L 5 V 973/70

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 973/70
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Voraussetzungen zur Gewährung von Hinterbliebenenversorgung im Wege der Zugunstenregelung liegen auch in Wertung der neuen BSG-Rechtsprechung in Freitodfällen von Soldaten nicht vor, wenn das schädigende Ereignis – Ausschluß der freien Willensbestimmung durch wehrdiensteigentümliche Umstände oder kriegsbedingte Einflüsse – nicht beweisbar ist.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 15. Oktober 1970 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin ist die Witwe des 1908 geborenen und 1942 als Soldat durch Freitod verstorbenen P. E ...

Im Juni 1947 hatte sie Antrag auf Gewährung von Hinterbliebenenrente nach dem Körperbeschädigtenleistungsgesetz (KBLG) gestellt und darauf hingewiesen gehabt, ihr sei bis März 1945 nach versorgungsrechtlichen Bestimmungen eine Beihilfe gezahlt worden. Der Tod ihres Ehemannes sei seinerzeit nicht als Wehrdienstbeschädigung anerkannt gewesen. Hierauf gestützt war am 22. November 1947 ein abschlägiger Bescheid ergangen. Dagegen hatte sie Berufung eingelegt und vor dem Oberversicherungsamt Darmstadt vorgetragen, ihr Ehemann sei am 4. Februar 1942 zum Landes-Schützen-Ersatz-Bataillon Nr. 9 in M. einberufen worden. Weil er den bei der Wehrmacht gebräuchlichen harten Ton nicht gewohnt gewesen sei und sich den Anforderungen des Dienstes nicht gewachsen gefühlt habe, habe er infolge eines plötzlichen Zusammenbruchs den Freitod gewählt. Vor der Einberufung sei er gesund gewesen. Durch Urteil vom 25. April 1949 hatte das Oberversicherungsamt die Berufung abgewiesen. Ihr weiteres an das Hessische Landessozialgericht gerichtetes Rechtsmittel hatte die Klägerin im Jahre 1955 zurückgenommen.

Im Oktober 1964 stellte sie beim Versorgungsamt Darmstadt erneut Antrag auf Hinterbliebenenversorgung und berief sich auf die inzwischen geänderten gesetzlichen Bestimmungen. Durch bindend gewordenen Bescheid vom 12. November 1964 wurde dieser unter Hinweis auf § 85 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und auf die Bindungswirkung des Bescheides vom 22. November 1947 abgelehnt.

Am 28. Juli 1967 beantragte die Klägerin die Erteilung eines Zugunstenbescheides. Zur Begründung nahm sie auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Juli 1959 Bezug, das im Hinblick auf Freitodfälle nicht mehr auf die objektive Belastung, sondern auf die subjektive Belastbarkeit des Betreffenden abstelle. Mit Bescheid vom 5. Dezember 1967 wurde sie wiederum abschlägig beschieden, da keine neuen Tatsachen und Beweismittel erbracht worden seien, welche die Unrichtigkeit der bindenden Entscheidung belegten.

Im Widerspruchsverfahren stellte das Versorgungsamt Ermittlungen über einen Zivilunfall des Ehemannes der Klägerin mit Schädelbruch aus dem Jahre 1936 an und befragte den ehemaligen Kameraden K. F. über dessen Verhalten bei der Wehrmacht sowie sein Verhältnis zu Vorgesetzten. Als dann hörte der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. die Klägerin zur Vorgeschichte und gab am 3. Februar 1969 ein aktenmäßiges nervenfachärztliches Gutachten dahin ab, daß die Gründe für den Selbstmord im Wege des Beibringens von Stichen in den Hals aus psychischer Sicht weiterhin völlig ungeklärt seien. Folgen des Unfalles von 1956 seien wahrscheinlich nicht Anlaß oder Mitursache für den Freitod gewesen. Es könne aber auch nicht als wahrscheinlich gelten, daß der Tod mit Einflüssen des Wehrdienstes in Zusammenhang stehe, obwohl andererseits nicht behauptet werden könne, daß ein derartiger Zusammenhang auszuschließen sei. Hierzu nahm Reg. Med. Direktor Dr. v. K. zustimmend Stellung.

Nachdem sich der Hessische Minister für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen in seinem Erlaß vom 25. April 1969 dieser Auffassung ebenfalls angeschlossen hatte, erging der den angefochtenen Bescheid vom 5. Dezember 1967 bestätigende Widerspruchsbescheid vom 9. Mai 1969.

Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Darmstadt hat die Klägerin Bescheide des Wehrmachtfürsorge- und Versorgungsamtes Frankfurt/M., des Wehrkreiskommandos IX Kassel sowie des Landrats des Kreises E., aus dem Jahre 1943 eingereicht und sich darauf berufen, daß darin von einer gedrückten Stimmung ihres Ehemannes wegen seiner bekannten unnatürlichen Abneigung allem Militärischen gegenüber die Rede sei. Hiernach sei ihr Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung in Anwendung der neuen BSG-Rechtsprechung zu Selbstmordfällen nach § 40 Abs. 2 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VfG –KOV–) begründet. Die von ihr beigebrachten neuen Beweismittel reichten aber auch im Hinblick auf § 40 Abs. 1 dieses Gesetzes aus.

