L 1 Ar 443/79

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 5 Ar 110/78
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 Ar 443/79
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Wird während des Studiums eine Halbtagsbeschäftigung (hier 20 Stunden) ausgeübt, so bleibt diese für die Berechnung des Arbeitslosengeldes auch dann maßgeblich, wenn der Arbeitslose bei Antragstellung nach der zwischenzeitlichen Beendigung seines Studiums bereit ist, ganztags zu arbeiten, und eine der Sonderregelungen nach § 112 Abs. 5 AFG nicht eingreift. Ist die Halbtagsbeschäftigung zudem für den Zeitraum der maßgeblichen Rahmenfrist (§ 104 AFG) kennzeichnend, kann allein aufgrund der Tatsache der Beendigung des Studiums und einer weitergehenden Arbeitsbereitschaft ein Anspruch nicht auf § 112 Abs. 7 AFG gestützt werden. Weitergehende Rechte folgen auch nicht aus einem Umkehrschluß aus der Regelung des § 112 Abs. 8 AFG.
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 1. März 1979 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des dem Kläger zu gewährenden Arbeitslosengeldes – Alg –.

Der Kläger studierte vom Wintersemester 1974 bis zum Wintersemester 1977 an der Fachhochschule F. – Fachbereich Sozialpädagogik –. Er bestand am 2. Februar 1978 das Examen als Sozialpädagoge. In der Zeit vom 1. Oktober 1973 bis 31. Juli 1975 war er als Aushilfsangestellter bei der Stadt F. beschäftigt und zwar in der Zeit vom 1. Oktober 1973 bis 30. September 1974 21 Stunden wöchentlich sowie bis zum 31. Juli 1975 20 Stunden wöchentlich. Im Lohnabrechnungszeitraum Juli 1975 betrug das Monatsentgelt ausweislich der Arbeitsbescheinigung 814,82 DM.

Am 3. Februar 1978 meldete sich der Kläger beim Arbeitsamt G., Dienststelle F., arbeitslos und beantragte die Gewährung von Alg; dieses gewährte die Beklagte unter Zugrundelegung eines Arbeitsentgeltes von 814,82 DM bei einem dynamisierten Bemessungsentgelt von 230,– DM wöchentlich in Höhe von 117,– DM. Den dagegen eingelegten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 3. Mai 1978 zurück.

Gegen den Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 16. Mai 1978 Klage erhoben.

Während des Klageverfahrens beantragte er die Gewährung von Arbeitslosenhilfe – Alhi – im Anschluß an den Bezug von Alg, die die Beklagte gleichfalls unter Zugrundelegung eines Bemessungsentgelts von 230,– DM ab 5. Mai 1978 bewilligte (Bescheid vom 22. Mai 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juni 1978); die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Gießen – Az: S-5/Ar 161/78 – mit Urteil vom 13. Dezember 1979 abgewiesen.

Der Kläger hat vorgetragen, ihm stehe ein höheres Alg zu, da er während seines Studiums – zuletzt – nur 20 Stunden wöchentlich habe arbeiten können, nunmehr jedoch der Arbeitsvermittlung ganztags zur Verfügung stehe. Deshalb sei statt des der Berechnung zugrunde gelegten Bemessungsentgelts von 230,– DM ein solches von 460,– DM – entsprechend 40 Arbeitsstunden – zugrunde zu legen. Zudem müsse die Beklagte nach bestandenem Examen als Sozialpädagoge von diesem Beruf bezüglich des erzielbaren Arbeitsentgeltes ausgehen.

