L 3 U 426/78

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 3 U 111/77
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 426/78
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
§ 539 Abs. 1 Nr. 4 RVO findet keine Anwendung auf Personen, die das Arbeitsamt aufsuchen, um – nach Erschöpfung ihres Anspruchs auf Arbeitslosengeld – einen Antrag auf Gewährung von Arbeitslosenhilfe abzugeben.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 9. Februar 1978 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die im Jahre 1919 geborene Klägerin stürzte am 7. Februar 1977 im Flur des Erdgeschosses des Arbeitsamtes Wetzlar (im folgenden: Arbeitsamt) und zog sich hier eine Unterarmradiusfraktur links zu. Nach der förmlichen Unfallanzeige des Arbeitsamtes hatte sie beabsichtigt, im Anschluß an das ihr bis zum 3. Februar 1977 bewilligte Arbeitslosengeld – Alg – Arbeitslosenhilfe-Alhi – zu beantragen. Den Antrag gab sie bei dem Arbeitsamtsangestellten M. nach dem Unfall noch ab, ehe sie einen Arzt aufsuchte. Mit Schreiben vom 21. April 1977 teilte das Arbeitsamt mit, daß die Klägerin zur Unfallzeit nicht der Meldepflicht nach § 132 des Arbeitsförderungsgesetzes – AFG – unterlegen habe und der Antrag auf Alhi mangels Bedürftigkeit zurückgewiesen worden sei. Mit Bescheid vom 8. Juni 1977 lehnte die Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung – BAfU – die Gewährung der Unfallentschädigung ab, da die Klägerin am Unfalltag mangels Meldepflicht nicht zum versicherten Personenkreis gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 4 Reichsversicherungsordnung – RVO – gehört habe. Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin bei dem Sozialgericht Gießen – SG – am 27. Juni 1977 Klage erhoben und geltend gemacht, sie sei auf Aufforderung des Vermittlers B. am Unfalltag zum Arbeitsamt gegangen. Das SG hat die Akten des Arbeitsamtes (II/4-9000/91487) beigezogen, die Klägerin persönlich gehört und die Auskünfte des Vermittlers B. vom 7. Dezember 1977 und 3. Januar 1978 eingeholt. Die Klägerin hat angegeben, daß ihr von dem Vermittler B., der im ersten Stockwerk des Arbeitsamtes sein Dienstzimmer habe, empfohlen worden sei, wegen einer Vermittlung alle vier bis sieben Wochen vorzusprechen. Am Unfalltag habe sie im Erdgeschoß des Arbeitsamtes den Antrag auf Anschluß-Alhi abgeben wollen. Der Vermittler B. teilte mit, daß die Klägerin bei ihm zuletzt am 3. Januar 1977 zwecks Arbeitsberatung bzw. Vermittlung vorgesprochen habe. Es könne nicht mehr festgestellt werden, ob für die nächste Vorsprache ein fester Termin, vereinbart gewesen sei. Arbeitslosen Arbeitsuchenden würde es im allgemeinen empfohlen, Leistungsanträge persönlich zu stellen, damit evtl. bestehende Unklarheiten sofort beseitigt werden könnten. Der Antrag auf Alhi sei der Klägerin von der Hauptstelle der Bundesanstalt für Arbeit – BA – in Nürnberg direkt mit einem Vordruck zugesandt worden, in dem es u.a. heiße, daß sie den Antrag persönlich abgeben solle. Sodann hat das SG die BAfU am 9. Februar 1973 verurteilt, der Klägerin den Sturz vom 7. Februar 1977 als Arbeitsunfall zu entschädigen und die Forderung ab 1. Januar 1978 in gesetzlichem Umfange zu verzinsen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Gegen dieses ihr am 29. März 1978 zugestellte Urteil hat die BAfU bei dem Hess. LSG am 20. April 1978 schriftlich Berufung eingelegt und zu deren Begründung vorgebracht: Das SG habe nicht beachtet, daß nach ständiger Rechtsprechung Wege im Zusammenhang mit der Beantragung von Alg oder Alhi nicht dem Versicherungsschutz unterlägen. Auf einem solchen Wege sei die Klägerin aber verunglückt. Sie habe nicht der Meldepflicht unterlegen. Auch das mit den Anträgen auf Alhi übersandte Anschreiben der Hauptstelle der BA habe keine Meldepflicht begründet.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 9. Februar 1978 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Streit- und Arbeitsamtsakten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Im Urteilseingang ist – entgegen dem Urteil des SG – die BA als Beklagte aufzuführen. Die BAfU hat mit dem angefochtenen Bescheid lediglich die der BA gemäß §§ 3, 249, 251 AFG als Träger der Versicherung obliegenden Aufgaben wahrgenommen (§ 766 Abs. 1 S. 1 RVO; vgl. BSG, Urt. v. 29.5.1973 – 2 RU 97/71 – in E 36, 39).

Die statthafte Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt und daher zulässig.

