L 5 V 931/72

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 931/72
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1) Seelische Begleiterscheinungen können nur dann zu einer Erhöhung der MdE führen, wenn sie sich im allgemeinen Erwerbsleben oder im besonderen Beruf des Beschädigten in einen wirtschaftlich meßbaren Umfang eilig auswirken (Anschluß an Urt. d. BSG v. 6.5.69, 9 RV 700/68).
2) Ist in über 30 Jahren seit einer Darmverwundung nur einmal ein konservativ behandelter, nicht lebensgefährlicher Subileus eingetreten, so können insoweit seelische Begleiterscheinungen im Sinne des Gesetzes nicht bejaht werden.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 18. August 1972 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der 1920 geborene Kläger ist kaufmännischer Angestellter und hat als Soldat im Jahre 1941 einen Bauchschuss erlitten, bei welchem der Dünndarm fünfmal durchschlagen wurde. Unter Verwertung eines Gutachtens der Medizinischen Universitäts-Klinik F. vom 1. Dezember 1948 erstattete der Versorgungsarzt Dr. S. am 3. März 1949 ein Gutachten dahingehend, dass Schädigungsfolge bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v.H. für Zustand nach Bauchverwundung mit Magenschleimhautentzündung und zwei kleinen Narbenbrüchen in der Operationsnarbe sowie für Teilversteifung des linken Zeigefingers mit Muskelschwund bestehe. Dagegen sei vor allem die abnorme Lagerung des Dünndarms angeboren. Hierauf wurde dem Kläger mit Bescheid vom 14. März 1949 eine Rente nach dem früheren Hessischen Körperbeschädigtenleistungsgesetz (KBLG) nach einer MdE um 40 v.H. wegen der vorgenannten Schädigungsfolgen gewährt. Dagegen wurde insbesondere die entsprechende Anerkennung der abnormen Dünndarmlagerung abgelehnt. Mit Umanerkennungsbescheid vom 26. Juli 1951 wurde dem Kläger auch nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) eine Rente nach einer MdE um 40 v.H. wegen der vorgenannten Schädigungsfolgen gewährt.

Im Mai 1970 beantragte der Kläger die Erhöhung seiner Versorgungsbezüge wegen deren Verschlimmerung. Hierzu legte er ein Attest seiner Hausärztin Dr. K. vom 16. Juni 1970 vor, wonach er wegen schädigungsbedingter Gastritis laufend von ihr behandelt werde. Ausserdem sei er 1968 wegen eines Subileus stationär behandelt worden, welcher durch schädigungsbedingte innere Verwachsungen verursacht worden sei. Hierauf zog der Beklagte einen Arztbrief des Krankenhauses F. vom 25. Januar 1968 über die dortige stationäre Behandlung des Klägers vom 4. bis 16. Januar 1968 bei. Hiernach bestand nach dem Röntgenbefund ein Subileus, welcher konservativ behandelt wurde; für dem Wiederholungsfall wurde um erneute Einweisung gebeten.

Hierauf holte der Beklagte ein Gutachten des Internisten Dr. D. vom 30. Oktober 1970 ein, nach welchem die schädigungsbedingte MdE weiterhin mit 40 v.H. bemessen wurde. Es bestünden vor allem operative Darmperforationen und daraus folgende Adhäsionen des Jajunums ohne Passagebehinderungen. Für die hierdurch zeitweise auftretenden mehr funktionellen Beschwerden sei eine MdE um 40 v.H. ausreichend. Eine Gastritis sei zur Zeit nicht feststellbar. Hierauf lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 28. Januar 1971 die beantragte Neufeststellung der Versorgungsbezüge nach § 62 BVG ab. Der Eintritt einer Verschlimmerung in den Schädigungsfolgen sei nicht nachweisbar. Die Bauchverwachsungen seien bereits 1943 ausreichend mit einer MdE um 40 v.H. bewertet worden. Anzeichen einer Gastritis liessen sich nicht mehr feststellen, so dass gegenüber der letzten Begutachtung eine leichte Besserung eingetreten sei, welche jedoch keine Auswirkungen auf die Gesamt-MdE habe. Mit seinem dagegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, er habe 1968 einen lebensgefährlichen Darmverschluss erlitten, der sich nach fachärztlichen Auskünften wiederholen könne. Ausserdem sei er durch seine Verdauungsbeschwerden körperlich und seelisch stark belastet. Hierauf nahm der Versorgungsarzt Dr. G. am 28. April 1971 dahin Stellung, dass eine wesentliche Änderung der Schädigungsfolgen nicht eingetreten sei; zumal röntgenologisch keine Passagebehinderung nachgewiesen sei. Hiernach half der Beklagte mit Bescheid vom 13. Mai 1971 dem Widerspruch nicht ab.