Das Sozialgericht Gießen hat die Klage mit Urteil vom 1. März 1979 abgewiesen; es hat die Berufung zugelassen. Zur Begründung hat es angeführt, die Beklagte sei bei der Berechnung des Bemessungsentgelts zu Recht von einer Wochenstundenzahl von 20 ausgegangen. Maßgebliches Arbeitsentgelt sei das im Bemessungszeitraum in der Arbeitsstunde durchschnittlich erzielte Arbeitsentgelt, vervielfacht mit der Zahl der Arbeitsstunden, die sich als Durchschnitt der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit der Beschäftigungsverhältnisse im Bemessungszeitraum ergebe (§ 112 Abs. 2 AFG). Im letzten maßgeblichen Abrechnungszeitraum, nämlich im Juni 1975, habe die vereinbarte Arbeitszeit 20 Stunden betragen; diese stelle die maßgebliche tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit dar. Ein Anspruch des Klägers auf höheres Arbeitslosengeld folge auch nicht aus der Regelung des § 112 Abs. 7 AFG, da diese den Zweck verfolge, einen sozial gerechten Lohnersatz für den Fall zu erreichen, daß in den letzten 3 Jahren vor der Arbeitslosmeldung überwiegend ein Arbeitsentgelt erzielt worden sei, das höher als das Arbeitsentgelt im Bemessungszeitraum sei. Eine solche Fallgestaltung liege bei dem Kläger jedoch nicht vor. Schließlich könne der Kläger die Verdoppelung des Bemessungsentgelts auch nicht aus einem Umkehrschluß der Vorschrift des § 112 Abs. 8 AFG herleiten, wonach bei einer Minderung der Leistungsfähigkeit auf das tatsächliche Leistungsvermögen abgestellt werde. Für einen solchen Umkehrschluß bei gegenüber der Beschäftigungszeit erweiterter Verfügbarkeit ergebe sich im Gesetz kein Anhaltspunkt.

Gegen dieses dem Kläger am 13. März 1979 zugestellte Urteil richtet sich seine mit Schriftsatz vom 10. April 1979, eingegangen beim Hessischen Landessozialgericht am 11. April 1979, eingelegte Berufung.

Er ist der Auffassung, die Beklagte habe der Berechnung des Alg das zur Zeit der Antragstellung vorhandene Leistungsvermögen zugrunde zu legen. Auf die tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit des letzten Beschäftigungsverhältnisses des Klägers abzustellen, sei unzulässig, da die Beschränkung der Arbeitszeit durch die Berufsausbildung bedingt gewesen sei. Für vergleichbare Fallgestaltungen habe der Gesetzgeber in der Vorschrift des § 112 Abs. 5 AFG Sonderregelungen getroffen, wonach für die Berechnung teilweise § 112 Abs. 7 AFG heranzuziehen sei. Wenn der Gesetzgeber für Studenten, die ihr Studium mit Hilfe einer Halbtagsbeschäftigung finanzierten, keine Sonderregelung getroffen habe, so liege insoweit eine Gesetzeslücke vor, die im Sinne der angeführten Sonderregelungen des § 112 Abs. 5 AFG geschlossen werden müsse, mit der Folge, daß für die Berechnung § 112 Abs. 7 AFG maßgeblich sei. Andernfalls werde der Kläger schlechter gestellt, als in dem Falle, daß er sein Studium nicht selbst finanziert hatte, zumal sich die Zugrundelegung des Bemessungsentgeltes nach Auffassung der Beklagten auch auf die Berechnung der Alhi im Anschluß an die Gewährung von Alg auswirke.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 1. März, 1979 aufzuheben sowie den Bescheid vom 5. April 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Mai 1978 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Arbeitslosengeld auf der Grundlage eines Bemessungsentgelts von 460,– DM wöchentlich zu gewähren,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, die Argumentation des Klägers habe zur Folge, daß generell bei der Berechnung der Höhe des Alg nicht von den zuletzt erzielten Einkommen ausgegangen werde, sondern in jedem einzelnen Falle ein fiktives Einkommen errechnet werden müsse, das der Arbeitslose erzielen würde, wenn er nicht arbeitslos wäre. Bei einer derartigen Berechnung würde jedoch die Anknüpfung an die zuletzt entrichteten Beiträge zur Arbeitslosenversicherung verlorengehen. Im Falle eines Studenten, der nebenher lediglich eine Teilzeitbeschäftigung ausüben könne, bestehe hinsichtlich der Anknüpfung an das maßgebliche Bemessungsentgelt auch keine Gesetzeslücke; für eine analoge Anwendung der Regelung nach §§ 112 Abs. 5 Nr. 2, Nr. 4, 112 Abs. 7 AFG bestehe kein Raum.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Akteninhalt, insbesondere auf den der Leistungsakte der Beklagten, Stamm-Nr. XXXXX, Arbeitsamt G. der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie durch Zulassung statthaft (§§ 151, 150 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das Urteil des Sozialgerichts wie auch der Bewilligungsbescheid sind rechtlich nicht zu beanstanden.

Das Arbeitslosengeld beträgt 68 v.H. des um die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, geminderten Arbeitsentgelts (§ 111 Abs. 1 AFG unter Hinweis auf § 112 AFG). Arbeitsentgelt ist danach das im Bemessungszeitraum in der Arbeitsstunde durchschnittlich erzielte Arbeitsentgelt, vervielfacht mit der Zahl der Arbeitsstunden, die sich als Durchschnitt der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit der Beschäftigungsverhältnisse im Bemessungszeitraum ergibt (§ 112 Abs. 2 Satz 1 AFG). Bemessungszeitraum sind die letzten, am Tage des Ausscheidens des Arbeitnehmers aus dem Beschäftigungsverhältnis abgerechneten, insgesamt 20 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt umfassenden Lohnabrechnungszeiträume der letzten die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung vor der Entstehung des Anspruches (§ 112 Abs. 3 AFG). Maßgeblicher Abrechnungszeitraum im Sinne dieser Regelung war der Monat Juli 1975. Zu Recht ist auch als maßgebliche Arbeitszeit eine solche von 20 Stunden wöchentlich zugrunde gelegt worden; denn während des Beschäftigungsverhältnisses bei der Stadt F. war nicht nur vorübergehend eine geringere als die tarifliche oder übliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit vereinbart, nämlich eine solche von zuletzt 20 Stunden; auf diese vereinbarte Arbeitszeit ist abzustellen. (§ 112 Abs. 4 Nr. 3 AFG).

Eine von dem Grundsatz, daß für die Berechnung auf das von dem Versicherten tatsächlich im Bemessungszeitraum erzielte Arbeitsentgelt bzw. die maßgebliche Arbeitszeit abzustellen ist, abweichende Ausnahme ist vorliegend nicht gegeben. Insbesondere kommt keine der im Gesetz in Absatz 5 des § 112 AFG genannten Regelungen zur Anwendung. Danach ist in bestimmten Fallgestaltungen von einem höheren Arbeitsentgelt als dem während des maßgeblichen Bemessungszeitraumes erzielten auszugehen. Dabei sollen insbesondere Nachteile ausgeglichen werden, die durch den Besuch einer Rehabilitationsmaßnahme, die Durchführung einer Fortbildung oder Umschulungsmaßnahme, einer Ausbildung, einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme sowie durch bestimmte weitere dort genannte Fallgestaltungen entstehen können. Nach Sinn und Zweck dieser Regelungen sollen teilweise ungünstigere Einkommensverhältnisse, wie etwa im Falle von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, ausgeglichen wie auch während des Besuchs von Maßnahmen erworbenen Kenntnissen Rechnung getragen werden. Insoweit enthält das Gesetz in Absatz 5 von § 112 AFG einen abschließenden Katalog von Fallgestaltungen, die teilweise sehr spezieller Art sind und der eine Erweiterung durch die Rechtsprechung um Fallgestaltungen, die den angeführten ähnlich sind, nicht zulässt.

Darüber hinaus ist auch eine unmittelbare Anwendung der Bestimmung des § 112 Abs. 7 AFG, auf den in § 112 Abs. 5 AFG weitgehend verwiesen wird, mit der Folge, daß vorliegend von einem Bemessungsentgelt von 460,– DM auszugehen ist, nicht zulässig. Unter den Voraussetzungen des § 112 Abs. 7 AFG ist ausnahmsweise nicht auf ein tatsächlich erzieltes, sondern auf das für den Betroffenen – unter näher bezeichneten Voraussetzungen – erzielbare Arbeitsentgelt abzustellen. Voraussetzung für die fiktive Feststellung des Arbeitsentgelts nach § 112 Abs. 7 AFG ist, daß es mit Rücksicht auf die vom Arbeitslosen in den letzten 3 Jahren vor der Arbeitslosmeldung überwiegend ausgeübte berufliche Tätigkeit unbillig wäre, vom Arbeitsentgelt nach den vorstehenden Absätzen des § 112 AFG auszugehen. Damit ist entscheidend, ob die regelmäßig durchzuführende Leistungsberechnung für den Anspruchsberechtigten zu einer unbilligen Härte führt, was durch die Gerichte voll nachprüfbar ist, da der Beklagten insoweit weder ein Ermessens- noch ein Beurteilungsspielraum eingeräumt ist (BSG, Urt. v. 6.10.1977 – 7 RAr 82/76 – SozR 4100 § 112 Nr. 6 AFG mit Nachweisen).

Eine unbillige Härte liegt für den Arbeitslosen regelmäßig dann vor, wenn die Bemessung nach den Absätzen 2 bis 6 des § 112 AFG ihn erheblich benachteiligen würde, wobei der Gesetzgeber die Benachteiligung derart festgelegt hat, daß das nach § 112 Abs. 2 und 3 AFG ermittelte Bemessungsentgelt in einem Mißverhältnis zu dem Entgelt stehen muß, das der Arbeitslose aus dem innerhalb der letzten drei Jahre vor der Arbeitslosmeldung überwiegend ausgeübten beruflichen Tätigkeit erzielt hat. Damit ist das während des maßgeblichen Bemessungszeitraumes ermittelte Entgelt vergleichsweise dem Wert gegenüberzustellen, der für den angeführten Dreijahreszeitraum kennzeichnend ist. Dies muß entsprechend für die Fallgestaltung gelten, daß die Arbeitszeit innerhalb der genannten Zeiträume schwankt (vgl. Hennig-Kühl-Heuer, Komm, zum AFG, § 112, Anm. 13). Schwankungen der genannten Art, die Voraussetzung für die Anwendung des § 112 Abs. 7 AFG sind, sind im Falle des Klägers nicht gegeben. Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, kommt es nicht mehr darauf an, welches Entgelt der Kläger nach Abschluß des Studiums tatsächlich erzielen kann; entscheidend ist auch nicht, daß er – gegenüber seiner früheren, die Leistung begründenden Beschäftigung- nunmehr vollschichtig der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht. Diese Fallgestaltung erfaßt § 112 Abs. 7 AFG nicht.

Weitergehende Rechte können schließlich auch nicht im Wege des Umkehrschlusses aus der Bestimmung des § 112 Abs. 8 AFG hergeleitet werden, wonach bei einer Einschränkung des Leistungsvermögens unter bestimmten Voraussetzungen eine Kürzung der Leistungshöhe erfolgen kann (§ 112 Abs. 8 AFG). Diese Regelung knüpft an den Grundsatz an, daß die Beklagte nur in dem Umfange im Rahmen der Arbeitslosengeldgewährung Leistungen zu erbringen hat, in dem eine Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt möglich ist. Die Vorschrift trifft damit eine Regelung allein im Bereich der Leistungsgewährung und kann daher im Umkehrschluß nicht zu einer Erweiterung der Anwartschaft führen; vielmehr wird die Anwartschaft maßgeblich und hier ausschließlich durch den Umfang der Beschäftigung während des Bemessungszeitraumes bestimmt. Demgegenüber kann auch nicht mit Erfolg eingewandt werden, der Kläger hätte sich besser gestellt, wenn er eine Beschäftigung nicht ausgeübt hätte. Denn für diesen Fall hätte er zumindest keinen höheren Anspruch auf Alg erworben, sondern überhaupt keine Leistungen dieser Art erhalten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision hat der Senat zugelassen, weil er der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beigemessen hat (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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