Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 3 U 184/72
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 1165/73
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Der zur Begründung eines die Rentenleistung ablehnenden Bescheides angegebene MdE-Satz um 15 v.H. ist nicht Teil eines Verfügungssatzes und damit nicht der Bindung fähig.
Bedingen – auch nach Ansicht des UVTr. – die Unfallfolgen später eine MdE um 20 v.H., so ist dem Verletzten die Unfallrente zu gewähren.
Bedingen – auch nach Ansicht des UVTr. – die Unfallfolgen später eine MdE um 20 v.H., so ist dem Verletzten die Unfallrente zu gewähren.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 16. November 1973 insoweit aufgehoben und die Klage abgewiesen, als die Beklagte zur Gewährung einer Verletztenrente bereits für die Zeit vom 1. November 1971 bis zum 31. Dezember 1972 verurteilt worden ist.
Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin ist die Witwe des am 25. September 1976 verstorbenen Ehemannes H. A. (A.), mit dem sie zum Zeitpunkt seines Todes in einem gemeinsamen Haushalt lebte. Als seine Sonderrechtsnachfolgerin streitet sie mit der Beklagten um die Gewährung der Verletztenrente wegen der Verschlimmerung von Unfallfolgen.
Der im Jahre 1902 geborene A. erlitt bei einem Arbeitsunfall am 18. September 1944 eine Verbrennungsverletzung des rechten Auges, aufgrund derer sich ein zentrales Hornhautgeschwür mit zentraler Hornhautnarbe entwickelte. Nach einem Gutachten des Dr. C. (Universitäts-Augenklinik He. vom 2. Juli 1946 war die Sehschärfe rechts auf 5/20 herabgesunken. Das linke Auge verhielt sich normal. In Anführung des Urteils des Oberversicherungsamtes D. (OVA) vom 14. März 1947 gewährte die Beklagte mit dem Bescheid vom 23. August 1947 eine vorläufige Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit – MdE – um 20 v.H. bis zum 31. Dezember 1945. Die Gewährung einer Rente über diesen Zeitraum hinaus lehnte sie ab, "weil die MdE nur noch 15 v.H.” betrage und dadurch die Voraussetzungen zur Gewährung einer Rente nicht mehr gegeben seien.
Einen Antrag des A. vom 13. September 1967 auf Wiedergewährung der Verletztenrente wegen Verschlechterung der Sehkraft des rechten Auges lehnte die Beklagte aufgrund des Gutachtens von Prof. Dr. M. und Oberarzt Dr. K. (Augenklinik F.) vom 9. März 1968 mit Bescheid vom 9. April 1968 ab.
Die Untersuchung am 27. Februar 1968 hatte als Folge des Arbeitsunfalles auf dem rechten Auge nur eine zentrale Hornhautnarbe mit überwachsender Bindehaut auf die Hornhaut ergeben. Die Sehschärfe wurde rechts mit 0,3 (= 5/15) und links 0,67 gemessen sowie mit einer MdE um 10 v.H. bewertet. Ferner führten Prof. Dr. M. und Dr. K. aus, daß ein beginnender Altersstar rechts, der nur zu einem Teil die Herabsetzung der Sehschärfe bedinge, keine Unfallfolge sei. Die gegen diesen Bescheid bei dem Sozialgericht F. ( ) erhobene Klage nahm A. wieder zurück.
Am 22. November 1971 begehrte A. unter Vorlage der Bescheinigung des Augenarztes Dr. Fr. (F.) vom 1. November 1971 erneut die Gewährung der Verletztenrente mit der Begründung, das Flügelfell sei oft entzündet und zur Hornhautmitte vorgewachsen sowie die Sehbeeinträchtigung größer geworden, so daß unabhängig von den altersbedingten Veränderungen die MdE mit 20 v.H. einzuschätzen sei. Hierauf holte die Beklagte zunächst von Prof. Dr. M. und Oberarzt Dr. Hi. (Augenklinik in F.) das Gutachten vom 27. Januar 1972 ein. In ihm führten diese aus, daß nach den am 16. Dezember 1971 erhobenen Befunden die Sehschärfe rechts mit 0,1 (= 5/50) und links mit 0,6 (= 5/7) gemessen worden sei. Als Unfallfolgen bestünden am rechten Auge Hornhautnarben und ein Einwachsen eines Flügelfelles fast bis zur Hornhautmitte. Dagegen stehe die beginnende graue Starbildung des rechten Auges in keinem ursächlichen Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall. Die Zunahme der Sehminderung des rechten Auges von 0,3 auf 0,1 beruhe nicht auf den Unfallfolgen, sondern stehe in Zusammenhang mit dem beginnenden Grauen Star. Die von A. angegebenen stark eingeschränkten Gesichtsfelder stimmten nicht mit dem objektiven Befund überein und seien auch nicht seitengleich und daher nicht unfallbedingt. Da die Sehminderung des rechten Auges mit 0,1 durch den unfallunabhängig beginnenden Grauen Star mitbedingt sei, sei die unfallbedingte MdE mit 10 v.H. zu bilden. Hierauf lehnte die Beklagte durch formloses Schreiben vom 16. Februar 1972 die Wiedergewährung der Verletztenrente ab.
Nachdem A. mit Schreiben vom 10. April 1972 um Überprüfung dieser Ablehnung gebeten hatte, versagte die Beklagte erneut mit formlosem Schreiben vom 19. April 1972 die Gewährung einer Verletztenrente.
Hiergegen hat A. am 8. Mai 1972 bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main – SG – Klage erhoben.