Mit seiner hierauf erhobenen Klage begehrte der Kläger zuletzt eine Rente nach einer MdE um 50 v.H. wegen seelischer Begleiterscheinungen und vermehrter Beschwerden. Auf seinen Antrag nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erstattete der Chirurg Med. Direktor Dr. B. am 14. Dezember 1971 ein Gutachten, mit welchem er die Schädigungsbedingte MdE auf insgesamt 50 v.H. unter Einschluss von 10 v.H. MdE für seelische Begleiterscheinungen und zunehmende Schmerzen durch die schädigungsbedingten Darmverwachsungen bemass.

Zwar sei der objektive Befund einschliesslich des Röntgenbefundes gegenüber 1948 und 1970 unverändert, doch sei bei der Art der Schädigungsfolgen mit rezidivierenden Gastritiden, vermehrten Koliken und Subileuserscheinungen zu rechnen. Wegen glaubhaft zunehmender Beschwerden leide der Kläger etwa seit 1970 oft unter plötzlichen Angstgefühlen und meide seine Umwelt weitgehend, um sie nicht zu belästigen. Mit einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. W. (ohne Datum) welche sich im wesentlichen derjenigen des Dr. Grimm anschloss, widersprach der Beklagte dem Gutachten des Dr. B.

Mit Urteil vom 18. August 1972 verurteilte das Sozialgericht Frankfurt/M. den Beklagten zur Zahlung einer Rente nach einer MdE um 50 v.H. unter zusätzlicher Anerkennung von seelischen Begleiterscheinungen als Schädigungsfolge. In den Entscheidungsgründen wurde vor allem ausgeführt, dass sich die Schädigungsfolgen gegenüber 1948 im Sinne von § 62 Abs. 1 BVG wesentlich verschlimmert hätten. Zwar hätten sich die Beschwerden des Klägers nicht wesentlich verändert und auch der Ileus von 1968 sei ohne Passagebehinderung abgeklungen. Es sei jedoch die Angst des Klägers vor einer jederzeit möglichen Wiederholung und einer Lebensbedrohung ohne sofortige stationäre Behandlung nach Auskunft der ihn früher behandelnden Chirurgen sowie nach Auffassung von Dr. B. durchaus berechtigt. Diese Angstgefühle seien auch nach dem Urteil des Bundessozialgerichts von 23. März 1961 – 11 RV 20/60 – als seelische Begleiterscheinungen zu berücksichtigen, auch wenn eine entsprechende Verschlimmerung noch nicht eingetreten sei.

Gegen dieses ihm am 11. September 1972 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 2. Oktober 1972 rechtzeitig Berufung eingelegt. Zu ihrer Begründung hat er eine versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. H. vorgelegt. Dieser verweist vor allen darauf, dass 1968 nur ein Subileus bestanden habe und röntgenologisch eine Passagebehinderung des Dünndarms nicht nachzuweisen gewesen sei; daher sei eine ständige Gefahr eines vollständigen Ileus medizinisch nicht begründbar. Der Subileus sei erst 27 Jahre nach der Verwundung aufgetreten und sei nicht lebensbedrohlich, sondern konservativ zu behandeln gewesen.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 18. August 1972 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt sinngemäss,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat im Verhandlungstermin vom 13. Februar 1974 den Kläger angehört und eine Auskunft der Arbeitgeberfirma über den Kläger vom 6. März 1974 eingeholt, auf deren Inhalt verwiesen wird. Auch auf den weiteren Inhalt der Gerichts- und Versorgungsakten, welcher zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde, wird im einzelnen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten ist zulässig. Sie ist insbesondere nach § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht und nach §§ 143, 148 Nr. 3 SGG statthaft, zumal vorliegend die Schwerbeschädigteneigenschaft streitig ist.