Demgegenüber hat der Beklagte vorgetragen, nach der eigenen Schilderung der Vorgeschichte durch die Klägerin gegenüber Dr. H. sei ihr Ehemann nach Erhalt des Einberufungsbefehls weder besonders traurig noch mißmutig gewesen. Es sei auch nicht vorstellbar, daß eine Wehrdienstzeit von nur zwei Tagen, an denen mit Sicherheit noch kein regulärer Dienst gemacht worden sei, diesen zum Selbstmord getrieben habe. Die Rechtsprechung des BSG decke den vorliegenden Fall nicht, weil es an einer ausreichenden tatsächlichen Beurteilungsgrundlage mangele.

Mit Urteil vom 15. Oktober 1970 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, die Klägerin habe keine Tatsachen vorgetragen, aus welchen sich die Unrichtigkeit des bindenden Bescheides vom 22. November 1947 ergebe. Ein Ermessensfehler des Beklagten in Bezug auf den in Streit stehenden negativen Zugunstenbescheid liege nicht vor.

Gegen dieses Urteil, das der Klägerin am 26. Oktober 1970 zugestellt worden ist, richtet sich ihre am 30. Oktober 1970 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung. Zur Begründung wiederholt sie ihr bisheriges Vorbringen unter besonderem Hinweis auf die höchstrichterlich entschiedenen Freitodfälle von Soldaten.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 15. Oktober 1970 sowie den Bescheid des Beklagten vom 5. Dezember 1967 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Mai 1969 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Witwenakten des Versorgungsamtes Darmstadt mit der Archiv-Nr. XX sowie die Akten des Oberversicherungsamts Darmstadt (XYXYXY) haben vorgelegen. Auf ihren Inhalt und den der Gerichtsakten beider Instanzen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, sie ist insbesondere frist- und formgerecht eingelegt worden (§§ 143, 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –). Sie ist jedoch nicht begründet.

Der Bescheid des Beklagten vom 5. Dezember 1967 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Mai 1969 ist nicht rechtswidrig.

Rechtsgrundlage ist § 40 Abs. 1 VfG (KOV), wonach die Verwaltungsbehörde zu Gunsten des Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen kann. Nach der Verwaltungsvorschrift Nr. 2 zu dieser Bestimmung, die der Senat als mit der geltenden Rechtsordnung in Einklang stehend betrachtet, setzt ein solcher Bescheid voraus, daß die frühere Entscheidung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unrichtig ist. Bestehen lediglich Zweifel an der Richtigkeit der früheren Entscheidung, so darf ein neuer Bescheid nicht ergehen.

Die letzteren Voraussetzungen liegen hier vor. Denn es ist nicht wahrscheinlich im Sinne der im Versorgungsrecht geltenden Kausaltheorie, daß der Freitod des Ehemannes der Klägerin, der eine absichtlich herbeigeführte Schädigung im Sinne des § 1 Abs. 4 BVG darstellt, wegen einer Beeinträchtigung seiner freien Willensbestimmung durch Tatbestände des § 1 BVG erfolgt ist (VV Nr. 11 zu § 1 BVG). Angesichts der bekannt gewordenen Umstände des Selbstmordes mußte sich der Beklagte nach Abschluß der von ihm durchgeführten eingehenden Ermittlungen nicht davon überzeugen, daß der bindend gewordene Erstbescheid vom 22. November 1947 unrichtig ist. Hierbei verweist der Senat zusätzlich, noch auf § 85 BVG, der die Rechtsverbindlichkeit nach früheren versorgungsrechtlichen Vorschriften ergangener Entscheidungen in Bezug auf die Frage der Kausalität von Gesundheitsstörung und Schädigung gemäß § 1 BVG festlegt.

Ein Schädigungstatbestand im Sinne der letzteren Vorschrift liegt nur vor, wenn die Selbsttötung in einem Zustand des Ausschlusses der freien Willensbestimmung erfolgt, der durch wehrdiensteigentümliche Umstände oder kriegsbedingte Einflüsse verursacht war (s. Urteile des erkennenden Senats vom 20.1. und 25.2.71 Az.: L 5/V-213/69 und 750/70). Für solche, die das schädigende Ereignis darstellen, ergeben sich jedoch keine konkreten Anhaltspunkte, die in jedem Einzelfalle zu fordern sind, auch und gerade unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG in Selbstmordfällen, wie sie in den Entscheidungen vom 28. Juli 1959 (Az.: 11/8 RV 425/57) und vom 11. November 1959 (Az.: 11/9 RV 290/57) Ausdruck findet. Zwar kommt es danach nicht mehr allein auf die objektive Belastung eines Soldaten, sondern auch auf seine subjektive Belastbarkeit an, um zu einem rechtlich umfassenden Ergebnis zu gelangen. Die Anwendung dieser Gedankengänge führt aber zu keinem anderen Ergebnis. Denn es ist nach wie vor zunächst zu fragen, ob der am Anfang der Kausalkette stehende Freitod mit wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen gerne allgemein – nicht nur mit Tatbeständen des § 1 Abs. 2 BVG, wie das Sozialgericht irrtümlich angenommen hat – in Zusammenhang gebracht werden kann. Gerade das schädigende Ereignis ist aber nicht dargetan. Aus diesem Grunde stellte sich für den Senat ebenso wie für das Vordergericht und vor diesem für den Beklagte die Frage nicht, ob § 40 Abs. 2 VfG (KOV) als Rechtsgrundlage in Betracht zu kommen hat.

Wichtigster Ausgangspunkt für die Überprüfung des angefochtenen Verwaltungsakts i.S. des § 40 Abs. 1 ist der Bescheid des Wehrmachtfürsorge- und Versorgungsamts Frankfurt/M. vom 28. Januar 1943. Dort ist nach Vernehmungen und Durchführung anderer Ermittlungen ausgeführt worden, daß wehrdienstliche Einflüsse bei dem Selbstmord des Ehemannes der Klägerin keine Bedeutung gehabt hätten. Eine falsche Behandlung durch Vorgesetzte oder Kameraden sei ebenfalls nicht festzustellen gewesen, weshalb der Tod nicht Folge einer Wehrdienstbeschädigung sei. Dieser Bescheid ist vom Wehrkreiskommando IX am 10. Mai 1943 bestätigt worden, so daß die Klägerin keine Hinterbliebenenrente, sondern nur eine nach damaligen Bestimmungen zulässige Härteausgleichszahlung für sich und ihre Kinder erhalten hat. Die zusätzlichen Erwägungen, die in dieser Beschwerdeentscheidung in Bezug auf die Selbstmordmotive angestellt worden sind, sind hypothetischer Natur. Sie belegen keine wehrdienstbedingten Umstände, sondern zeigen allenfalls Möglichkeiten auf, nachdem zuvor wesentliche Einflüsse von Folgen des 1936 erlittenen Zivilunfalles verneint worden waren. Ein Beweis dafür, daß der Ehemann der Klägerin wegen seiner Einberufung mit Aussicht auf Ableistung eines längeren Kriegsdienstes gedrückter Stimmung gewesen und letzten Endes in einen Zustand geraten ist, der die freie Willensbestimmung ausschloß und zu der geschehenden Kurzschlußhandlung führte, läßt sich aus dem Bescheid vom 10. Mai 1943 keinesfalls herleiten. Dagegen stehen ferner auch die Angaben, welche die Klägerin am 3. Februar 1969 gegenüber Dr. H. gemacht hat und die sie mit Aussicht auf Erfolg nicht bestreiten kann, zumal sie von dem ehemaligen Kameraden Fuchs bestätigt worden sind. Danach ist von Aufregung, Depression oder anderen psychischen Auffälligkeiten wie Protestreaktionen bei Erhalt des Einberufungsbefehls und bis zur Abreise in die Garnison nicht die Rede gewesen. In der Kaserne war der Ehemann der Klägerin ausgeglichen. Das Verhältnis seiner Kameraden an ihm wie umgekehrt war normal. Über dienstliche Schikanen Vorgesetzter ist nichts bekannt, was um so glaubhafter und überzeugender ist, als die militärische Grundausbildung innerhalb der zwei Tage, an welchen er Soldat gewesen ist, sicher noch nicht begonnen hatte. Hiervon geht zutreffend auch der Beschwerdebescheid vom 10. Mai 1943 aus. Da der Ehemann der Klägerin sich in einem bei seiner Hinterlassenschaft gefundenen Brief kurz vor seinem Freitode ebenfalls nicht negativ oder in anderer Weise auffällig über sein Dasein als Soldat geäußert hatte, was die Klägerin selbst geschildert hat, kann alles in allem ihrer subjektiven Meinung, der harte Kasernenton und das Gefühl, den Anforderungen das Dienstes nicht gewachsen zu sein, hatten ihn infolge eines plötzlichen Zusammenbruchs in den Tod getrieben, nicht gefolgt werden. Für einen Kausalzusammenhang mit Einflüssen i.S. des § 1 Abs. 1 BVG spricht zu wenig, als daß ihr Berufungsbegehren Erfolg haben könnte. Der angefochtene Bescheid ist mangels des Tatbestandsmerkmals "unrichtig” im Sinne des § 40 Abs. 1 VfG (KOV) in Bezug auf die Sachentscheidung vom 22. November 1947 rechtens.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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