L 4 V 939/73

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 V 939/73
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Hat der Beklagte bei der Nachzeichnung des Berufs zur Feststellung eines Einkommensverlustes beim Berufsschadensausgleich angenommen, daß der Kläger Beamter des mittleren Dienstes geworden wäre, ist es kaum möglich, die Unrichtigkeit der Vorentscheidung festzustellen, weil auch die Annahme einer anderen beruflichen Entwicklung lediglich auf einer Abwägung von Möglichkeiten beruht. Nur bei offensichtlichen Denkfehlern hierbei könnte ein Fehlgebrauch der auch dem Beklagten obliegenden Beweiswürdigung gegeben sein.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg/Lahn vom 30. August 1973 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der 54-jährige Kläger erlernte nach der Volksschule von 1935 bis 1938 den Beruf eines Metzgers. Er bestand im November 1938 die Gesellenprüfung mit der Note "gut”. Bis Mai 1939 blieb er bei seinem Lehrherrn, Metzgermeister E. H., der ihn anschließend weiter als Geselle beschäftigte. Er arbeitete dann ab Juni 1939 bei verschiedenen Metzgermeistern. Nach der Gesellenprüfung bewarb er sich bei der Ordnungspolizei. Er wurde deshalb am 15. Dezember 1940 zur Waffen-SS einberufen und diente in der Leibstandarte "Adolf Hitler”. Am 28. Juli 1941 wurde er schwer verwundet, was zu seiner sofortigen Erblindung führte. In der Folgezeit wurde er zum Stenotypisten umgeschult. Er verpflichtete sich zu einer zwölfjährigen Dienstzeit bei der Waffen-SS. Er besuchte nach dem Krieg die Einjährige Höhere Handelsschule der Blindenstudienanstalt in M., die er mit der Prüfungsnote "gut” abschloß. Vom 15. Oktober 1952 bis 15. Oktober 1956 war er im Fernsprechvermittlungsdienst des Postamtes in M. und beim Fernmeldeamt F. tätig. Das Angestelltenverhältnis endete aus gesundheitlichen Gründen.

Der Beklagte hatte ihm wegen Erblindung beider Augen und verschiedener anderer gesundheitlicher Beeinträchtigungen eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v.H. gewährt.

Der Kläger beantragte am 31. Oktober 1960 die Gewährung von Berufsschadensausgleich. Er habe das Ziel gehabt, die Meisterprüfung im Fleischerhandwerk abzulegen und ein eigenes Geschäft zu eröffnen. Mit Bescheid vom 22. Oktober 1962 bewilligte der Beklagte Berufsschadensausgleich, wobei er von dem Einkommen eines Vollgesellen des Metzgerhandwerkes ausging. Der Kläger habe nach seiner Schulentlassung den Beruf eines Fleischergesellen ausgeübt. Anhaltspunkte dafür, daß er ein selbständiges Fleischergeschäft habe eröffnen wollen, seien nicht vorhanden. Der Bescheid wurde bindend.

Der Kläger beantragte am 24. Mai 1968 die Gewährung von Berufsschadensausgleich unter Berücksichtigung der Einstufung als selbständiger Fleischermeister. Hierzu legte er verschiedene Bescheinigungen von früheren Mitarbeitern vor.

Mit Bescheid vom 27. November 1969 lehnte der Beklagte den Erlaß eines Zugunstenbescheides ab. Im nachfolgenden Widerspruchsverfahren gewährte der Beklagte Berufsschadensausgleich am 3. Dezember 1970 unter Einstufung des Klägers in die Gruppe der Beamten des mittleren Dienstes A 8 des Bundesbesoldungsgesetzes (BBesG) ab 1. Juni 1965.

Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 6. Januar 1971 Klage zur Niederschrift des Urkundsbeamten des Sozialgerichts Marburg/L ... Diese Klage nahm er am 30. August 1973 zurück, weil der angefochtene Bescheid Gegenstand des Widerspruchsverfahrens geworden war.

Den Widerspruch gegen den Bescheid vom 27. November 1969 hatte der Beklagte mit Bescheid vom 1. Juli 1971 zurückgewiesen. Hiergegen erhob der Kläger am 20. Juli 1971 Klage.