Sie ist auch begründet. Das auf die zulässige Klage ergangene sozialgerichtliche Urteil konnte nicht aufrecht erhalten bleiben. Das SG hat den angefochtenen Bescheid zu Unrecht aufgehoben. Er ist nicht rechtswidrig. Die Klägerin hat am 7. Februar 1977 keinen Arbeitsunfall erlitten, da sie nicht zum versicherten Personenkreis gehörte (§ 539 Abs. 1 Nr. 4 RVO).

Zunächst stellt der Senat fest: Die Klägerin war bei dem Arbeitsamt als arbeitslose Arbeitsuchende gemeldet und hatte Alg bezogen. Dieser Anspruch war mit Ablauf des 3. Februar 1977 (Donnerstag) erschöpft. Am 7. Februar 1977 (Montag) begab sie sich mit den Antragsvordrucken auf Gewährung der Anschluß-Alhi zum Arbeitsamt, um sie dort abzugeben. Diese waren ihr einige Zeit zuvor von der Hauptstelle der Beklagten mit einem Anschreiben zugesandt worden, in dem es u.a. wörtlich heißt: "Den Antragsvordruck geben sie bitte persönlich bei der für sie zuständigen Arbeitsamtsdienststelle ab, damit Unklarheiten sofort beseitigt werden können. Sie vermeiden dadurch zeitraubende Rückfragen.” Vor Abgabe der Antragsvordrucke bei dem Angestellten M. stürzte sie im Flur des Erdgeschosses des Arbeitsamtes und zog sich dabei eine Unterarmradiusfraktur links zu. Der Vermittler B. der im ersten Stockwerk des Arbeitsamtes sein Dienstzimmer hat, und bei dem sie zur Arbeitsberatung zuletzt am 3. Januar 1977 vorgesprochen hatte, hatte sie nicht für den Unfalltag bestellt, sondern nur ganz allgemein empfohlen, sie möge alle vier bis sieben Wochen vorsprechen. Dieser Sachverhalt ergibt sich aus den Angaben der Klägerin und des Arbeitsamtes während des Verwaltungsverfahrens und im ersten Rechtszuge. Er ist unter den Beteiligten auch unstreitig.

Nach § 539 Abs. 1 Nr. 4 RVO sind gegen Arbeitsunfall Personen versichert, die nach den Vorschriften des AFG oder im Vollzug des Bundessozialhilfegesetzes – BSHG – der Meldepflicht unterliegen, wenn sie entweder zur Erfüllung ihrer Meldepflicht die hierfür bestimmte Stelle aufsuchen oder auf Aufforderung einer Dienststelle der BA oder einer seemännischen Heuerstelle diese oder andere Stellen aufsuchen. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Die Klägerin hatte sich, als sie verunglückte, nicht zur Erfüllung ihrer Meldepflicht zum Arbeitsamt begeben, da sie einen Antrag auf Gewährung der Alhi zu stellen beabsichtigte (§ 539 Abs. 1 Nr. 4 a RVO).

Der Senat kann es daher offenlassen, ob das Anschreiben der Hauptstelle der Beklagten, mit dem es die Antragsvordrucke für die Alhi übersandte, eine Aufforderung i.S. von § 539 Abs. 1 Nr. 4 b RVO enthielt. Die dahingehende Auffassung des SG läßt sich vertreten, da schon eine allgemeine, genügend bestimmte Aufforderung über Presse oder Rundfunk ausreicht (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand April 1972, Bd. II, S. 472 f I unter Hinweis auf Schröder-Printzen in SozSich 1958, 72 und den Runderlaß der BA vom 9. April 1962 in Dienstblatt S. 303). Auch § 3 der seit dem 1. April 1973 geltenden Anordnung des Verwaltungsrates der BA über die Meldepflicht – Meldeanordnung – vom 14. Dezember 1972 (ANBA 1973, 245) knüpft die Aufforderung des Arbeitsamtes an den Meldepflichtigen an keine bestimmte Form.