Im Verfahren des ersten Rechtszuges hat die Beklagte den förmlichen Bescheid vom 28. Juni 1972 erteilt. Das SG hat hierauf zunächst von Amts wegen das augenärztliche Gutachten von Prof. Dr. L. und Dr. S. (Stadtkrankenhaus F.) vom 28. März 1973 eingeholt. In ihm wird die Sehschärfe rechts mit 0,05 (1/20) und links mit 0,5 (5/10) angegeben. Als Folge des Arbeitsunfalles bestünden rechts lediglich ein eingewachsenes Flügelfall und darunter stattfindende Kalkeinlagerungen in die Hornhaut. Unfallunabhängig hätten sich an beiden Augen eine altersentsprechende Linsentrübung, Veränderungen der Gefäße im Augenhintergrund i.S. einer Arteriosklerose sowie eine Weitsichtigkeit und rechts außerdem eine Stabsichtigkeit gefunden. A. würde ohne die pathologischen Veränderungen am rechten Auge allein der Unfallfolgen wegen eine Sehschärfe von 0,5 besitzen; die unfallbedingte MdE betrage 15 v.H.
Sodann hat das SG am 16. November 1973 die "Benachrichtigungen” der Beklagten vom 16. Februar und 19. April 1972 in der Fassung des Bescheides vom 28. Juni 1972 aufgehoben und diese verurteilt, A. ab 1. November 1972 eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. der Vollrente zu gewähren, und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte habe mit den formlosen Benachrichtigungen nicht an den früheren Ablehnungsbescheiden festhalten dürfen, da A. die Wiedergewährung der Verletztenrente wegen einer Verschlimmerung von Unfallfolgen geltend gemacht habe. Er habe daher zunächst nach § 79 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz alter Fassung – SGG a.F. – Widerspruch einzulegen gehabt. Die Beklagte habe inzwischen auch einen Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 1972 erteilt, der sich jedoch nicht aufrecht erhalten lasse, da eine wesentliche Verschlimmerung eingetreten sei. Es habe sich am verletzten Auge inzwischen ein Flügelfell gebildet, das ebenso wie die unfallbedingte Gesichtsfeldeinschränkung zu einer wesentlichen Herabsetzung der Sehschärfe führe. Die Beklagte sei daher antragsgemäß zu verurteilen gewesen. Gegen das ihr am 4. Dezember 1973 durch Empfangsbekenntnis zugestellte Urteil hat die Beklagte am 12. Dezember 1973 schriftlich bei dem Hess. Landessozialgericht Berufung eingelegt.
Es ist im Berufungsverfahren von Amts wegen und nach § 109 SGG der Sachverhalt weiter aufgeklärt worden. Zunächst hat auf Antrag des A. nach § 109 SGG der Augenarzt Dr. Fr. das Gutachten vom 24. November 1975 erstattet. In ihm ist ausgeführt, daß seit der letzten Begutachtung im Jahre 1972 sowohl die Unfallfolgen als auch die subjektiven Beschwerden stärker geworden seien. Dies werde auch in dem Vorgutachten festgestellt, aber bei der abschließenden Beurteilung nicht berücksichtigt. Nach dem derzeitigen Befund sei A. zeitweilig fast einen Einäugigen gleichzusetzen und die MdE hierfür mit 25 v.H. anzunehmen. Bei der Befunderhebung am 2. Oktober 1975 habe die Sehschärfe rechts bei 0,05 und links bei 0,5 gelegen. Die altersgemäßen Veränderungen seien rechts wie links etwa gleich. Ferner ist von Amts wegen das Gutachten von Prof. Dr. Do. (Zentrum der Augenheilkunde der Universität F.) vom 8. Mai 1978 nach Aktenlage eingeholt worden. In ihm vertritt der Sachverständige die Auffassung, daß die von dem Sachverständigen Dr. Fr. vorgenommene MdE-Bildung mit 25 v.H. zu hoch gegriffen sei. A. habe nicht einem Verletzten gleichgestanden, der einseitig erblindet gewesen sei. Nach der Befundlage müsse seit der Begutachtung durch Prof. Dr. L. ein MdE-Satz von 20 v.H. in Ansatz gebracht werden.
Die Beklagte legt die aktenmäßige Stellungnahme des Prof. Dr. Sc. (Ma.) vom 3. Januar 1976 vor und führt zur Begründung der Berufung aus: Nach der Befunderhebung durch Prof. L. am 22. Januar 1973 müsse die unfallbedingte MdE mit 20 v.H. angenommen werden. Hierdurch sei jedoch nicht der Nachweis einer wesentlichen Verschlimmerung gegenüber den bindenden Feststellungen in dem Bescheid vom 23. August 1947 geführt, da die Änderung der MdE nur 5 v.H. betrage. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts – BSG – könne ein so geänderter MdE-Satz nicht als wesentlich angesehen werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 16. November 1973 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Revision nicht zuzulassen. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und beruft sich auf die Gutachten des Dr. Fr. sowie des Prof. Dr. Do ...
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Unfall- und Streitakten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt und daher zulässig (§§ 151, 143, 144, 145 SGG).
Sie ist jedoch nur zum Teil begründet.
