Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 631/78
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 3. April 1978 aufgehoben und der Beklagte unter Aufhebung seines Bescheides vom 8. Juli 1975 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 1976 verurteilt, der Klägerin Beschädigtenrente nach einer MdE um 25 v.H. wegen des als Schädigungsfolge anzuerkennenden "erlebnisbedingten Persönlichkeitswandels” seit Antragstellung zu gewähren.
II. Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die 1911 geborene Klägerin beantragte am 16. September 1974 erneut – ein entsprechender Antrag aus dem Jahre 1952 war mit Bescheid vom 7. April 1959 rechtsverbindlich abgelehnt worden – die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Zur Begründung ihres Antrages führte sie u.a. aus, daß sie als Heimatvertriebene aus O. nach ihrer Flucht 1945 sehr schwer krank gewesen sei und fünf Jahre lang keiner Erwerbstätigkeit habe nachgehen können. Als Folge der damaligen Erkrankung, die sich ärztlicherseits als Enzephalitis herausgestellt habe, sei eine Erkrankung des zentralen Nervensystems zurückgeblieben, worunter sie derzeit leide. In der Verhandlungsniederschrift des Beklagten vom 17. Februar 1975 schilderte sie im einzelnen die Erlebnisse während ihrer Flucht aus O. 1945 und die dabei durchgemachten Strapazen. Auf Veranlassung des Beklagte erstellte der Nervenfacharzt Prof. Dr. med. W.-J. E. am 30. April 1975 ein fachärztliches Gutachten, in dem er ausführte, daß sich bei der Klägerin weder ein Zustandsbild, wie man es nach schweren Vertreibungsschäden oder nach besonderen langanhaltenden psychischen Belastungen kenne, noch Hinweise auf organische Schäden des zentralen Nervensystems fänden. Es bestünden keine Ausfälle auf mnestischem Gebiet, wie sich auch keine Störung des Konzentrationsvermögens zeige. Lediglich eine erhebliche psychische Labilität und mangelhafte Durchsetzungsfähigkeit würden deutlich. Dabei handele es sich erfahrungsgemäß um einen Zustand, der angeboren sei und nicht nach besonderen durchgemachten Strapazen aufzutreten pflege. Nichts spreche dafür, daß die Klägerin eine Enzephalitis durchgemacht habe. Mit Bescheid vom 8. Juli 1975 lehnte der Beklagte hierauf den Antrag der Klägerin ab. In den Gründen wiederholte er im wesentlichen das Ergebnis der Begutachtung von Prof. Dr. W.-J. E. und führte darüber hinaus aus, daß die bei der Klägerin vorliegende psychische Labilität auf körpereigenen Ursachen beruhe und mit den durchgemachten Strapazen in keinem ursächlichen Zusammenhang stehe. Für eine durchgemachte Enzephalitis habe sich kein Anhalt ergeben. Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin am 25. Juli 1975 Widerspruch. Der Widerspruch wurde jedoch von dem Beklagten nach Auswertung der ärztlichen Bescheinigungen von Dr. med. A. G., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, vom 12. November 1975 und Dr. med. E. B., Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, vom 1. Dezember 1975 mit Widerspruchsbescheid vom 27. Januar 1976 zurückgewiesen.
Im wesentlichen macht der Beklagte geltend, es habe sich bei der Klägerin weder ein Zustandsbild, wie man es nach schweren Vertreibungsschäden und nach besonderen, langanhaltenden psychischen Belastungen kenne, gefunden, noch habe ein Hinweis auf organische Schäden des Zentralnervensystems sowie eine Störung des Konzentrationsvermögens gefunden werden können. Dies gelte auch für die angeblich überstandene Enzephalitis.
In dem Klageverfahren vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main wiederholte die Klägerin im wesentlichen die schon im Vorverfahren gemachten Ausführungen und benannte zur Bestätigung ihrer Angaben die sie behandelnden Fachärzte. Von dem erstinstanzlichen Gericht wurden hierauf Befundberichte angefordert von Dr. med. G. P., Facharzt für Nervenleiden, Prof. Dr. med. D. Neurologische Universitätsklinik B. und dem Chefarzt der Neurologischen Abteilung der D. K. für D., Dr. med. A. S. Nach Auswertung der Stellungnahmen gelangte der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie der Beklagten, Dr. med. H., in seiner aktenmäßigen nervenfachärztlichen Äußerung vom 30. Juni 1976 zu dem Ergebnis, daß zwar erlebnisreaktive depressive Entwicklungen bzw. erlebnisbedingte Persönlichkeitswandlungen nach dem Kriege im Anschluß an langdauernde und schwerste Erschütterungen der Daseinssicherheit (z.B. extreme Lebensbedingungen in Gefangenschaft) beobachtet worden seien, ebenso im Anschluß an langjährige KZ-Haft mit permanenter Lebensbedrohung. Die in dem Gutachten von Prof. Dr. E. niedergelegten Angaben der Klägerin ließen jedoch ebensowenig wie ihre in der Verhandlungsniederschrift vom 17. Februar 1975 gemachten Angaben auf eine langdauernde oder schwerste Erschütterung der Daseinssicherheit schließen, wie sie für die Anerkennung eines erlebnisbedingten Persönlichkeitswandels oder einer chronifizierten erlebnisbedingten Depression erforderlich seien. Die vorgelegten Befundberichte seien nicht geeignet, die Auffassung von Prof. Dr. E. stichhaltig zu erschüttern. Durch Beweisbeschluß vom 3. August 1976 beauftragte das Sozialgericht daraufhin den Chefarzt der Psychiatrischen Abteilung der D. K. für D. mit der Erstellung eines Gutachtens von Amts wegen u.a. dahingehend, welcher Krankheitsbefund bei der Klägerin im psychischen Bereich vorliege, und ob dieser mit Wahrscheinlichkeit ursächlich auf schädigende Einwirkungen der Kriegs- oder Vertreibungszeit zurückzuführen sei.
In seinem nervenfachärztlichen Gutachten vom 5. Juni 1977 stellte Dr. med. A. S. die Diagnose: "Depressive Entwicklung” und führte zusammenfassend aus, daß mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein gewisser Zusammenhang mit Einwirkungen der Kriegs- oder Vertreibungszeit anzunehmen sei. Erstsymptome seien wahrscheinlich in den ersten Nachkriegsjahren aufgetreten. Sie seien belegt durch einen Arztbericht von Dr. Neppes für das Jahr 1950. Mit dem Begriff der überwiegenden Wahrscheinlichkeit sei gemeint, daß mehr Gründe für einen partiellen Zusammenhang als dagegen sprächen. Faktoren der Erlebnisse von 1945 ließen sich jetzt nicht mehr genau gegenüber Faktoren des Verteibungsschicksals mit Verlust der Heimat abgrenzen. Man werde in der zahlenmäßigen Bewertung auch berücksichtigen müssen, daß Faktoren der Persönlichkeit, also unabhängig von den genannten, eine Rolle in der Bewältigung des Lebensschicksals spielten. Demgegenüber macht der Versorgungsarzt Dr. med. A. H. in seiner aktenmäßigen nervenfachärztlichen Äußerung vom 29. Juli 1977 geltend, daß das Gutachten der D. K. für D. das Vorliegen einer chronifizierten depressiven Entwicklung als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) nicht überzeugend begründet habe. Das bei der Klägerin bestehende derzeitige Zustandsbild sei ganz überwiegend verursacht durch die Nichtbewältigung des Vertreibungsschicksals, bzw. des Verlustes der ostpreußischen Heimat. Dies beruhe jedoch auf konstitutionellen Faktoren und nicht auf Einwirkungen des Krieges bzw. von Fluchterlebnissen. Von dem erstinstanzlichen Gericht wurden hierauf noch die ärztlichen Unterlagen von Dr. med. R., T.klinik F. Neurologische Abteilung, beigezogen.
Mit Urteil vom 3. April 1978 wies das Sozialgericht Frankfurt am Main die Klage ab. In den Entscheidungsgründen verneinte es den ursächlicher Zusammenhang zwischen der bestehenden Gesundheitsstörung und den schädigenden Ereignissen, wie er in § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG gefordert werde. Das erstinstanzliche Gericht ging dabei davon aus, daß das von Amts wegen eingeholte nervenfachärztliche Gutachten von Dr. med. A. S. vom 14. Juni 1977 nicht geeignet gewesen sei, das am 30. April 1975 erstattete Gutachten des Nervenfacharztes Prof. Dr. E. zu widerlegen. Von den drei von Dr. S. genannten Faktoren "Erlebnis der Schreckensszenen während der Flucht”, "Persönliche Bedrohung durch den russischen Offizier” und "Verlust der Heimat” seien nur die Ereignisse nach der Evakuierung auf der Flucht vor der russischen Armee versorgungsrechtlich geschützt. Nicht geschützt seien die Flucht vor der russischen Armee sowie der Verlust der Heimat. Das Sozialgericht ging deshalb davon aus, daß der versorgungsrechtlich geschützte Faktor im Vergleich mit den anderen Faktoren nicht als annähernd gleichwertige Bedingung für das heutige Beschwerdebild der Klägerin angesehen werden könne.
Gegen dieses ihr am 24. Mai 1978 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 15. Juni 1978 Berufung eingelegt. Im wesentlichen macht sie geltend, daß die Feststellungen des Gerichts im Gegensatz zu dem Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. A. S., D. K. für D., stünden. Zwar meine dieser, daß Faktoren der Persönlichkeit und Faktoren des allgemeinen Vertreibungsschicksals mit Verlust der Heimat nicht außer Acht gelassen werden dürften, da sie sich auch von den Faktoren der Erlebnisse von 1945 nicht genau abgrenzen ließen. Der Sachverständige sei jedoch zu dem Ergebnis gekommen, daß eine schadigungsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 25 v.H. als wahrscheinlich festzustellen sei. Damit habe er eindeutig bestätigt, daß der versorgungsrechtlich geschützte Faktor eine wesentliche Ursache gewesen sei. Die Bemerkung des Gerichts, der versorgungsrechtlich geschützte Faktor könne nicht als annähernd gleichwertige Bedingung für das heutige Beschwerdebild angesehen werden, entspreche nicht dem Gutachten des Sachverständigen.
Auf Antrag der Klägerin gem. § 109 SGG beauftragte der erkennende Senat durch Beweisanordnung vom 3. Juli 1979 den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. med. P. D. mit der Erstellung eines weiteren Gutachtens. In seinem nervenfachärztlichen Gutachten vom 19. März 1980 legt Prof. Dr. D. zusammenfassend dar, daß bei der Klägerin ein erlebnisbedingter Persönlichkeitswandel i.S. einer chronifizierten depressiven Entwicklung vorliege, der durch die Primärpersönlichkeit, durch die Ereignisse auf der Flucht und durch die Vertreibung aus der Heimat verursacht worden sei. Welcher dieser drei Faktoren das heutige Beschwerdebild maßgeblich verursacht habe, lasse sich nach nunmehr 35 Jahren mit Sicherheit nicht mehr feststellen. Sicherlich spielte ihre Unfähigkeit, sich in der neuen Heimat einzugewöhnen, i.S. der Entwurzelung eine große Rolle und unterhalte die depressive Symptomatik bis heute. Erlebnisse während der Flucht vor der russischen Armee hätten zweifellos seinerzeit zur Auslösung des Zustandsbildes beigetragen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 3. April 1978 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 8. Juli 1975 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 1976 zu verurteilen, ihr Beschädigtenrente nach einer MdE um 25 v.H. wegen des als Schädigungsfolge anzuerkennenden "erlebnisbedingten Persönlichkeitswandels” seit Antragstellung zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und meint, das Gutachten von Prof. Dr. D. vom 19. März 1980 verneine, wie die Vorgutachten, daß allein die Erlebnisse während der Flucht die wesentliche Bedingung für die chronifizierte depressive Entwicklung gewesen seien.
Auf den weiteren Inhalt der Gerichts- und Versorgungsakten, welcher zum Gegenstand der Entscheidung gemacht wurde, wird im einzelnen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig; sie ist insbesondere frist- und formgerecht eingelegt worden (§§ 143, 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –). Sie ist auch begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 8. Juli 1975, der in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. August 1974 Gegenstand der Klage geworden ist (§ 95 SGG), ist zu Unrecht ergangen. Der Klägerin steht Beschädigtenversorgung nach § 1 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zu. Danach erhält, wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine Gesundheitsschädigung, erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und, wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung. Nach § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG steht einer Schädigung dieser Art auch die gleich, die durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung herbeigeführt worden ist. Nach § 5 Abs. 1 Buchst. a, b und c BVG gelten als unmittelbare Kriegseinwirkungen i.S. des § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG, wenn sie im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege stehen,
"Kampfhandlungen und damit unmittelbar zusammenhängende direkte Maßnahmen, insbesondere die Einwirkungen von Kampfmitteln, jegliche Maßnahmen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Kampfhandlungen oder ihrer Vorbereitung, mit Ausnahme der allgemeinen Verdunkelungsmaßnahmen, und Einwirkungen, denen der Beschädigte durch die besonderen Umstände der Flucht vor einer aus kriegerischen Vorgängen unmittelbar drohenden Gefahr an Leib und Leben ausgesetzt war”.
Unbestritten steht fest, daß die Klägerin diese Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt. Denn sie wurde bei ihrer Flucht aus O. mit ihrem Treck in eine Auseinandersetzung mit Partisanen verwickelt und geriet am 22. März 1945 mit dem Treck in die Frontlinie. Bei der Flucht handele es sich auch um eine behördlich angeordnete Evakuierungsmaßnahme, bei der die Klägerin während des Umherirrens eine gegen die Persönlichkeit gehende Bedrohung durch einen russischen Offizier erfuhr.
Aufgrund der ausführlichen medizinischen Diskussion mußte von dem erkennenden Senat auch bejaht werden, daß die von dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie der D. K. für D. Dr. med. A. S., in seinem Gutachten vom 14. Juni 1977 gestellte Diagnose: "Depressive Entwicklung” Schädigungsfolge i.S. des § 1 Abs. 3 BVG ist. Nach dieser Vorschrift gehört zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges. Dieser war zur Überzeugung des erkennenden Senats aufgrund der ärztlichen Diskussion zur Frage der Kausalität zu bejahen. So hat Dr. med. A. S. in seinem nervenfachärztlichen Gutachten zu der Frage, ob und inwieweit Faktoren der Erlebnisse 1945 auf dem Treck in O. und der anschließenden Zeit der Vertreibung aus der Heimat Ursache der jetzt noch bei der Klägerin festzustellenden depressiven Entwicklung seien, u.a. ausgeführt, daß die bei der Klägerin festgestellte depressive Entwicklung, die sich begrifflich im wesentlichen mit dem im Kriegsopferrecht verwandten Begriff "erlebnisreaktive chronifizierte Depression” decke, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in gewissem Zusammenhang mit Einflüssen der Kriegs- oder Vertreibungszeit stehe. Erstsymptome seien wahrscheinlich in den ersten Nachkriegsjahren aufgetreten. Für das Jahr 1950 würden sie belegt durch den Arztbericht von Dr. med. N. Den Begriff der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erläuterte der Gutachter dahingehend, daß bei der Klägerin mehr Gründe für einen partiellen Zusammenhang der Einflüsse der Kriegs- oder Vertreibungszeit mit der "erlebnisreaktiven chronifizierten Depression” sprächen als dagegen. Er meint zwar auch, daß sich die Faktoren der Erlebnisse von 1945 nicht mehr genau gegenüber Faktoren des Vertreibungsschicksals mit Verlust der Heimat abgrenzen ließen. Auch müßten in der zahlenmäßigen Bewertung Faktoren der Persönlichkeit, die von den erstgenannten Faktoren unabhängig seien, berücksichtigt werden. Dennoch gelangte er in seiner Gesamtbeurteilung zu einer schädigungsbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) der Klägerin von 25 v.H. und bejahte damit die Kausalität i.S. des § 1 Abs. 1 BVG. Nicht folgen konnte der Senat in diesem Zusammenhang den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils, das die Kausalität verneinte. Es trifft zwar zu, daß die Ursächlichkeit i.S. der genannten Vorschrift nur gegeben ist, sofern die versorgungsrechtlich geschützte Bedingung wesentlich, d.h. annähernd gleichwertige Ursache neben anderen Ursachen, gewesen ist. Auch sind von den Faktoren, die der Sachverständige als ursächlich für das heutige Beschwerdebild der Klägerin ansieht, nur die Ereignisse nach der Evakuierung auf der Flucht vor der russischen Armee versorgungsrechtlich geschützt und nicht der sogenannte Persönlichkeitsfaktor. Nicht folgen konnte der erkennende Senat jedoch der Auffassung des erstinstanzlichen Gerichts, daß der versorgungsrechtlich geschützte Faktor im Vergleich mit den anderen Faktoren nicht als annähernd gleichwertige Bedingung für die bei der Klägerin vorliegende erlebnisreaktive chronifizierte Depression anzusehen sei. Denn das Urteil läßt nicht erkennen, warum es die Ereignisse nach der Evakuierung auf der Flucht vor der russischen Armee als weniger gewichtig i.S. der wesentlichen Bedingungen nach § 1 Abs. 3 Satz BVG ansieht, als den versorgungsrechtlich nicht geschützten sogenannten Persönlichkeitsfaktor sowie den Verlust der Heimat. So hat Dr. med. A. S. zu dem im biographischen Langsschnittverlauf bei der Klägerin für das Jahr 1945 festgestellten Bruch – die Klägerin war seit dieser Zeit eine chronisch kranke Frau – zwei wesentliche, bis heute wirkende Momente aufgezeigt, nämlich einmal das Erlebnis der Schreckensszenen mit dem Gefühl einer unmittelbaren Bedrohung 1945 auf dem Treck und in der Folgezeit, zum anderen den auch heute von der Klägerin noch sehr deutlich, fast überdeutlich, empfundenen Verlust ihrer Heimat. Der Gutachter hat dabei zur Überzeugung des Senats zwischen den beiden genannten Momenten keine Abstufung vorgenommen. Er hat vielmehr unter Hinweis auf mittlerweile vorliegende systematische Untersuchungen an früheren Verfolgten des Dritten Reiches ausgeführt, daß sich auch bei Leuten, die eine äußerlich befriedigende Existenz führten und nie einen Entschädigungsantrag gestellt hätten, in einem bei entsprechenden gezielten Untersuchungen ganz hohen Prozentsatz noch psychische Restfolgen der Verfolgung nachweisen ließen. Mit dem Gutachter ist der erkennende Senat der Auffassung, daß fehlende entsprechende systematische Untersuchungen bei deutschstammigen Vertriebenen der Klägerin nicht zum Nachteil gereichen dürfen. Die Ereignisse nach der Evakuierung, die Schreckensszenen auf der Flucht, insbesondere aber die eine ganze Nacht unter Lebensbedrohung andauernde Mißhandlung durch den russischen Offizier – dieser ließ erst gegen Morgen von der Klägerin ab – sind zur Überzeugung des Senats eine "wesentliche Bedingung” für die noch heute bei der Klägerin bestehende chronifizierte depressive Entwicklung. Nicht folgen konnte der Senat in diesem Zusammenhang deshalb den gutachterlichen Ausführungen des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. A. H. vom 29. Juli 1977, der, unter Bestätigung des Gutachtens des Nervenarztes Prof. Dr. W.-J. E. vom 30. April 1975, davon ausgeht, daß das bei der Klägerin bestehende derzeitige Zustandsbild ganz überwiegend verursacht worden sei durch die Nichtbewältigung des Vertreibungsschicksals bzw. des Verlustes der o Heimat, was auf konstitutionellen Faktoren beruhe und nicht auf Einwirkungen des Krieges bzw. Fluchterlebnisse zurückzuführen sei.
Auch das nervenfachärztliche Gutachten von Prof. Dr. med. P. D. vom 19. April 1980, das in Zusammenarbeit mit der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Frau D. K. erstellt wurde, war nicht dazu angetan, die Frage der versorgungsrechtlichen Kausalität zwischen dem derzeitigen Beschwerdebild der Klägerin und den unmittelbar erlebten Kriegseinwirkungen zu verneinen. So stellten die Gutachter zwar zusammenfassend fest, daß bei der Klägerin ein erlebnisbedingter Persönlichkeitswandel i.S. einer chronifizierten depressiven Entwicklung vorliege, der durch die Primärpersönlichkeit, durch die Ereignisse auf der Flucht und durch die Vertreibung aus der Heimat verursacht werde. Die Gutachter sahen sich jedoch nicht in der Lage festzustellen, welcher dieser drei Faktoren das heutige Beschwerdebild maßgeblich verursacht hat. Wenn auch ausgeführt wird, daß die Fluchterlebnisse allein heute nicht mehr von entscheidender Bedeutung seien, so weist diese Feststellung doch darauf hin, daß den Fluchterlebnissen auch heute noch eine entscheidende Bedeutung zukommt. Zur Überzeugung des erkennenden Senates wird durch das Ergebnis dieses Gutachtens nicht widerlegt, daß die bei der Klägerin vorliegende chronifizierte depressive Entwicklung ursächlich i.S. des im Versorgungsrecht bei der Prüfung der Kausalität anzuwendenden Begriffes der "wesentlichen Bedingung” auf die unmittelbaren Kriegseinwirkungen während der Flucht zurückzuführen ist und damit die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 a in Verbindung mit Abs. 3 BVG erfüllt sind.
Der Berufung war daher stattzugeben.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG kam nach Lage des Falles nicht in Betracht.
II. Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die 1911 geborene Klägerin beantragte am 16. September 1974 erneut – ein entsprechender Antrag aus dem Jahre 1952 war mit Bescheid vom 7. April 1959 rechtsverbindlich abgelehnt worden – die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Zur Begründung ihres Antrages führte sie u.a. aus, daß sie als Heimatvertriebene aus O. nach ihrer Flucht 1945 sehr schwer krank gewesen sei und fünf Jahre lang keiner Erwerbstätigkeit habe nachgehen können. Als Folge der damaligen Erkrankung, die sich ärztlicherseits als Enzephalitis herausgestellt habe, sei eine Erkrankung des zentralen Nervensystems zurückgeblieben, worunter sie derzeit leide. In der Verhandlungsniederschrift des Beklagten vom 17. Februar 1975 schilderte sie im einzelnen die Erlebnisse während ihrer Flucht aus O. 1945 und die dabei durchgemachten Strapazen. Auf Veranlassung des Beklagte erstellte der Nervenfacharzt Prof. Dr. med. W.-J. E. am 30. April 1975 ein fachärztliches Gutachten, in dem er ausführte, daß sich bei der Klägerin weder ein Zustandsbild, wie man es nach schweren Vertreibungsschäden oder nach besonderen langanhaltenden psychischen Belastungen kenne, noch Hinweise auf organische Schäden des zentralen Nervensystems fänden. Es bestünden keine Ausfälle auf mnestischem Gebiet, wie sich auch keine Störung des Konzentrationsvermögens zeige. Lediglich eine erhebliche psychische Labilität und mangelhafte Durchsetzungsfähigkeit würden deutlich. Dabei handele es sich erfahrungsgemäß um einen Zustand, der angeboren sei und nicht nach besonderen durchgemachten Strapazen aufzutreten pflege. Nichts spreche dafür, daß die Klägerin eine Enzephalitis durchgemacht habe. Mit Bescheid vom 8. Juli 1975 lehnte der Beklagte hierauf den Antrag der Klägerin ab. In den Gründen wiederholte er im wesentlichen das Ergebnis der Begutachtung von Prof. Dr. W.-J. E. und führte darüber hinaus aus, daß die bei der Klägerin vorliegende psychische Labilität auf körpereigenen Ursachen beruhe und mit den durchgemachten Strapazen in keinem ursächlichen Zusammenhang stehe. Für eine durchgemachte Enzephalitis habe sich kein Anhalt ergeben. Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin am 25. Juli 1975 Widerspruch. Der Widerspruch wurde jedoch von dem Beklagten nach Auswertung der ärztlichen Bescheinigungen von Dr. med. A. G., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, vom 12. November 1975 und Dr. med. E. B., Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, vom 1. Dezember 1975 mit Widerspruchsbescheid vom 27. Januar 1976 zurückgewiesen.
Im wesentlichen macht der Beklagte geltend, es habe sich bei der Klägerin weder ein Zustandsbild, wie man es nach schweren Vertreibungsschäden und nach besonderen, langanhaltenden psychischen Belastungen kenne, gefunden, noch habe ein Hinweis auf organische Schäden des Zentralnervensystems sowie eine Störung des Konzentrationsvermögens gefunden werden können. Dies gelte auch für die angeblich überstandene Enzephalitis.
In dem Klageverfahren vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main wiederholte die Klägerin im wesentlichen die schon im Vorverfahren gemachten Ausführungen und benannte zur Bestätigung ihrer Angaben die sie behandelnden Fachärzte. Von dem erstinstanzlichen Gericht wurden hierauf Befundberichte angefordert von Dr. med. G. P., Facharzt für Nervenleiden, Prof. Dr. med. D. Neurologische Universitätsklinik B. und dem Chefarzt der Neurologischen Abteilung der D. K. für D., Dr. med. A. S. Nach Auswertung der Stellungnahmen gelangte der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie der Beklagten, Dr. med. H., in seiner aktenmäßigen nervenfachärztlichen Äußerung vom 30. Juni 1976 zu dem Ergebnis, daß zwar erlebnisreaktive depressive Entwicklungen bzw. erlebnisbedingte Persönlichkeitswandlungen nach dem Kriege im Anschluß an langdauernde und schwerste Erschütterungen der Daseinssicherheit (z.B. extreme Lebensbedingungen in Gefangenschaft) beobachtet worden seien, ebenso im Anschluß an langjährige KZ-Haft mit permanenter Lebensbedrohung. Die in dem Gutachten von Prof. Dr. E. niedergelegten Angaben der Klägerin ließen jedoch ebensowenig wie ihre in der Verhandlungsniederschrift vom 17. Februar 1975 gemachten Angaben auf eine langdauernde oder schwerste Erschütterung der Daseinssicherheit schließen, wie sie für die Anerkennung eines erlebnisbedingten Persönlichkeitswandels oder einer chronifizierten erlebnisbedingten Depression erforderlich seien. Die vorgelegten Befundberichte seien nicht geeignet, die Auffassung von Prof. Dr. E. stichhaltig zu erschüttern. Durch Beweisbeschluß vom 3. August 1976 beauftragte das Sozialgericht daraufhin den Chefarzt der Psychiatrischen Abteilung der D. K. für D. mit der Erstellung eines Gutachtens von Amts wegen u.a. dahingehend, welcher Krankheitsbefund bei der Klägerin im psychischen Bereich vorliege, und ob dieser mit Wahrscheinlichkeit ursächlich auf schädigende Einwirkungen der Kriegs- oder Vertreibungszeit zurückzuführen sei.
In seinem nervenfachärztlichen Gutachten vom 5. Juni 1977 stellte Dr. med. A. S. die Diagnose: "Depressive Entwicklung” und führte zusammenfassend aus, daß mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein gewisser Zusammenhang mit Einwirkungen der Kriegs- oder Vertreibungszeit anzunehmen sei. Erstsymptome seien wahrscheinlich in den ersten Nachkriegsjahren aufgetreten. Sie seien belegt durch einen Arztbericht von Dr. Neppes für das Jahr 1950. Mit dem Begriff der überwiegenden Wahrscheinlichkeit sei gemeint, daß mehr Gründe für einen partiellen Zusammenhang als dagegen sprächen. Faktoren der Erlebnisse von 1945 ließen sich jetzt nicht mehr genau gegenüber Faktoren des Verteibungsschicksals mit Verlust der Heimat abgrenzen. Man werde in der zahlenmäßigen Bewertung auch berücksichtigen müssen, daß Faktoren der Persönlichkeit, also unabhängig von den genannten, eine Rolle in der Bewältigung des Lebensschicksals spielten. Demgegenüber macht der Versorgungsarzt Dr. med. A. H. in seiner aktenmäßigen nervenfachärztlichen Äußerung vom 29. Juli 1977 geltend, daß das Gutachten der D. K. für D. das Vorliegen einer chronifizierten depressiven Entwicklung als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) nicht überzeugend begründet habe. Das bei der Klägerin bestehende derzeitige Zustandsbild sei ganz überwiegend verursacht durch die Nichtbewältigung des Vertreibungsschicksals, bzw. des Verlustes der ostpreußischen Heimat. Dies beruhe jedoch auf konstitutionellen Faktoren und nicht auf Einwirkungen des Krieges bzw. von Fluchterlebnissen. Von dem erstinstanzlichen Gericht wurden hierauf noch die ärztlichen Unterlagen von Dr. med. R., T.klinik F. Neurologische Abteilung, beigezogen.
Mit Urteil vom 3. April 1978 wies das Sozialgericht Frankfurt am Main die Klage ab. In den Entscheidungsgründen verneinte es den ursächlicher Zusammenhang zwischen der bestehenden Gesundheitsstörung und den schädigenden Ereignissen, wie er in § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG gefordert werde. Das erstinstanzliche Gericht ging dabei davon aus, daß das von Amts wegen eingeholte nervenfachärztliche Gutachten von Dr. med. A. S. vom 14. Juni 1977 nicht geeignet gewesen sei, das am 30. April 1975 erstattete Gutachten des Nervenfacharztes Prof. Dr. E. zu widerlegen. Von den drei von Dr. S. genannten Faktoren "Erlebnis der Schreckensszenen während der Flucht”, "Persönliche Bedrohung durch den russischen Offizier” und "Verlust der Heimat” seien nur die Ereignisse nach der Evakuierung auf der Flucht vor der russischen Armee versorgungsrechtlich geschützt. Nicht geschützt seien die Flucht vor der russischen Armee sowie der Verlust der Heimat. Das Sozialgericht ging deshalb davon aus, daß der versorgungsrechtlich geschützte Faktor im Vergleich mit den anderen Faktoren nicht als annähernd gleichwertige Bedingung für das heutige Beschwerdebild der Klägerin angesehen werden könne.
Gegen dieses ihr am 24. Mai 1978 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 15. Juni 1978 Berufung eingelegt. Im wesentlichen macht sie geltend, daß die Feststellungen des Gerichts im Gegensatz zu dem Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. A. S., D. K. für D., stünden. Zwar meine dieser, daß Faktoren der Persönlichkeit und Faktoren des allgemeinen Vertreibungsschicksals mit Verlust der Heimat nicht außer Acht gelassen werden dürften, da sie sich auch von den Faktoren der Erlebnisse von 1945 nicht genau abgrenzen ließen. Der Sachverständige sei jedoch zu dem Ergebnis gekommen, daß eine schadigungsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 25 v.H. als wahrscheinlich festzustellen sei. Damit habe er eindeutig bestätigt, daß der versorgungsrechtlich geschützte Faktor eine wesentliche Ursache gewesen sei. Die Bemerkung des Gerichts, der versorgungsrechtlich geschützte Faktor könne nicht als annähernd gleichwertige Bedingung für das heutige Beschwerdebild angesehen werden, entspreche nicht dem Gutachten des Sachverständigen.
Auf Antrag der Klägerin gem. § 109 SGG beauftragte der erkennende Senat durch Beweisanordnung vom 3. Juli 1979 den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. med. P. D. mit der Erstellung eines weiteren Gutachtens. In seinem nervenfachärztlichen Gutachten vom 19. März 1980 legt Prof. Dr. D. zusammenfassend dar, daß bei der Klägerin ein erlebnisbedingter Persönlichkeitswandel i.S. einer chronifizierten depressiven Entwicklung vorliege, der durch die Primärpersönlichkeit, durch die Ereignisse auf der Flucht und durch die Vertreibung aus der Heimat verursacht worden sei. Welcher dieser drei Faktoren das heutige Beschwerdebild maßgeblich verursacht habe, lasse sich nach nunmehr 35 Jahren mit Sicherheit nicht mehr feststellen. Sicherlich spielte ihre Unfähigkeit, sich in der neuen Heimat einzugewöhnen, i.S. der Entwurzelung eine große Rolle und unterhalte die depressive Symptomatik bis heute. Erlebnisse während der Flucht vor der russischen Armee hätten zweifellos seinerzeit zur Auslösung des Zustandsbildes beigetragen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 3. April 1978 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 8. Juli 1975 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 1976 zu verurteilen, ihr Beschädigtenrente nach einer MdE um 25 v.H. wegen des als Schädigungsfolge anzuerkennenden "erlebnisbedingten Persönlichkeitswandels” seit Antragstellung zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und meint, das Gutachten von Prof. Dr. D. vom 19. März 1980 verneine, wie die Vorgutachten, daß allein die Erlebnisse während der Flucht die wesentliche Bedingung für die chronifizierte depressive Entwicklung gewesen seien.
Auf den weiteren Inhalt der Gerichts- und Versorgungsakten, welcher zum Gegenstand der Entscheidung gemacht wurde, wird im einzelnen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig; sie ist insbesondere frist- und formgerecht eingelegt worden (§§ 143, 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –). Sie ist auch begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 8. Juli 1975, der in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. August 1974 Gegenstand der Klage geworden ist (§ 95 SGG), ist zu Unrecht ergangen. Der Klägerin steht Beschädigtenversorgung nach § 1 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zu. Danach erhält, wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine Gesundheitsschädigung, erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und, wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung. Nach § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG steht einer Schädigung dieser Art auch die gleich, die durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung herbeigeführt worden ist. Nach § 5 Abs. 1 Buchst. a, b und c BVG gelten als unmittelbare Kriegseinwirkungen i.S. des § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG, wenn sie im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege stehen,
"Kampfhandlungen und damit unmittelbar zusammenhängende direkte Maßnahmen, insbesondere die Einwirkungen von Kampfmitteln, jegliche Maßnahmen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Kampfhandlungen oder ihrer Vorbereitung, mit Ausnahme der allgemeinen Verdunkelungsmaßnahmen, und Einwirkungen, denen der Beschädigte durch die besonderen Umstände der Flucht vor einer aus kriegerischen Vorgängen unmittelbar drohenden Gefahr an Leib und Leben ausgesetzt war”.
Unbestritten steht fest, daß die Klägerin diese Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt. Denn sie wurde bei ihrer Flucht aus O. mit ihrem Treck in eine Auseinandersetzung mit Partisanen verwickelt und geriet am 22. März 1945 mit dem Treck in die Frontlinie. Bei der Flucht handele es sich auch um eine behördlich angeordnete Evakuierungsmaßnahme, bei der die Klägerin während des Umherirrens eine gegen die Persönlichkeit gehende Bedrohung durch einen russischen Offizier erfuhr.
Aufgrund der ausführlichen medizinischen Diskussion mußte von dem erkennenden Senat auch bejaht werden, daß die von dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie der D. K. für D. Dr. med. A. S., in seinem Gutachten vom 14. Juni 1977 gestellte Diagnose: "Depressive Entwicklung” Schädigungsfolge i.S. des § 1 Abs. 3 BVG ist. Nach dieser Vorschrift gehört zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges. Dieser war zur Überzeugung des erkennenden Senats aufgrund der ärztlichen Diskussion zur Frage der Kausalität zu bejahen. So hat Dr. med. A. S. in seinem nervenfachärztlichen Gutachten zu der Frage, ob und inwieweit Faktoren der Erlebnisse 1945 auf dem Treck in O. und der anschließenden Zeit der Vertreibung aus der Heimat Ursache der jetzt noch bei der Klägerin festzustellenden depressiven Entwicklung seien, u.a. ausgeführt, daß die bei der Klägerin festgestellte depressive Entwicklung, die sich begrifflich im wesentlichen mit dem im Kriegsopferrecht verwandten Begriff "erlebnisreaktive chronifizierte Depression” decke, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in gewissem Zusammenhang mit Einflüssen der Kriegs- oder Vertreibungszeit stehe. Erstsymptome seien wahrscheinlich in den ersten Nachkriegsjahren aufgetreten. Für das Jahr 1950 würden sie belegt durch den Arztbericht von Dr. med. N. Den Begriff der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erläuterte der Gutachter dahingehend, daß bei der Klägerin mehr Gründe für einen partiellen Zusammenhang der Einflüsse der Kriegs- oder Vertreibungszeit mit der "erlebnisreaktiven chronifizierten Depression” sprächen als dagegen. Er meint zwar auch, daß sich die Faktoren der Erlebnisse von 1945 nicht mehr genau gegenüber Faktoren des Vertreibungsschicksals mit Verlust der Heimat abgrenzen ließen. Auch müßten in der zahlenmäßigen Bewertung Faktoren der Persönlichkeit, die von den erstgenannten Faktoren unabhängig seien, berücksichtigt werden. Dennoch gelangte er in seiner Gesamtbeurteilung zu einer schädigungsbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) der Klägerin von 25 v.H. und bejahte damit die Kausalität i.S. des § 1 Abs. 1 BVG. Nicht folgen konnte der Senat in diesem Zusammenhang den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils, das die Kausalität verneinte. Es trifft zwar zu, daß die Ursächlichkeit i.S. der genannten Vorschrift nur gegeben ist, sofern die versorgungsrechtlich geschützte Bedingung wesentlich, d.h. annähernd gleichwertige Ursache neben anderen Ursachen, gewesen ist. Auch sind von den Faktoren, die der Sachverständige als ursächlich für das heutige Beschwerdebild der Klägerin ansieht, nur die Ereignisse nach der Evakuierung auf der Flucht vor der russischen Armee versorgungsrechtlich geschützt und nicht der sogenannte Persönlichkeitsfaktor. Nicht folgen konnte der erkennende Senat jedoch der Auffassung des erstinstanzlichen Gerichts, daß der versorgungsrechtlich geschützte Faktor im Vergleich mit den anderen Faktoren nicht als annähernd gleichwertige Bedingung für die bei der Klägerin vorliegende erlebnisreaktive chronifizierte Depression anzusehen sei. Denn das Urteil läßt nicht erkennen, warum es die Ereignisse nach der Evakuierung auf der Flucht vor der russischen Armee als weniger gewichtig i.S. der wesentlichen Bedingungen nach § 1 Abs. 3 Satz BVG ansieht, als den versorgungsrechtlich nicht geschützten sogenannten Persönlichkeitsfaktor sowie den Verlust der Heimat. So hat Dr. med. A. S. zu dem im biographischen Langsschnittverlauf bei der Klägerin für das Jahr 1945 festgestellten Bruch – die Klägerin war seit dieser Zeit eine chronisch kranke Frau – zwei wesentliche, bis heute wirkende Momente aufgezeigt, nämlich einmal das Erlebnis der Schreckensszenen mit dem Gefühl einer unmittelbaren Bedrohung 1945 auf dem Treck und in der Folgezeit, zum anderen den auch heute von der Klägerin noch sehr deutlich, fast überdeutlich, empfundenen Verlust ihrer Heimat. Der Gutachter hat dabei zur Überzeugung des Senats zwischen den beiden genannten Momenten keine Abstufung vorgenommen. Er hat vielmehr unter Hinweis auf mittlerweile vorliegende systematische Untersuchungen an früheren Verfolgten des Dritten Reiches ausgeführt, daß sich auch bei Leuten, die eine äußerlich befriedigende Existenz führten und nie einen Entschädigungsantrag gestellt hätten, in einem bei entsprechenden gezielten Untersuchungen ganz hohen Prozentsatz noch psychische Restfolgen der Verfolgung nachweisen ließen. Mit dem Gutachter ist der erkennende Senat der Auffassung, daß fehlende entsprechende systematische Untersuchungen bei deutschstammigen Vertriebenen der Klägerin nicht zum Nachteil gereichen dürfen. Die Ereignisse nach der Evakuierung, die Schreckensszenen auf der Flucht, insbesondere aber die eine ganze Nacht unter Lebensbedrohung andauernde Mißhandlung durch den russischen Offizier – dieser ließ erst gegen Morgen von der Klägerin ab – sind zur Überzeugung des Senats eine "wesentliche Bedingung” für die noch heute bei der Klägerin bestehende chronifizierte depressive Entwicklung. Nicht folgen konnte der Senat in diesem Zusammenhang deshalb den gutachterlichen Ausführungen des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. A. H. vom 29. Juli 1977, der, unter Bestätigung des Gutachtens des Nervenarztes Prof. Dr. W.-J. E. vom 30. April 1975, davon ausgeht, daß das bei der Klägerin bestehende derzeitige Zustandsbild ganz überwiegend verursacht worden sei durch die Nichtbewältigung des Vertreibungsschicksals bzw. des Verlustes der o Heimat, was auf konstitutionellen Faktoren beruhe und nicht auf Einwirkungen des Krieges bzw. Fluchterlebnisse zurückzuführen sei.
Auch das nervenfachärztliche Gutachten von Prof. Dr. med. P. D. vom 19. April 1980, das in Zusammenarbeit mit der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Frau D. K. erstellt wurde, war nicht dazu angetan, die Frage der versorgungsrechtlichen Kausalität zwischen dem derzeitigen Beschwerdebild der Klägerin und den unmittelbar erlebten Kriegseinwirkungen zu verneinen. So stellten die Gutachter zwar zusammenfassend fest, daß bei der Klägerin ein erlebnisbedingter Persönlichkeitswandel i.S. einer chronifizierten depressiven Entwicklung vorliege, der durch die Primärpersönlichkeit, durch die Ereignisse auf der Flucht und durch die Vertreibung aus der Heimat verursacht werde. Die Gutachter sahen sich jedoch nicht in der Lage festzustellen, welcher dieser drei Faktoren das heutige Beschwerdebild maßgeblich verursacht hat. Wenn auch ausgeführt wird, daß die Fluchterlebnisse allein heute nicht mehr von entscheidender Bedeutung seien, so weist diese Feststellung doch darauf hin, daß den Fluchterlebnissen auch heute noch eine entscheidende Bedeutung zukommt. Zur Überzeugung des erkennenden Senates wird durch das Ergebnis dieses Gutachtens nicht widerlegt, daß die bei der Klägerin vorliegende chronifizierte depressive Entwicklung ursächlich i.S. des im Versorgungsrecht bei der Prüfung der Kausalität anzuwendenden Begriffes der "wesentlichen Bedingung” auf die unmittelbaren Kriegseinwirkungen während der Flucht zurückzuführen ist und damit die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 a in Verbindung mit Abs. 3 BVG erfüllt sind.
Der Berufung war daher stattzugeben.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG kam nach Lage des Falles nicht in Betracht.
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