Die Klägerin war jedenfalls im Unfallzeitpunkt nicht gegen Arbeitsunfall versichert, weil sie nicht der Meldepflicht unterlag. Nach § 132 Abs. 1 AFG besteht die Meldepflicht lediglich für den Arbeitslosen, der einen Anspruch auf Alg erhebt. Dieser war hier aber bereits am 3. Februar 1977 erschöpft. Die Klägerin war, als sie am 7. Februar 1977 das Arbeitsamt aufsuchte, nicht mehr Bezieherin von Alg. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt auch keinen Anspruch auf diese Leistung erhoben, d.h., geltend gemacht. Zwar ist es zutreffend, wie das SG ausgeführt hat, daß die Meldepflicht auch dann besteht, wenn der Arbeitslose Alhi beantragt, da in diesem Leistungsbereich nach § 134 Abs. 2 AFG auch § 132 Abs. 1 AFG anzuwenden ist (Schönfelder-Kranz-Wanka, Komm. zum AFG, Anm. 1 zu § 132 AFG). Die Klägerin hatte im Unfallzeitpunkt aber einen solchen Anspruch noch nicht erhoben, d.h., bei dem Arbeitsamt eingereicht. Die Frage, ob der Arbeitslose bereits auf dem Wege zur Arbeitslosmeldung oder zur Beantragung von Alg bzw. Alhi gegen Arbeitsunfall geschützt sein soll, ist ausdrücklich Gegenstand der Beratung im Gesetzgebungsverfahren zum Unfallversicherungsneuregelungsgesetz gewesen und im sozialpolitischen Ausschuß abgelehnt worden (vgl. Bericht des Abgeordneten Büttner zu § 539 Abs. 1 Nr. 4 in BT-Drucksache IV/938, Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl., Kennzahl 101, S. 11). Das BSG, dem sich der Senat bereits angeschlossen hat (vgl. Urteil vom 27.11.1968 – L-3/U-889/68 –), hat wiederholt entschieden, der Gesetzeswortlaut zwinge zu der Auslegung, daß der Unfallversicherungsschutz von dem Bestehen der Meldepflicht abhängig ist, sie aber erst nach Erhebung des Leistungsantrages entsteht (vgl. BSG, Urt. v. 22.9.1966 – 2 RU 82/62 – in E 25, 214; 29.5.1972 – 2 RU 97/71 – in E 36, 39). Danach trifft es gerade nicht zu, daß nach Ansicht des SG die Intention des Gesetzgebers dahin gegangen sei, auch solche Wege des Arbeitslosen unter Unfallversicherungsschutz zu stellen, die nicht durch eine Meldepflicht verursacht sind. Zu Unrecht zieht hierzu das SG auch die Meldeanordnung heran. Diese ist aufgrund der Ermächtigung des § 132 Abs. 2 AFG von der Beklagten erlassen. Sie regelt, lediglich das Meldeverfahren, normiert aber keine zusätzlichen Gründe für das Entstehen der Meldepflicht als solche, wie sich auch aus § 1 Meldeanordnung ergibt. Ebenfalls gestattet § 2 der Meldeanordnung keine andere Betrachtungsweise. Nach dieser Bestimmung kann der Meldepflichtige nur zum Zwecke der Vermittlung in berufliche Ausbildungsstellen oder Arbeit, der Vorbereitung von Maßnahmen zur Forderung der beruflichen Bildung oder von Entscheidungen im Leistungsverfahren aufgefordert werden, sich zu melden. Die Aufforderung, wegen einer Entscheidung im Leistungsverfahren zu erscheinen, setzt voraus, daß dieses bereits anhängig ist. Das war hier aber nicht der Fall; es sollte vielmehr erst eingeleitet werden. Die Klägerin konnte auch nicht annehmen, daß sie bei ihrem Gang zum Arbeitsamt, um dort den Antrag auf Alhi abzugeben, gegen Arbeitsunfall versichert war. Es kann offenbleiben, ob ein evtl. fälschlich erweckter Eindruck und ein dadurch vielleicht hervorgerufener Vertrauensschutz eine solche Annahme zu rechtfertigen vermögen. Vorliegend ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine solche Veranlassung durch einen Bediensteten der Beklagten. Sie werden von der Klägerin auch nicht behauptet. Das Anschreiben, mit dem die Hauptstelle der Beklagten die Antragsvordrucke übersandt hat, enthält dazu keine Hinweise.

Der Unfallversicherungsschutz läßt sich auch nicht aus den Bestimmungen des 1. Buches des SGB begründen. Die von dem SG angezogenen Einweisungsbestimmungen I §§ 13–17 SGB normieren zwar gewisse Fürsorgepflichten der Sozialleistungsträger, sind aber nicht geeignet, über § 539 Abs. 1 Nr. 4 RVO hinausgehend zusätzlich den Unfallversicherungsschutz für einen Arbeitslosen zu begründen, der auf dem Wege zur Stellung eines Leistungsantrags verunglückt.

Das SG durfte die BAfU auch nicht verurteilen, "die Forderung ab 1. Januar 1978 in gesetzlichem Umfange zu verzinsen”. Nach I § 44 SGB sind zwar nunmehr Geldleistungen unter bestimmten Voraussetzungen zu verzinsen. Dazu hätte das SG aber eine bestimmte Geldleistung seit dem 1. Januar 1978 feststellen müssen. Eine solche Feststellung hat es aber unterlassen und nur darauf hingewiesen, daß wenigstens ein Anspruch auf Mindestleistungen in Form von Heilbehandlung bestehe. Diese Feststellung genügte aber lediglich für den Erlaß eines Grundurteils (§ 130 SGG). Nur in den Entscheidungsgründen hätte auf eine mögliche Zinspflicht der Beklagten im Falle der Gewährung von Geldleistungen hingewiesen werden können. Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 193, 160 SGG.
Rechtskraft
Aus
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