Zunächst hat das SG im Ergebnis zu Recht angenommen, daß die vor Erlaß des förmlichen Bescheides vom 28. Juni 1972 von A. am 8. Mai 1972 erhobene Klage zulässig war und sich gegen die formlosen Mitteilungen vom 16. Februar und 19. April 1972 richtete. In diesen beiden Schreiben hat die Beklagte unter Wiedergabe der wesentlichen Punkte der Beurteilung im Gutachten des Prof. Dr. M. und des Dr. Hi. vom 27. Januar 1972 dargetan, daß die Unfallfolgen sich nicht in einem solchen Ausmaß verschlimmert hätten, daß nunmehr eine Verletztenrente zu gewähren sei. Sie hat damit den Antrag auf Wiedergewährung der Verletztenrente abgelehnt und somit gegenüber A. auf dem Gebiet des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung eine Regelung getroffen, also Verwaltungsakte erlassen. Mangels förmlicher Zustellung dieser Bescheide konnte eine Rechtsbehelfsfrist nicht in Lauf gesetzt werden, so daß die Klage auch rechtzeitig erhoben ist (§ 87 Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 1569 a, 1590 Reichsversicherungsordnung – RVO –). Der im ersten Rechtszuge am 28. Juni 1972 ergangene förmliche Bescheid, der den Inhalt der formlosen Bescheide wiederholt, gilt hiernach als mit der Klage angefochten (§ 96 SGG). Entgegen der Auffassung des SG handelt es sich bei ihm nicht um einen Widerspruchsbescheid. Er ist weder als solcher bezeichnet noch von der Widerspruchsstelle der Beklagten, sondern von ihrem Rentenausschuß §§ 1569 a, 1583 ff. RVO erlassen. Es hatte vorliegend auch kein Vorverfahren nach § 79 Abs. 2 SGG a.F. stattzufinden, da A. die Neufeststellung einer Anspruchsleistung nach § 622 RVO geltend machte und die Beklagte nicht den Erlaß eines Verwaltungsaktes abgelehnt hat (sogenannte Vornahmeklage). Da die Klägerin nicht auf die Sonderrechtsnachfolge nach ihrem Ehemann A. verzichtet hat (I §§ 56, 57 Sozialgesetzbuch – SGB –), hatte der Senat weiterhin die Rechtmäßigkeit der erlassenen Bescheide zu überprüfen. Diese Überprüfung ergibt, daß die angefochtenen Bescheide insoweit rechtswidrig sind, als die Beklagte unter Berufung auf dieselben die Zahlung der dem A. zugestandenen Verletztenrente ab 1. Januar 1973 verweigert. Seitdem bedingen die Unfallfolgen am rechten Auge eine MdE in rentenberechtigenden Grade, nämlich um 20 v.H. (§ 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO).
Zunächst stellt der Senat fest, daß bei A. als Folgen des Arbeitsunfalles rechts eine zentrale Hornhautnarbe infolge eines Hornhautgeschwürs entstanden ist. Dies ergibt das Gutachten des Dr. C. vom 2. Juli 1946, das Grundlage der Entscheidung des OVA war. Danach ist erwiesen, daß diese Narbe eine Verschlechterung der Durchsichtigkeit der Hornhaut bewirkte. Die Sehschärfe betrug links 5/4 und rechts 5/20 (= 0,25). Nach der auch im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung allgemein anerkannten und angewandten Tabelle der Deutschen Ophtalmologischen Gesellschaft – DOG – ergibt sich insoweit ein MdE-Satz um 5 v.H., der auf 10 v.H. erhöht werden kann (vgl. Günther-Hymmen, Unfallbegutachtung, 5. Aufl., S. 60). Demgemäß hat das OVA unter Bezugnahme auf das Gutachten des Dr. C. die Beklagte verurteilt, A. lediglich eine vorläufige Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. zu gewähren.
Ferner steht fest, daß sich die Sehverhältnisse an beiden Augen seitdem nicht unwesentlich verschlimmert haben, wie das Gutachten des Prof. Dr. L. und des Dr. S. vom 28. März 1973 ergibt. Danach fanden sich bei der Untersuchung des A. am 22. Januar 1973 ein Zustand nach Hornhautgeschwür mit beginnender Kalkeinlagerung in die Hornhaut und eingewachsenem Flügelfell bis zum Hornhautzentrum sowie Stabsichtigkeit rechts und an beiden Augen eine altersentsprechende Linsentrübung, Veränderungen der Gefäße im Augenhintergrund i.S. einer Arteriosklerose sowie Weitsichtigkeit. Von diesen Veränderungen beruhen allerdings lediglich das von nasal bis zur Hornhautmitte vorgewachsene Flügelfell und die sich darunter befindende Kalkeinlagerung in die Hornhaut auf dem Arbeitsunfall. Die übrigen, zum Teil auch am unverletzten Auge gefundenen Gesundheitsstörungen sind dagegen altersbedingt und damit unfallunabhängig entstanden, wie dem Gutachten des Prof. Dr. L. und Dr. S. zu entnehmen ist. Dem haben der von der Beklagten gehörte Prof. Dr. Sc. und im Berufungsverfahren Prof. Dr. Do. zugestimmt. Danach ist auch entgegen der Auffassung des SG und des Sachverständigen Dr. Fr. die Gesichtsfeldeinschränkung nicht unfallbedingt. Diese kann durch die Unfallfolgen nicht erklärt werden. Sie besteht außerdem beidseitig, so daß sie bei der Feststellung der MdE ebenso wie die anderen Nichtunfallfolgen außer Ansatz zu bleiben hat. Hierbei handelt es sich um unfallunabhängige Nachschäden, die von der Beklagten nicht zu entschädigen sind (vgl. BSG, Urteile vom 21. September 1967 – 2 RU 65/66 – in E 27, 142; 29. Mai 1962 – 7/9 RV 634/60 in E 17, 99; 19. Juni 1962 – 11 RV 1188/60 – in E 17, 114; 25. Juni 1963 – 11 RV 1168/62 – in E 19, 201).