Durch Beschluss des Senates vom 11. Dezember 1972 war dem Selbstablehnungsgesuch des Richters F. vom 16. November 1972 stattgegeben worden. Dieser hatte als Vorsitzender des Bezirks M. des Bundes der Kriegsblinden den Bevollmächtigten des Klägers beraten, was Veranlassung zu Mißtrauen gegen seine Unparteilichkeit gebe. Aus diesem Grunde wurde das Verfahren von Richter am Sozialgericht Dr. L. weiter bearbeitet.

Das Sozialgericht Marburg/L. wies mit Urteil vom 30. August 1973 die Klage ab. Ein höherer Berufsschadensausgleich unter Einstufung in die Besoldungsgruppe A 9 des BBesG wegen einer geplanten Meisterprüfung und späteren selbständigen Tätigkeit sei nicht gegeben. Der Beklagte sei nicht verpflichtet, gemäß § 40 des Verwaltungsverfahrensgesetzes in der Kriegsopferversorgung (VerwVG – KoV –) eine Erhöhung des Berufsschadensausgleiches vorzunehmen. Der Kläger habe sich nach der Gesellenprüfung sogleich um Aufnahme in den Dienst der Ordnungspolizei beworben. Aus diesem Grunde sei er auch zur Waffen-SS eingezogen worden. Sein Berufsziel sei das eines Polizisten gewesen, nachdem er eine Tätigkeit als Berufssoldat durchgemacht hatte. Deshalb habe der Beklagte zutreffend die Besoldungsgruppe A 8 des BBesG bei der Berechnung des Berufsschadensausgleiches zugrunde gelegt. Für die Aufnahme eines selbständigen Geschäftes und die Ablegung der Meisterprüfung im Fleischerhandwerk seien keine überzeugenden Anhaltspunkte vorhanden.

Gegen das dem Kläger am 4. September 1973 als Einschreibesendung übersandte Urteil legte er am 1. Oktober 1973 Berufung ein. Er ist der Auffassung, daß er ohne die Schädigungsfolgen nach dem Kriege ein selbständiges Metzgergeschäft eröffnet und die Meisterprüfung abgelegt hätte.

Der Kläger beantragte,
das Urteil des Sozialgerichts Marburg/L. vom 30. August 1973 und die angefochtenen Bescheide aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm Berufsschadensausgleich unter Berücksichtigung der Besoldungsgruppe A 9 BBesG ab 1. Mai 1964 zu gewähren.

Der Beklagte beantragte,
die Berufung zurückzuweisen.

Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Behörden- und die Gerichtsakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung wurde form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist auch statthaft, da ihr keine Berufungsausschließungsgründe entgegenstehen. Durch Beschluss des Senates vom 11. Dezember 1972 war dem Ablehnungsgesuch des Richters F. stattgegeben worden. Nach dem Geschäftsverteilungsplan für 1973 war dessen Vertreter Richter am Sozialgericht Dr. L ... Das Urteil wurde daher unter Mitwirkung des gesetzlichen Berufsrichters gefällt.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht Marburg/L. hat die gegen die ablehnenden Bescheide erhobene Klage zutreffend abgewiesen. Da dem Kläger bereits durch Bescheid vom 22. Oktober 1962 Berufsschadensausgleich unter Zugrundelegung des Einkommens eines Vollgesellen im Metzgerhandwerk gewährt worden war, ging der Antrag vom 24. Mai 1968 auf Erlaß eines Zugunstenbescheides gemäß § 40 VerwVG. Dabei ist die Unrichtigkeit des früheren Bescheides Tatbestandsmerkmal, das der vollen Nachprüfung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit unterliegt (so auch Entscheidung des BSG – 10 RV 609/69 –, abgedruckt in Entscheidungssammlungen des BSG Bd. 29 S. 278, 282).