Die Berufung ist auch begründet. Der Senat vermag der Entscheidung des Sozialgerichts nicht beizupflichten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung höherer Rente. Zwar sind nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG bei der Bemessung der MdE im allgemeinen Erwerbsleben auch seelische Begleiterscheinungen zu berücksichtigen. Hierzu hat jedoch das BSG (vgl. z.B. Urteil des 9. Senats vom 6.5.1969 – 9 RV 700/68 –) ausgesprochen, dass seelische Begleiterscheinungen nur dann zu einer Erhöhung der durch den körperlichen Befund bedingten MdE führen könnten wenn sie sich beruflich in einem wirtschaftlich messbaren Umfang auswirken. Bereits hieran fehlt es aber vorliegend. Der Kläger hat bei seiner Anhörung durch den Senat selbst eingeräumt, er habe durch die von ihm angegebenen seelischen Begleiterscheinungen noch keine Gehaltseinbusse erlitten. Bei der Auffassung des Klägers und ähnlich auch seines Arbeitgebers bezüglich eines evtl. weiteren beruflichen Aufstiegs ohne Behinderung durch die obigen Schädigungsfolgen handelt es sich lediglich um vage Vermutungen, die nicht durch entsprechende Aufstiegsbemühungen des Klägers erhärtet sind und jedenfalls keine wirtschaftlich messbare Gestalt angenommen haben. Im übrigen ist auch zu berücksichtigen, dass das Gehalt des Klägers bereits relativ nahe an das statistische Durchschnittseinkommen der kaufmännischen Angestellten der herausgehobenen Leistungsgruppe II heranreicht, sodass er insoweit offenbar schon einen gewissen wirtschaftlichen Aufstieg erzielt hat.

Ohne dass es hiernach noch entscheidend darauf ankäme, sei darauf hingewiesen, dass sich das Sozialgericht nach Auffassung des Senats vorliegend zu Unrecht auf das Urteil des BSG vom 23.3.1961 – 11 RV 20/60 – gestützt hat, weil hier keine medizinisch begründete ständige Gefahr einer lebensbedrohlichen Leidensverschlimmerung vorliegt. Dies ergibt sich schon daraus, dass in den über 30 Jahren seit der Verwundung nur einmal ein Subileus aufgetreten ist, dagegen entgegen der Auffassung des Sozialgerichts noch nie ein Ileus. Der erst 1966 aufgetretene Subileus war nicht lebensgefährlich, da er lediglich zur Einweisung in eine Innere Klinik führte und dort bei einer relativ kurzen konservativen Behandlung wieder abgeklungen ist. Diese Auffassung wird im Ergebnis auch übereinstimmend von den Versorgungsärzten Dres. H., W. und G. vertreten, wobei vor allem auch auf den Umstand verwiesen wurde, dass röntgenologisch keine Passagebehinderung des Darmes feststellbar ist. Auch Dr. B. meinte lediglich, es sei mit "subileusartigen Erscheinungen zu rechnen”, eine Vermutung, die sich übrigens bisher nicht bestätigt hat.

Schliesslich ist auch nach Auffassung vom Dr. B. wie nach der von Dr. D. im objektiven Befund der Schädigungsfolgen keine wesentliche Änderung eingetreten. Auch die Beschwerden des Klägers sind jedenfalls ihrer Art und Form nach gegenüber 1948 im wesentlichen unverändert. Für eine derartige Zunahme ihrer Intensität, dass allein hierdurch eine Rentenerhöhung bis zur Schwerbeschädigteneigenschaft gerechtfertigt wäre, enthält auch die vom Arbeitgeber des Klägers beigezogene Auskunft keine ausreichenden konkreten Anhaltspunkte, zumal hieraus keine – von Kläger angegebene – besondere Behinderung im Arbeitsleben durch fauligen Mundgeruch zu erhärten war. Im übrigen fehlt es aber auch bezüglich der Schmerzen des Klägers an dem obenerwähnten Erfordernis einer wirtschaftlich messbaren Auswirkung auf sein Berufsleben.

Da nach alledem in den Schädigungsfolgen des Klägers keine wesentliche Änderung im Sinne von § 62 Abs. 1 BVG nachweisbar ist, war, wie geschehen, zu erkennen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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