Da nach den am 22. Januar 1973 erhobenen Befunden die Sehschärfe rechts nur noch 0,05 betrug, haben sowohl Prof. Dr. Do. als auch Prof. Dr. Sc. zu Recht die unfallbedingte MdE nach der Tabelle der DOG mit 20 v.H. bewertet (vgl. Günther-Hymmen, a.a.O.). Entgegen der Auffassung des SG durfte jedoch dieser MdE-Satz nicht bereits ab 1. November 1971 festgestellt werden. Das SG hat dies nicht begründet. Es lassen sich auch für die Zeit vor Januar 1973 keine Befunde finden, die eine MdE von 20 v.H. rechtfertigen. Die Bescheinigung des Sachverständigen Dr. Fr. vom 1. November 1971 enthält ebenso wie sein Gutachten keine Angaben zur Sehschärfe im Jahre 1971. In dem von Prof. Dr. M. und Dr. Hi. aufgrund der Untersuchung vom 16. Dezember 1971 erstatteten Gutachten vom 27. Januar 1972 wird die Sehschärfe rechts mit 0,1 (= 5/50) angegeben. Nach der Rententabelle der DOG ist dafür ein MdE-Satz von 15 v.H. anzunehmen, wie in dem Gutachten zutreffend ausgeführt ist. Erst der von Prof. Dr. L. und Dr. S. erhobene Befund rechtfertigt eine MdE um 20 v.H., wie oben ausgeführt ist. Die Beklagte stimmt dieser MdE-Bewertung inzwischen zu, wie der Schriftsatz vom 3. Februar 1976 zeigt. Da diese Restsehschärfe nicht erst am Tag der Untersuchung, nämlich am 22. Januar 1973 bestanden, sondern sich schon etwas früher eingestellt haben wird, hat der Senat den Beginn der MdE mit 20 v.H. bereits ab 1. Januar 1973 festgesetzt.
Die Beklagte meint nun, daß sie, obwohl ein rentenberechtigender Grad der MdE um 20 v.H. ab 1. Januar 1973 gegeben ist (§ 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO), zur Rentengewährung nicht verpflichtet sei, da keine wesentliche Änderung der Verhältnisse vorliege. Damit kann sie hier aber keinen Erfolg haben. Nach der Rechtsprechung des 2. Senats des BSG ist es zutreffend, daß eine wesentliche Änderung nach § 622 RVO nur dann vorliegt, wenn die MdE, die für die Feststellung der Leistung maßgebend gewesen ist, sich um mehr als 5 v.H. ändert (vgl. BSG, Urteile vom 2. März 1971 – 2 RU 39/70 – in E 32, 245; 2 RU 186/68 und 2 RU 300/68, beide unveröffentlicht). Das setzt aber voraus, daß überhaupt eine Leistung mit einer gewissen Dauerwirkung festgestellt worden ist (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 2 b zu § 622 RVO). Daher nehmen nämlich regelmäßig nur bei der Bewilligung einer Verletztenrente der – hier nicht streitige – Jahresarbeitsverdienst und "das Maß der MdE” als unentbehrliche Grundlagen für die Rentenberechnung an der Bindung teil. Solche für eine Renten- oder Leistungsberechnung unerläßliche Berechnungsgrundlagen können jedoch dann grundsätzlich nicht zum Verfügungssatz des Bescheides gerechnet werden, wenn eine Leistung abgelehnt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 21. März 1974 – 8/2 RU 55/72 – in E 37, 177 mit weiteren Nachweisen und vom 28. April 1976 – 2 RU 291/74 – unveröffentlicht). Das bedeutet, daß bezüglich eines ablehnenden Rentenbescheides der in ihm genannte MdE-Satz keiner Bindung fähig wird. Dementsprechend kann sich bei vorangegangenen Rentenablehnungen oder -entziehungen das Problem nicht stellen, daß im Sinne der o.a. Rechtsprechung des 2. Senats des BSG der Nachweis der wesentlichen Änderung zu führen ist. Entscheidend und damit wesentlich ist vielmehr, ob ein rentenberechtigender Grad der MdE erreicht wird. So liegt der hiesige Fall aber. Das OVA hatte dem A. lediglich eine vorläufige Verletztenrente zuerkannt und damit gleichzeitig für die Zeit nach dem 31. Dezember 1945 die Dauerrente abgelehnt. Nichts anderes besagt auch der Ausführungsbescheid vom 23. August 1947, in dem nochmals daraufhingewiesen ist, daß die MdE mit 15 v.H. unter dem rentenberechtigenden MdE-Satz von 20 v.H. liege. Erkennbar diente die Mitteilung der MdE um 15 v.H. lediglich der Begründung für die Ablehnung der Dauerrente. Eine andere Betrachtungsweise ist nach dem Wortlaut und Sinn des § 622 RVO nicht zu begründen. Die Unfallversicherungsträger nehmen auch umgekehrt für sich – zu Recht – in Anspruch, bei der Prüfung der Frage, ob nach dem Eintritt eines zweiten Arbeitsunfalls die sogenannte Kleinrente für den ersten Arbeitsunfall zu gewähren ist (§ 581 Abs. 3 RVO), entgegen früheren Feststellungen von MdE-Sätzen in bindend gewordenen Rentenablehnungsbescheiden die MdE erneut zu beurteilen (BSG, Urteile vom 30. Juli 1968 – 2 RU 79/67 – unveröffentlicht; 7. März 1969 – 2 RU 121/66 in SozR Nr. 5 zu § 581 RVO). So wie in diesen Fällen den Unfallversicherungsträger die in dem früheren Ablehnungsbescheid festgehaltene MdE nicht bindet, gilt dies auch gegenüber dem Versicherten, beantragt er nach einer solchen Ablehnung später die Wiedergewährung oder überhaupt erst eine sogenannte Erstgewährung der Verletztenrente. Zutreffend hat das SG insoweit erwogen, daß in den Fällen der vorliegenden Art nach der Ansicht der Beklagten dem Verletzten abweichend von § 581 Abs. 1 RVO die Verletztenrente nicht schon bei einer MdE um 20 v.H., sondern erst bei einer solchen um 25 v.H. gewährt werden dürfte. § 622 RVO dient aber nicht dazu, § 581 Abs. 1 RVO außer Kraft zu setzen.