Ein Berufsschadensausgleich ist dann zu gewähren, wenn sich bei der Gegenüberstellung des derzeitigen Einkommens aus jetziger oder früherer Berufstätigkeit mit dem Einkommen der Berufsgruppe, der der Beschädigte ohne die Schädigungsfolgen angehören würde, ein Einkommensverlust feststellen läßt. Dabei ist die Berufsentwicklung des Schwerbeschädigten ohne die Schädigungsfolgen im Einzelnen nachzuzeichnen unter Berücksichtigung des vom Schwerbeschädigten gezeigten Leistungs- und Ausbildungswillens. Da der Kläger die Ausbildung als Metzger abgeschlossen hatte, nahm der Beklagte zunächst an, daß er bei gesunder Rückkehr wieder Metzgergeselle geworden wäre und berechnete den Einkommensverlust unter Zugrundelegung des Einkommens eines Metzgergesellen. Bei einer nach § 40 VerwVG durchgeführten Überprüfung hielt der Beklagte diese Entscheidung für unrichtig, weil der Kläger bereits kurz nach Ablegung der Gesellenprüfung im Metzgerhandwerk die Einstellung bei der Ordnungspolizei und damit die Tätigkeit im öffentlichen Dienst angestrebt hatte. Tatsächlich zeigen sein Eintritt in die Waffen-SS und die spätere Verpflichtung zur zwölfjährigen Dienstzeit, daß er die Tätigkeit im Metzgerhandwerk zugunsten einer Berufslaufbahn als Beamter aufgegeben hatte.

Es kann dahingestellt bleiben, ob schon die Einstufung im Widerspruchsverfahren mit Bescheid vom 3. Dezember 1970 in die Gruppe A 8 BBesG nicht den Anforderungen des § 40 Abs. 1 VerwVG (KOV) entsprach, weil der Kläger hierdurch besser gestellt ist und der Beklagte sich insoweit selbst gebunden hat. Für den weitergehenden Anspruch des Klägers ist indessen kein Raum: Die nach § 40 Abs. 1 VerwVG (KOV) zur Zugunstenentscheidung notwendige Unrichtigkeit der früheren Entscheidung ist in Fällen der Nachzeichnung einer wahrscheinlichen Berufsentwicklung i.S. des § 30 Abs. 4 Bundesversorgungsgesetz (BVG) besonders schwer zu erweisen, weil die "Wahrscheinlichkeit” eine Schlußfolgerung aus dem Vergleich mehrerer "Möglichkeiten” ist. Wenn aus diesen Möglichkeiten diejenige zur Wahrscheinlichkeit zu erheben ist, für die mehr spricht als dagegen, dann hängt die Erkenntnis der Unrichtigkeit von dem Ergebnis freier Beweiswürdigung i.S. des § 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ab.

Das von der Rechtsprechung als Voraussetzung für die Verpflichtung zur Neuentscheidung (vgl. BSG 10 RV 282/66 vom 24.6.1969; 10 RV 54/69 vom 9.2.1971 und dortige Verweisungen) aufgestellte Kriterium der "Unrichtigkeit” kann aber nicht in anderer Beweiswürdigung durch die berufenen Stellen allein als erfüllt angesehen werden, sondern nur dann zur Abweichung von der früheren in die Bindungswirkung des § 77 SGG eingegangenen Würdigung führen, wenn Tatsachen auftauchen, die eine abweichende, (ebenfalls freie) Würdigung erzwingen. Das erhellt daraus, daß es schon rein begrifflich keine zwei Wahrscheinlichkeiten eines und desselben Vorganges (hier der beruflichen Entwicklung) geben kann. Bei dem Kläger haben sich seit der Annahme einer beruflichen Entwicklung zum Gesellen im Metzgerhandwerk aber keine solchen Gesichtspunkte für eine andere Würdigung der wahrscheinlichen Entwicklung ergeben. Abgesehen davon, daß er, wie dargetan, vor der Schädigung den Metzgerberuf überhaupt aufgegeben hatte, hat sich nichts abgezeichnet, was auf eine spätere Tätigkeit als selbständiger Handwerksmeister hinweisen würde. Der Kläger hatte sich nicht bemüht, die für die Ablegung der Meisterprüfung damals erforderlichen Gesellenjahre zurückzulegen und machte auch keine Anstalten, die für eine Meisterprüfung notwendigen theoretischen Kenntnisse in Kursen, etwa bei der Handwerkskammer, zu erwerben. Es sind auch keine Anzeichen dafür vorhanden, daß er über die für die Eröffnung einer Metzgerei erforderlichen finanziellen Mittel verfügt hätte.

Es kann nicht festgestellt werden, daß der Bescheid vom 22. Oktober 1962 unrichtig gewesen wäre. Damit lagen die Voraussetzungen für die Erteilung eines Zugunstenbescheides nicht vor. Die über die vom Beklagten aus eigenen Stücken gewährte Leistung hinausgehende Berufung konnte keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved