingeräumten Ermessens auf "Null”, kann der erkennende Senat, wie schon bisher, nicht zur Grundlage seiner Entscheidungen machen (vgl. HLSG, Urteile vom 17. Januar 1991 – L-5/V-747/87 und vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-124/94 – und – 343/95).
Jedenfalls für den vorliegenden Fall geht der Senat davon aus, daß es sich nicht um einen solchen Regelfall handelt, bei dem die Verwaltung des Beklagten auf jegliche Ermessenserwägungen verzichten konnte und auch nicht um einen Fall, bei dem es für die erforderliche Ermessensausübung ausreichend war, lediglich mit floskelhaften allgemeinen Ausführungen, die jegliches Eingehen auf die besonderen Umstände des Klägers vermissen ließen, von dem eingeräumten Ermessen Gebrauch zu machen. Insoweit handelt es sich um den Fall des Ermessensfehlgebrauchs durch "Ermessensunterschreitung” (Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 5. Aufl., § 54 Rdnrn. 25, 30). Von Ermessensunterschreitung wird gesprochen, wenn die Behörde den ihr eingeräumten Spielraum irrtümlich zu eng einschätzt oder wenn sie grob gegen Anforderungen, die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellen sind, verstößt (Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr. 30).
Der Senat sieht vorliegend Umstände gegeben, die eine sorgfältige und differenzierte Ermittlung erforderlich machten und – nachfolgend – eine ebensolche Ermessensausübung unerläßlich erscheinen lassen. Der Kläger lebte zum Zeitpunkt der Entscheidung in Slowenien, einem Teil der ehemaligen SFRJ, der nach der Auflösung der SFRJ kurz vor dem Bürgerkrieg stand. In den übrigen Landesteilen herrschte Krieg, bei dem es zu teilweise völkerrechtswidrigen und außerordentlich grausam geführten Maßnahmen der Kriegsparteien kam. Zwar war Slowenien – relativ – am wenigsten von diesen kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen, doch hat der Kläger geltend gemacht, daß seine wirtschaftliche Existenz von Leistungen nach dem BVG – auch wenn sie rechtswidrig bewilligt sein sollten – abhänge und andernfalls aufs äußerste gespannt wäre. Soweit man nicht allein die Tatsache, daß der Kläger zum zweiten Mal in seinem Leben – wenn auch nur entfernt – von kriegerischen Ereignissen beeinträchtigt worden war, für ausreichend hält, um zusätzliche weitere Ermessenserwägungen zu fordern, so ist der Beklagte jedoch in keiner Weise erkennbar dem Vorbringen des Klägers weiter nachgegangen, daß der vollständige Entzug der seit Erlaß des Bescheides im Jahre 1991 bewilligten Leistung für ihn eine besondere Härte bedeuten würde und zur Verarmung des Klägers und seiner Familie führen müßte. Auch hat der Beklagte nicht gesondert und besonders berücksichtigt, daß der Kläger als Blinder des besonderen Schutzes und der besonderen Unterstützung bedarf, obwohl der Kläger ausdrücklich darauf hingewiesen hat. Insoweit erweisen sich die von dem Beklagten angestellten Ermessenserwägungen zur Überzeugung des Senates als rechtlich nicht haltbar, weil der Beklagte Härtegesichtspunkte nicht weiter aufgeklärt hat und deshalb von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch machen konnte. Zwar steht es der Behörde in den Grenzen ihres Ermessens in der Regel frei, auf welche Umstände sie abstellen will (vgl. BSG in SozR 3-1300 § 45 SGB X Nrn. 2 und 5). Ermessen ist dann von den Gerichten allein daraufhin zu überprüfen, ob von der Verwaltung bei ihrer Entscheidung alle wesentlichen Umstände berücksichtigt worden sind (BSG, Beschluss vom 10. August 1993 – 9 BV 4/93, Kasseler Kommentar, Steinwedel a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53). Um die Ermessensentscheidung überhaupt einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich zu machen, sieht aber § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X vor, daß bei einem Verwaltungsakt, der nach pflichtgemäßem Ermessen ergeht, die wesentlichen Gesichtspunkte schriftlich mitgeteilt werden müssen, von denen die Verwaltungsbehörde bei ihrer Entscheidung ausgegangen ist. Dabei können Billigkeitsgesichtspunkte (BSG in SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 34), die wirtschaftlichen Folgen für den Betroffenen (BSGE 59, S. 157 ff.) und – nicht zuletzt – das Verschulden des Leistungsträgers ebenso wie das Verschulden des Leistungsempfängers (BSG, SozR 3-1300 a.a.O. Nr. 2) berücksichtigt werden. Auf jeden Fall aber sind die sog. besonderen Härtetatbestände mit einzubeziehen, wie etwa ein hohes Alter und das psychische Befinden (Frehse, VersorgB 1987, S. 31 ff.), die familiäre Situation, unverschuldete Notlagen oder schwere Krankheiten und auch solche besonderen Umstände, die es allgemein rechtfertigen, von einer besonderen Härte auszugehen. Das Vorliegen solcher Härtegesichtspunkte hat die Verwaltung im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 20 SGB X von Amts wegen zu prüfen (vgl. z.B. Grüner a.a.O., § 45 SGB X, Erl. III/7.). Ermessensentscheidungen – insbesondere dann, wenn Anlaß für die Einbeziehung von Härtegesichtspunkten besteht – sind dann als individuelle Einzelfallentscheidungen zu treffen, die auf jede Besonderheit abstellen und versuchen müssen, ihr gerecht zu werden. Leerformeln in einem Verwaltungsakt, die inhaltlich nichts aussagen, reichen für die Darlegung der maßgeblichen Ermessensgesichtspunkte nicht aus (BSGE 59, 157 ff.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen, die sich der Senat zu eigen macht, kommt der Senat zu dem Ergebnis, daß der Beklagte von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht pflichtgemäß Gebrauch gemacht hat. In dem angefochtenen Bescheid vom 11. Januar 1993 heißt es lediglich: "Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung wurde Ihre persönliche Situation gewürdigt. Die niedrigere Höhe der Versorgung Ihres Heimatstaates kann nicht zu einer Ermessensausübung zu Ihren Gunsten führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß haben. Eine Ermessensausübung zu Ihren Gunsten kommt daher nicht in Betracht.” Mit diesen Ausführungen hat der Beklagte jedoch gerade nicht auf den Einzelfall Bezug genommen und ist nicht auf die besondere Situation des Klägers eingegangen. Er hat nur auf alle ähnlichen bzw. vergleichbaren Fälle von denjenigen Leistungsempfängern verwiesen, bei denen eine äußerst geringfügige Versorgungsleistung vom Heimatstaat gewährt wird. Die Ausführungen im Bescheid vom 11. Januar 1993 lassen nicht erkennen, inwieweit eine individuelle Ermessensentscheidung getroffen worden ist. Auch im Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 1993, in dem der Beklagte eine Ermessensentscheidung noch hätte nachholen können, wird lediglich ausgeführt: "Es ist ferner geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden kann. Es ist bekannt, daß Sie schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sind und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Diese Umstände treffen bei Sozialleistungen vielfach zu und können bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt wird, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen”. Auch hierin liegt zur Überzeugung des erkennenden Senates lediglich ein standardisierter, leerformelartiger Text vor, der in keinem Fall geeignet war und ist, auf die jeweils besondere Lebenslage der in den Teilstaaten der ehemaligen SFRJ, in denen Krieg herrschte, lebenden Leistungsempfänger einzugehen und das besondere Schicksal eines im Kindesalter Erblindeten zu würdigen. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main deshalb darauf hingewiesen, daß praktisch dieselbe Formulierung in allen 100 beim Sozialgericht anhängigen Klageverfahren und in insgesamt rund 300 Verwaltungsverfahren benutzt worden ist. Dies ist, wie das Sozialgericht zur Überzeugung des Senates zutreffend ausgeführt hat, gerade ein entscheidender Hinweis darauf, daß keine individuellen Gesichtspunkte berücksichtigt worden sind und auch nicht geprüft werden sollten. Zwar ist für den Bereich einer Massenverwaltung dem Beklagten gegenüber einzuräumen, daß er ohne die Verwendung von Textbausteinen heute nicht mehr würde arbeiten können. Dies steht einer sorgfältigen und auf den Einzelfall bezogenen Ermessenserwägung aber auch nicht entgegen. Neben der Verwendung von standardisierten Texten enthalten heutige Textverarbeitungssysteme ausreichende Möglichkeiten, um ergänzende Textteile einzufügen, in denen alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt, gewürdigt und in die Begründung des Bescheides miteinbezogen werden können. Der Kläger war – wenn er auch nicht unmittelbar im Kampfgebiet wohnte – zum zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen in seiner Heimat betroffen. Er hat sich ausdrücklich darauf berufen, daß er zur Sicherung des Lebensunterhaltes für sich und seine Familie auf die seit der Erteilung des Anerkennungsbescheides im Jahre 1991 zufließenden Versorgungsleistungen angewiesen ist. Insoweit ist nicht auszuschließen, daß der Kläger, der trotz der bereits im Kindesalter erlittenen Verletzung und Erblindung einen Beruf erlernt und ausgeübt hat, nunmehr trotz dieser Tätigkeit in große Not geraten könnte. Ein solcher Umstand hätte zumindest geeignet sein können, eine Ermessensentscheidung auch dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Der Senat kann dahinstehen lassen, ob eine solche Entscheidung richtig gewesen wäre und hätte ergehen können und dürfen. Auf jeden Fall hat der Beklagte schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt noch bei seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in die Begründung des Bescheides und des Widerspruchsbescheides aufgenommen hat.
Gerade weil sich der Beklagte darauf beruft, daß auch bei Berücksichtigung der zur Überzeugung des Senats zu diskutierenden Härtegesichtspunkte kein Verzicht auf die Rücknahme hätte erfolgen können, wird zur Überzeugung des Senates deutlich, daß ein Verwaltungsverfahren mit sorgfältiger Abwägung aller Gesichtspunkte eben gerade nicht stattgefunden hat und auch nicht hat stattfinden sollen. Nach übereinstimmender Auffassung in der Rechtsprechung aber kann im Klage- und Berufungsverfahren bezüglich des angegriffenen Rücknahmebescheides und des Widerspruchsbescheides die Ermessensausübung durch den Beklagten nicht mehr nachgeholt werden. Zu Recht hat deshalb das Sozialgericht Frankfurt am Main die angegriffenen Bescheide aufgehoben. Aus denselben Gesichtspunkten war auch die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision mußte zugelassen werden, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
Rechtskraft
Aus
Login
HES
Saved