Nach alledem war daher die Beklagte verpflichtet, dem A. vom 1. Januar 1973 an eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. zu gewähren. Der auf die Klägerin übergegangene Anspruch ist auf das Ende des Monats, in dem A. verstarb, also bis zum 30. September 1976 begrenzt (§ 631 RVO).
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 193, 160 SGG.
Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin ist die Witwe des am 25. September 1976 verstorbenen Ehemannes H. A. (A.), mit dem sie zum Zeitpunkt seines Todes in einem gemeinsamen Haushalt lebte. Als seine Sonderrechtsnachfolgerin streitet sie mit der Beklagten um die Gewährung der Verletztenrente wegen der Verschlimmerung von Unfallfolgen.
Der im Jahre 1902 geborene A. erlitt bei einem Arbeitsunfall am 18. September 1944 eine Verbrennungsverletzung des rechten Auges, aufgrund derer sich ein zentrales Hornhautgeschwür mit zentraler Hornhautnarbe entwickelte. Nach einem Gutachten des Dr. C. (Universitäts-Augenklinik He. vom 2. Juli 1946 war die Sehschärfe rechts auf 5/20 herabgesunken. Das linke Auge verhielt sich normal. In Anführung des Urteils des Oberversicherungsamtes D. (OVA) vom 14. März 1947 gewährte die Beklagte mit dem Bescheid vom 23. August 1947 eine vorläufige Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit – MdE – um 20 v.H. bis zum 31. Dezember 1945. Die Gewährung einer Rente über diesen Zeitraum hinaus lehnte sie ab, "weil die MdE nur noch 15 v.H.” betrage und dadurch die Voraussetzungen zur Gewährung einer Rente nicht mehr gegeben seien.
Einen Antrag des A. vom 13. September 1967 auf Wiedergewährung der Verletztenrente wegen Verschlechterung der Sehkraft des rechten Auges lehnte die Beklagte aufgrund des Gutachtens von Prof. Dr. M. und Oberarzt Dr. K. (Augenklinik F.) vom 9. März 1968 mit Bescheid vom 9. April 1968 ab.
Die Untersuchung am 27. Februar 1968 hatte als Folge des Arbeitsunfalles auf dem rechten Auge nur eine zentrale Hornhautnarbe mit überwachsender Bindehaut auf die Hornhaut ergeben. Die Sehschärfe wurde rechts mit 0,3 (= 5/15) und links 0,67 gemessen sowie mit einer MdE um 10 v.H. bewertet. Ferner führten Prof. Dr. M. und Dr. K. aus, daß ein beginnender Altersstar rechts, der nur zu einem Teil die Herabsetzung der Sehschärfe bedinge, keine Unfallfolge sei. Die gegen diesen Bescheid bei dem Sozialgericht F. ( ) erhobene Klage nahm A. wieder zurück.
Am 22. November 1971 begehrte A. unter Vorlage der Bescheinigung des Augenarztes Dr. Fr. (F.) vom 1. November 1971 erneut die Gewährung der Verletztenrente mit der Begründung, das Flügelfell sei oft entzündet und zur Hornhautmitte vorgewachsen sowie die Sehbeeinträchtigung größer geworden, so daß unabhängig von den altersbedingten Veränderungen die MdE mit 20 v.H. einzuschätzen sei. Hierauf holte die Beklagte zunächst von Prof. Dr. M. und Oberarzt Dr. Hi. (Augenklinik in F.) das Gutachten vom 27. Januar 1972 ein. In ihm führten diese aus, daß nach den am 16. Dezember 1971 erhobenen Befunden die Sehschärfe rechts mit 0,1 (= 5/50) und links mit 0,6 (= 5/7) gemessen worden sei. Als Unfallfolgen bestünden am rechten Auge Hornhautnarben und ein Einwachsen eines Flügelfelles fast bis zur Hornhautmitte. Dagegen stehe die beginnende graue Starbildung des rechten Auges in keinem ursächlichen Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall. Die Zunahme der Sehminderung des rechten Auges von 0,3 auf 0,1 beruhe nicht auf den Unfallfolgen, sondern stehe in Zusammenhang mit dem beginnenden Grauen Star. Die von A. angegebenen stark eingeschränkten Gesichtsfelder stimmten nicht mit dem objektiven Befund überein und seien auch nicht seitengleich und daher nicht unfallbedingt. Da die Sehminderung des rechten Auges mit 0,1 durch den unfallunabhängig beginnenden Grauen Star mitbedingt sei, sei die unfallbedingte MdE mit 10 v.H. zu bilden. Hierauf lehnte die Beklagte durch formloses Schreiben vom 16. Februar 1972 die Wiedergewährung der Verletztenrente ab.
Nachdem A. mit Schreiben vom 10. April 1972 um Überprüfung dieser Ablehnung gebeten hatte, versagte die Beklagte erneut mit formlosem Schreiben vom 19. April 1972 die Gewährung einer Verletztenrente.
Hiergegen hat A. am 8. Mai 1972 bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main – SG – Klage erhoben.
Im Verfahren des ersten Rechtszuges hat die Beklagte den förmlichen Bescheid vom 28. Juni 1972 erteilt. Das SG hat hierauf zunächst von Amts wegen das augenärztliche Gutachten von Prof. Dr. L. und Dr. S. (Stadtkrankenhaus F.) vom 28. März 1973 eingeholt. In ihm wird die Sehschärfe rechts mit 0,05 (1/20) und links mit 0,5 (5/10) angegeben. Als Folge des Arbeitsunfalles bestünden rechts lediglich ein eingewachsenes Flügelfall und darunter stattfindende Kalkeinlagerungen in die Hornhaut. Unfallunabhängig hätten sich an beiden Augen eine altersentsprechende Linsentrübung, Veränderungen der Gefäße im Augenhintergrund i.S. einer Arteriosklerose sowie eine Weitsichtigkeit und rechts außerdem eine Stabsichtigkeit gefunden. A. würde ohne die pathologischen Veränderungen am rechten Auge allein der Unfallfolgen wegen eine Sehschärfe von 0,5 besitzen; die unfallbedingte MdE betrage 15 v.H.
Sodann hat das SG am 16. November 1973 die "Benachrichtigungen” der Beklagten vom 16. Februar und 19. April 1972 in der Fassung des Bescheides vom 28. Juni 1972 aufgehoben und diese verurteilt, A. ab 1. November 1972 eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. der Vollrente zu gewähren, und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte habe mit den formlosen Benachrichtigungen nicht an den früheren Ablehnungsbescheiden festhalten dürfen, da A. die Wiedergewährung der Verletztenrente wegen einer Verschlimmerung von Unfallfolgen geltend gemacht habe. Er habe daher zunächst nach § 79 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz alter Fassung – SGG a.F. – Widerspruch einzulegen gehabt. Die Beklagte habe inzwischen auch einen Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 1972 erteilt, der sich jedoch nicht aufrecht erhalten lasse, da eine wesentliche Verschlimmerung eingetreten sei. Es habe sich am verletzten Auge inzwischen ein Flügelfell gebildet, das ebenso wie die unfallbedingte Gesichtsfeldeinschränkung zu einer wesentlichen Herabsetzung der Sehschärfe führe. Die Beklagte sei daher antragsgemäß zu verurteilen gewesen. Gegen das ihr am 4. Dezember 1973 durch Empfangsbekenntnis zugestellte Urteil hat die Beklagte am 12. Dezember 1973 schriftlich bei dem Hess. Landessozialgericht Berufung eingelegt.
Es ist im Berufungsverfahren von Amts wegen und nach § 109 SGG der Sachverhalt weiter aufgeklärt worden. Zunächst hat auf Antrag des A. nach § 109 SGG der Augenarzt Dr. Fr. das Gutachten vom 24. November 1975 erstattet. In ihm ist ausgeführt, daß seit der letzten Begutachtung im Jahre 1972 sowohl die Unfallfolgen als auch die subjektiven Beschwerden stärker geworden seien. Dies werde auch in dem Vorgutachten festgestellt, aber bei der abschließenden Beurteilung nicht berücksichtigt. Nach dem derzeitigen Befund sei A. zeitweilig fast einen Einäugigen gleichzusetzen und die MdE hierfür mit 25 v.H. anzunehmen. Bei der Befunderhebung am 2. Oktober 1975 habe die Sehschärfe rechts bei 0,05 und links bei 0,5 gelegen. Die altersgemäßen Veränderungen seien rechts wie links etwa gleich. Ferner ist von Amts wegen das Gutachten von Prof. Dr. Do. (Zentrum der Augenheilkunde der Universität F.) vom 8. Mai 1978 nach Aktenlage eingeholt worden. In ihm vertritt der Sachverständige die Auffassung, daß die von dem Sachverständigen Dr. Fr. vorgenommene MdE-Bildung mit 25 v.H. zu hoch gegriffen sei. A. habe nicht einem Verletzten gleichgestanden, der einseitig erblindet gewesen sei. Nach der Befundlage müsse seit der Begutachtung durch Prof. Dr. L. ein MdE-Satz von 20 v.H. in Ansatz gebracht werden.
Die Beklagte legt die aktenmäßige Stellungnahme des Prof. Dr. Sc. (Ma.) vom 3. Januar 1976 vor und führt zur Begründung der Berufung aus: Nach der Befunderhebung durch Prof. L. am 22. Januar 1973 müsse die unfallbedingte MdE mit 20 v.H. angenommen werden. Hierdurch sei jedoch nicht der Nachweis einer wesentlichen Verschlimmerung gegenüber den bindenden Feststellungen in dem Bescheid vom 23. August 1947 geführt, da die Änderung der MdE nur 5 v.H. betrage. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts – BSG – könne ein so geänderter MdE-Satz nicht als wesentlich angesehen werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 16. November 1973 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Revision nicht zuzulassen. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und beruft sich auf die Gutachten des Dr. Fr. sowie des Prof. Dr. Do ...
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Unfall- und Streitakten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt und daher zulässig (§§ 151, 143, 144, 145 SGG).
Sie ist jedoch nur zum Teil begründet.
