L 5 V 835/70

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 835/70
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die in § 62 Abs. 3 BVG geregelte Zehnjahresfrist ist nicht erfüllt, wenn der zum Rentenbezug berechtigende Grad der MdE durch Zustunstenbescheid anerkannt wurde, der sich eine Rückwirkung von 4 Jahren beigemessen und den ursprünglichen Sachbescheid im übrigen unberührt gelassen hat.
In einem solchen Falle kann nicht davon ausgegangen werden, daß die höhere MdE auch ohne Zahlung entsprechender Versorgung schon im Zeitpunkt des – insoweit unrichtigen – Erstbescheides bestanden habe.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 19. August 1970 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Bei 1905 geborenen Kläger hatte des Versorgungsamt Darmstadt durch Bescheid vom 7. August 1956 nach mehrfacher ärztlicher Untersuchung und vorausgegangenem Rechtsmittelverfahren "Neigung zu rheumatischen Beschwerden” als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) in nicht rentenberechtigendem Grade der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bindend festgestellt. Die Anerkennung eines Herzschadens, einer Hepatitis und von Gehstörungen war abgelehnt worden. Auf einen im November 1959 gestellten Antrag wegen Verschlimmerung und Anerkennung des besonderen beruflichen Betroffenseins hin, der die Beiziehung von ärztlichen Befundberichten, Krankenunterlagen und fachärztlichen Gutachten zur Folge hatte, war der Bescheid vom 20. April 1961 ergangen. In diesem waren Schädigungsfolgen verneint worden, weil die jetzt vorgetragenen Beschwerden sich nur noch auf anlagebedingte degenerative arthrotische Veränderungen der Gelenke bezögen.

Nach von Amts wegen durchgeführten Ermittlungen zur Vorgeschichte sowie in Form der Einholung neuer medizinischer Sachverständigengutachten auf innerfachärztlichem, neurologischen, chirurgischen und röntgenologischem Fachgebiet durch Ärzte der Versorgungsärztlichen Untersuchungsstelle Frankfurt/M. und durch Prof. Dr. K. sowie Dr. V. von der II. Medizinischen Universitätsklinik in M. (Gutachten vom 30.1.1964) hatte das Versorgungsamt am 2. Juli 1964 einen bindend gewordenen Zugunstenbescheid erlassen. Darin sind

1) "Neigung zu Gelenkrheumatismus,

2) geringe Leberrestschädigung nach Hepatitis” als Schädigungsfolgen mit einem auf die Ziff. 2) bezogenen Grad der MdE von 30 v.H., anerkannt. Die entsprechende Rentenzahlung erfolgte rückwirkend ab 1. November 1959. Für die Zeit vorher wurde an der Bindung des Bescheides vom 7. August 1956 festgehalten, der ebenso wie der Bescheid vom 20. April 1961 mit Wirkung vom 1. November 1959 geändert wurde.

Nach Überprüfung der Voraussetzungen des § 62 Abs. 3 BVG ließ das Versorgungsamt den Kläger in der M. Universitätsklinik erneut begutachten. Nach 5-tägiger stationärer Untersuchung führten Prof. Dr. K. und Dr. T. in ihrem Gutachten vom 7. September 1967 aus, aus internistischer Sicht hätten die Schädigungsfolgen gegenüber den Vorgutachten um 10 v.H. abgenommen. Für die noch bestehende Leberrestschädigung werde jetzt eine MdE von 20 v.H. angenommen. Die "Neigung zu Gelenkrheumatismus” bedinge keine MdE.

Hierauf gestützt erging unter dem 1. Dezember 1967 ein bindend gewordener Neufeststellungsbescheid von Amts wegen, der die Versorgungsbezüge wegen Eintritts einer wesentlichen Besserung mit Wirkung vom 1. Februar 1966 an entzog.