Zunächst hat das SG im Ergebnis zu Recht angenommen, daß die vor Erlaß des förmlichen Bescheides vom 28. Juni 1972 von A. am 8. Mai 1972 erhobene Klage zulässig war und sich gegen die formlosen Mitteilungen vom 16. Februar und 19. April 1972 richtete. In diesen beiden Schreiben hat die Beklagte unter Wiedergabe der wesentlichen Punkte der Beurteilung im Gutachten des Prof. Dr. M. und des Dr. Hi. vom 27. Januar 1972 dargetan, daß die Unfallfolgen sich nicht in einem solchen Ausmaß verschlimmert hätten, daß nunmehr eine Verletztenrente zu gewähren sei. Sie hat damit den Antrag auf Wiedergewährung der Verletztenrente abgelehnt und somit gegenüber A. auf dem Gebiet des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung eine Regelung getroffen, also Verwaltungsakte erlassen. Mangels förmlicher Zustellung dieser Bescheide konnte eine Rechtsbehelfsfrist nicht in Lauf gesetzt werden, so daß die Klage auch rechtzeitig erhoben ist (§ 87 Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 1569 a, 1590 Reichsversicherungsordnung – RVO –). Der im ersten Rechtszuge am 28. Juni 1972 ergangene förmliche Bescheid, der den Inhalt der formlosen Bescheide wiederholt, gilt hiernach als mit der Klage angefochten (§ 96 SGG). Entgegen der Auffassung des SG handelt es sich bei ihm nicht um einen Widerspruchsbescheid. Er ist weder als solcher bezeichnet noch von der Widerspruchsstelle der Beklagten, sondern von ihrem Rentenausschuß §§ 1569 a, 1583 ff. RVO erlassen. Es hatte vorliegend auch kein Vorverfahren nach § 79 Abs. 2 SGG a.F. stattzufinden, da A. die Neufeststellung einer Anspruchsleistung nach § 622 RVO geltend machte und die Beklagte nicht den Erlaß eines Verwaltungsaktes abgelehnt hat (sogenannte Vornahmeklage). Da die Klägerin nicht auf die Sonderrechtsnachfolge nach ihrem Ehemann A. verzichtet hat (I §§ 56, 57 Sozialgesetzbuch – SGB –), hatte der Senat weiterhin die Rechtmäßigkeit der erlassenen Bescheide zu überprüfen. Diese Überprüfung ergibt, daß die angefochtenen Bescheide insoweit rechtswidrig sind, als die Beklagte unter Berufung auf dieselben die Zahlung der dem A. zugestandenen Verletztenrente ab 1. Januar 1973 verweigert. Seitdem bedingen die Unfallfolgen am rechten Auge eine MdE in rentenberechtigenden Grade, nämlich um 20 v.H. (§ 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO).
Zunächst stellt der Senat fest, daß bei A. als Folgen des Arbeitsunfalles rechts eine zentrale Hornhautnarbe infolge eines Hornhautgeschwürs entstanden ist. Dies ergibt das Gutachten des Dr. C. vom 2. Juli 1946, das Grundlage der Entscheidung des OVA war. Danach ist erwiesen, daß diese Narbe eine Verschlechterung der Durchsichtigkeit der Hornhaut bewirkte. Die Sehschärfe betrug links 5/4 und rechts 5/20 (= 0,25). Nach der auch im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung allgemein anerkannten und angewandten Tabelle der Deutschen Ophtalmologischen Gesellschaft – DOG – ergibt sich insoweit ein MdE-Satz um 5 v.H., der auf 10 v.H. erhöht werden kann (vgl. Günther-Hymmen, Unfallbegutachtung, 5. Aufl., S. 60). Demgemäß hat das OVA unter Bezugnahme auf das Gutachten des Dr. C. die Beklagte verurteilt, A. lediglich eine vorläufige Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. zu gewähren.
Ferner steht fest, daß sich die Sehverhältnisse an beiden Augen seitdem nicht unwesentlich verschlimmert haben, wie das Gutachten des Prof. Dr. L. und des Dr. S. vom 28. März 1973 ergibt. Danach fanden sich bei der Untersuchung des A. am 22. Januar 1973 ein Zustand nach Hornhautgeschwür mit beginnender Kalkeinlagerung in die Hornhaut und eingewachsenem Flügelfell bis zum Hornhautzentrum sowie Stabsichtigkeit rechts und an beiden Augen eine altersentsprechende Linsentrübung, Veränderungen der Gefäße im Augenhintergrund i.S. einer Arteriosklerose sowie Weitsichtigkeit. Von diesen Veränderungen beruhen allerdings lediglich das von nasal bis zur Hornhautmitte vorgewachsene Flügelfell und die sich darunter befindende Kalkeinlagerung in die Hornhaut auf dem Arbeitsunfall. Die übrigen, zum Teil auch am unverletzten Auge gefundenen Gesundheitsstörungen sind dagegen altersbedingt und damit unfallunabhängig entstanden, wie dem Gutachten des Prof. Dr. L. und Dr. S. zu entnehmen ist. Dem haben der von der Beklagten gehörte Prof. Dr. Sc. und im Berufungsverfahren Prof. Dr. Do. zugestimmt. Danach ist auch entgegen der Auffassung des SG und des Sachverständigen Dr. Fr. die Gesichtsfeldeinschränkung nicht unfallbedingt. Diese kann durch die Unfallfolgen nicht erklärt werden. Sie besteht außerdem beidseitig, so daß sie bei der Feststellung der MdE ebenso wie die anderen Nichtunfallfolgen außer Ansatz zu bleiben hat. Hierbei handelt es sich um unfallunabhängige Nachschäden, die von der Beklagten nicht zu entschädigen sind (vgl. BSG, Urteile vom 21. September 1967 – 2 RU 65/66 – in E 27, 142; 29. Mai 1962 – 7/9 RV 634/60 in E 17, 99; 19. Juni 1962 – 11 RV 1188/60 – in E 17, 114; 25. Juni 1963 – 11 RV 1168/62 – in E 19, 201).
Da nach den am 22. Januar 1973 erhobenen Befunden die Sehschärfe rechts nur noch 0,05 betrug, haben sowohl Prof. Dr. Do. als auch Prof. Dr. Sc. zu Recht die unfallbedingte MdE nach der Tabelle der DOG mit 20 v.H. bewertet (vgl. Günther-Hymmen, a.a.O.). Entgegen der Auffassung des SG durfte jedoch dieser MdE-Satz nicht bereits ab 1. November 1971 festgestellt werden. Das SG hat dies nicht begründet. Es lassen sich auch für die Zeit vor Januar 1973 keine Befunde finden, die eine MdE von 20 v.H. rechtfertigen. Die Bescheinigung des Sachverständigen Dr. Fr. vom 1. November 1971 enthält ebenso wie sein Gutachten keine Angaben zur Sehschärfe im Jahre 1971. In dem von Prof. Dr. M. und Dr. Hi. aufgrund der Untersuchung vom 16. Dezember 1971 erstatteten Gutachten vom 27. Januar 1972 wird die Sehschärfe rechts mit 0,1 (= 5/50) angegeben. Nach der Rententabelle der DOG ist dafür ein MdE-Satz von 15 v.H. anzunehmen, wie in dem Gutachten zutreffend ausgeführt ist. Erst der von Prof. Dr. L. und Dr. S. erhobene Befund rechtfertigt eine MdE um 20 v.H., wie oben ausgeführt ist. Die Beklagte stimmt dieser MdE-Bewertung inzwischen zu, wie der Schriftsatz vom 3. Februar 1976 zeigt. Da diese Restsehschärfe nicht erst am Tag der Untersuchung, nämlich am 22. Januar 1973 bestanden, sondern sich schon etwas früher eingestellt haben wird, hat der Senat den Beginn der MdE mit 20 v.H. bereits ab 1. Januar 1973 festgesetzt.
Die Beklagte meint nun, daß sie, obwohl ein rentenberechtigender Grad der MdE um 20 v.H. ab 1. Januar 1973 gegeben ist (§ 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO), zur Rentengewährung nicht verpflichtet sei, da keine wesentliche Änderung der Verhältnisse vorliege. Damit kann sie hier aber keinen Erfolg haben. Nach der Rechtsprechung des 2. Senats des BSG ist es zutreffend, daß eine wesentliche Änderung nach § 622 RVO nur dann vorliegt, wenn die MdE, die für die Feststellung der Leistung maßgebend gewesen ist, sich um mehr als 5 v.H. ändert (vgl. BSG, Urteile vom 2. März 1971 – 2 RU 39/70 – in E 32, 245; 2 RU 186/68 und 2 RU 300/68, beide unveröffentlicht). Das setzt aber voraus, daß überhaupt eine Leistung mit einer gewissen Dauerwirkung festgestellt worden ist (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 2 b zu § 622 RVO). Daher nehmen nämlich regelmäßig nur bei der Bewilligung einer Verletztenrente der – hier nicht streitige – Jahresarbeitsverdienst und "das Maß der MdE” als unentbehrliche Grundlagen für die Rentenberechnung an der Bindung teil. Solche für eine Renten- oder Leistungsberechnung unerläßliche Berechnungsgrundlagen können jedoch dann grundsätzlich nicht zum Verfügungssatz des Bescheides gerechnet werden, wenn eine Leistung abgelehnt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 21. März 1974 – 8/2 RU 55/72 – in E 37, 177 mit weiteren Nachweisen und vom 28. April 1976 – 2 RU 291/74 – unveröffentlicht). Das bedeutet, daß bezüglich eines ablehnenden Rentenbescheides der in ihm genannte MdE-Satz keiner Bindung fähig wird. Dementsprechend kann sich bei vorangegangenen Rentenablehnungen oder -entziehungen das Problem nicht stellen, daß im Sinne der o.a. Rechtsprechung des 2. Senats des BSG der Nachweis der wesentlichen Änderung zu führen ist. Entscheidend und damit wesentlich ist vielmehr, ob ein rentenberechtigender Grad der MdE erreicht wird. So liegt der hiesige Fall aber. Das OVA hatte dem A. lediglich eine vorläufige Verletztenrente zuerkannt und damit gleichzeitig für die Zeit nach dem 31. Dezember 1945 die Dauerrente abgelehnt. Nichts anderes besagt auch der Ausführungsbescheid vom 23. August 1947, in dem nochmals daraufhingewiesen ist, daß die MdE mit 15 v.H. unter dem rentenberechtigenden MdE-Satz von 20 v.H. liege. Erkennbar diente die Mitteilung der MdE um 15 v.H. lediglich der Begründung für die Ablehnung der Dauerrente. Eine andere Betrachtungsweise ist nach dem Wortlaut und Sinn des § 622 RVO nicht zu begründen. Die Unfallversicherungsträger nehmen auch umgekehrt für sich – zu Recht – in Anspruch, bei der Prüfung der Frage, ob nach dem Eintritt eines zweiten Arbeitsunfalls die sogenannte Kleinrente für den ersten Arbeitsunfall zu gewähren ist (§ 581 Abs. 3 RVO), entgegen früheren Feststellungen von MdE-Sätzen in bindend gewordenen Rentenablehnungsbescheiden die MdE erneut zu beurteilen (BSG, Urteile vom 30. Juli 1968 – 2 RU 79/67 – unveröffentlicht; 7. März 1969 – 2 RU 121/66 in SozR Nr. 5 zu § 581 RVO). So wie in diesen Fällen den Unfallversicherungsträger die in dem früheren Ablehnungsbescheid festgehaltene MdE nicht bindet, gilt dies auch gegenüber dem Versicherten, beantragt er nach einer solchen Ablehnung später die Wiedergewährung oder überhaupt erst eine sogenannte Erstgewährung der Verletztenrente. Zutreffend hat das SG insoweit erwogen, daß in den Fällen der vorliegenden Art nach der Ansicht der Beklagten dem Verletzten abweichend von § 581 Abs. 1 RVO die Verletztenrente nicht schon bei einer MdE um 20 v.H., sondern erst bei einer solchen um 25 v.H. gewährt werden dürfte. § 622 RVO dient aber nicht dazu, § 581 Abs. 1 RVO außer Kraft zu setzen.
Nach alledem war daher die Beklagte verpflichtet, dem A. vom 1. Januar 1973 an eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. zu gewähren. Der auf die Klägerin übergegangene Anspruch ist auf das Ende des Monats, in dem A. verstarb, also bis zum 30. September 1976 begrenzt (§ 631 RVO).
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 193, 160 SGG.
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