Am 21. Mai 1968 beantragte der Kläger die Erteilung eines Zugunstenbescheides, indem er sich auf § 62 Abs. 3 BVG berief, wonach die MdE wegen Besserung des Gesundheitszustandes bei Versorgungsberechtigten, die das 55. Lebensjahr vollendet hätten, nicht niedriger festzusetzen sei, wenn sie in den letzten 10 Jahren seit Feststellung unverändert geblieben sei. Diese Voraussetzungen lägen bei ihm vor. Daß dem Zugunstenbescheid vom 2. Juli 1964 für die Zahlung von Versorgungsbezügen nach einer MdE von 30 v.H. Rückwirkung nur bis zum 1. November 1959 beigemessen worden sei, ändere nichts an der Tatsache, daß die MdE im Zeitpunkt des Erlasses des insoweit unrichtigen Bescheides vom 7. August 1956 schon in dieser Höhe bestanden habe. § 62 Abs. 3 BVG fordere nicht den Bezug entsprechender Rente, sondern nur die Feststellung der unveränderten MdE.

Mit Bescheid vom 10. Juni 1968 lehnte das Versorgungsamt diesen Antrag mit der Begründung ab, der bindend gewordene Neufeststellungsbescheid vom 1. Dezember 1967 sei nicht unrichtig. Die Vorschrift des § 62 Abs. 3 BVG stehe nicht entgegen, weil die Leberschädigung erst ab 1. November 1959 als Schädigungsleiden mit der Folge der Zahlung von Rente nach einer MdE um 30 v.H. anerkennt worden sei. Auf die Unrichtigkeit des Bescheides vom 7. August 1956 könne sich der Kläger nicht mit Erfolg berufen. Er habe die im Zugunstenbescheid vom 2. Juli 1964 zeitlich begrenzte Rückwirkung hingenommen.

Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos. Durch Widerspruchsbescheid vom 3. Oktober 1968 wurde der angefochtene Bescheid bestätigt.

Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Darmstadt mit Urteil vom 19. August 1970 abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, § 62 Abs. 3 BVG vermöge den Anspruch des Klägers auf Erteilung eines Zugunstenbescheides nicht zu stützen. Da die Feststellung der MdE von 30 v.H. erst ab 1. November 1959 erfolgt und mangels Anfechtung des Bescheides vom 2. Juli 1964 bindend sei, sei die 10-Jahresfrist am 1. Februar 1968 noch nicht abgelaufen gewesen.

Gegen dieses Urteil, des dem Kläger am 26. August 1970 zugestellt worden ist, richtet sich seine am 17. September 1970 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung. Zur Begründung wiederholt er sein bisheriges Vorbringen.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 19. August 1970 und den Bescheid des Beklagten vom 10. Juni 1968 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Oktober 1968 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Akten des Versorgungsamtes Darmstadt mit der Archiv-Nr. XXX haben vorgelegen. Auf ihren Inhalt und den der Gerichtsakten beider Instanzen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, sie ist insbesondere frist- und formgerecht eingelegt worden (§§ 143, 148 Ziff. 3, 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG–). Sie ist jedoch nicht begründet.

Der Bescheid des Beklagten vom 10. Juni 1968 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Oktober 1968 ist nicht rechtswidrig. Dem angefochtenen Urteil ist beizupflichten.

Rechtsgrundlage ist vorliegend § 40 Abs. 1 VfG (KOV), wonach die Verwaltungsbehörde zu Gunsten des Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen kann. Ein solcher Bescheid setzt voraus, daß die frühere Entscheidung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unrichtig ist. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Bezüglich des Bescheides vom 1. Dezember 1967 bestehen keine Zweifel, daß er der Rechtslage entsprochen hat. Dem Beklagten war deshalb zuzustimmen, wenn er sich nach Beantragung eines Zugunstenbescheides durch den Kläger nicht von dessen Unrichtigkeit zu überzeugen vermochte und an der Bindung dieses Neufeststellungsbescheides festgehalten hat, durch den die Rente wegen einer wesentlichen Änderung im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG mit Wirkung vom 1. Februar 1968 entzogen worden ist.

Auf die Vorschrift des § 62 Abs. 3 BVG i.d.F. des 3. Neuordnungsgesetzes (NOG) kann sich der Kläger nicht mit Erfolg berufen. Er hat zwar die zeitlichen Voraussetzungen insofern erfüllt, als er im Dezember 1967 das 55. Lebensjahr bereits vollendet gehabt hatte. Der Grad der MdE ist in seinem Falle aber nicht in den letzten 10 Jahren seit Feststellung nach dem BVG unverändert geblieben. d.h. günstigenfalls vom 1. Februar 1968 an zurückgerechnet bis zum 1. Februar 1958. Denn nach der Verwaltungsvorschrift Nr. 11 § 62 BVG, welche der Senat insbesondere auch deshalb, weil sie im Einklang mit der Rechtsprechung des BSG steht (vgl. Urt. v. 23.6.1963 in Breith. 1963 S. 996 ff. oder BSGE 19, S. 204 bzw. BVBl. 1964 S. 79), für rechtens hält, beginnt die Frist des § 62 Abs. 3 BVG mit dem Zeitpunkt, in welchem die Feststellung rechtlich wirksam geworden ist. Das ist hier der 1. November 1959. Grundlage dafür ist der Zugunstbescheid vom 2. Juli 1964, in den u.a. ausgeführt worden ist, der Erstbescheid nach dem BVG vom 7. August 1956 werde gemäß § 40 VfG (KOV) mit Wirkung von diesem Zeitpunkt an insoweit geändert, als eine geringe Leberrestschädigung nach Hepatitis als Schädigungsfolge mit einem Grade der MdE von 30 v.H. anerkannt werde. Für die Zeit vorher ist an der Rechtskraft des Bescheides vom 7. August 1956 ausdrücklich festgehalten worden. Diesen Zugunstenbescheid hat der Kläger bindend werden lassen (§ 77 SGG). Erfolgreiche Angriffe dagegen kann er nunmehr nicht führen. Insbesondere kann er nicht damit gehört werden, die zugrundeliegenden ärztlichen Untersuchungsergebnisse hätten gezeigt, daß die Schädigungsfolge Ziff. 2) schon 1956 in gleicher Weise vorgelegen habe. Denn er hatte auch den Sachbescheid vom 7. August 1956 nicht mit Erfolg angefochten, ebensowenig den Neufeststellungsbescheid vom 20. April 1961. Wenn ihm auch darin beizupflichten ist, daß § 62 Abs. 3 BVG dem Wortlaut nach nicht den Bezug einer entsprechenden Rente, sondern die Feststellung der unveränderten MdE fordert (vgl. aber Komm. von Wilke, Anm. III zu § 62 BVG und BSG a.a.O.), so kommt er doch nicht daran vorbei, daß diese Feststellung eben erst ab 1. November 1959 erfolgt ist. Daß dies durch einen Zugunstenbescheid geschehen ist, der sich – von den auf der Untersuchung des Klägers in der M. Universitätsklinik vom November 1963 basierenden Ergebnissen ausgehend – eine Rückwirkung von vier Jahren beigemessen und eine weitere Rückdatierung nach Lage des Falles nicht für geboten gehalten hat, ändert am Ergebnis nichts. Diese "anderen rechtlichen Gründe”, wie sie der Kläger in seinem Antrag vom 21. Mai 1968 nennt, sind insoweit relevant, als sie eine Feststellung im Sinne des § 62 Abs. 3 BVG ab 1. November 1959 zur Folge hatten. Vorher bestand sein Anspruch auf Rente nach einer MdE von 30 v.H. wegen der unter Ziff. 2) festgestellten Schädigungsfolge nicht.

Hiernach war der Berufung der Erfolg mit der aus § 193 SGG entnommenen Kostenfolge zu versagen.
Rechtskraft
Aus
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