Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 V 342/79
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Bemerkung
verb. mit L 4 V 397/79
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 19. Februar 1979 abgeändert und die Klage in vollem Umfange abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Beklagte hatte dem 59-jährigen Kläger mit Bescheid vom 14. Dezember 1972 Rente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) im allgemeinen Erwerbsleben um 100 v.H. und Pflegezulage nach Stufe I gewährt. Als Schädigungsleiden hatte er anerkannt: "Steckschußverletzung der linken Schläfenhirns mit Wesensveränderung und Hirnleistungsschwäche mit Hirnkrampfanfällen”. Dem Bescheid hatte das Gutachten von Prof. Dr. S. und Dr. M. von der Poliklinik der Universitäts-Nervenklinik M. vom 7. August 1972 zugrunde gelegen. Die Sachverständigen hatten gegenüber dem Vorgutachten vom 14. März 1950 eine deutliche Verschlechterung gesehen, die sich sowohl in der Zunahme von Häufigkeit und Intensität der posttraumatischen hirnorganischen Anfälle als auch in einer Zunahme der durch die Hirnverletzung und die Anfälle bedingten Wesensänderung gezeigt hatte. Die seit 26. Januar 1970 bestehende völlige Erwerbsunfähigkeit gehe allein auf die Schädigungsfolgen zurück, weshalb sich die MdE auf 100 v.H. belaufe. Auch der episodisch auftretende Alkoholabusus müsse als Folge der posttraumatischen psychischen Veränderungen angesehen werden. Zu einem extensiven Alkoholabusus sei es immer dann gekommen, wenn der Kläger psychischen Belastungen ausgesetzt gewesen sei. Der Kläger habe nach dem Genuß von 2 bis 3 Flaschen Bier jegliche Kontrolle über sich verloren, was darauf zurückzuführen sei, daß eine verminderte Alkoholtoleranz den durch die Verletzung geschädigten Gehirns bestehe.
Der Kläger beantragte mit einem am 12. Oktober 1976 eingegangenen Schreiben die Anerkennung eines chronischen Alkoholismus als weiter Schädigungsfolge. Er gab an, er sei seit 21. Juli 1976 zu einer Entziehungskur in der Klinik am H. in O. untergebracht. Der Alkoholismus gehe auf die Schädigungsfolgen zurück. Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 6. April 1977 den Antrag ab und führte zur Begründung aus, daß die Neigung zum Alkoholmißbrauch mit den Schädigungsfolgen in keinem ursächlichen Zusammenhang stände, sondern vielmehr hierfür die mißlichen familiären und sozialen Verhältnisse maßgebend seien. Es handele sich um ein anlage- und umweltbedingtes Leiden, das nicht unmittelbare oder mittelbare Folge der Gehirnverletzung sei. Dem Bescheid hatte das nervenärztliche Gutachten von Dr. R. von der Versorgungsärztlichen Untersuchungsstelle Kassel zugrunde gelegen. Darin hatte Sachverständige ausgeführt, daß Hirnverletzte nicht wegen ihrer Schädigung zu Alkoholikern würden, sondern die alkoholischen Exzesse vorwiegend im Zusammenhang mit familiären Komplikationen und materiellen Nöten aufträten. Die Hinneigung zum Alkohol sei anlagebedingt. Der Alkoholmißbrach stehe mit der Hirnverletzung nicht im Zusammenhang. Der Kläger legte gegen den Bescheid Widerspruch ein, in dem er den Alkoholismus auf die Hirnverletzung mit Krampfanfällen und nachfolgenden Depressionen zurückführte. Der Beklagte wies mit Bescheid vom 25. April 1978 den Widerspruch zurück und führte darin aus, daß Alkoholmißbrauch und seine Auswirkungen grundsätzlich keine Schädigungsfolgen seien, was sich aus den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, Ausgabe 1973 Ziffer 100 ergebe. Mit größerer Wahrscheinlichkeit ginge die Neigung zum Alkoholmißbrauch auf Nichtschädigungsleiden zurück.
Gegen den Widerspruchsbescheid erhob der Kläger beim Sozialgericht in Marbung Klage. Das Sozialgericht holte bei dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. Sch., M., ein Gutachten ein. Danach seien im Hinblick auf die Art und Häufigkeit der epileptischen Anfälle keine wesentlichen Änderungen eingetreten. Gewisse Schwankungen in der Häufigkeit und Schwere der Anfälle seien üblich. Dr. M. habe in seinem Gutachten vom 7. August 1972 beim Kläger eine erhöhte Alkoholintoleranz festgestellt, die jedoch bei jedem Hirnverletzten bestehe. Es werde in keiner wissenschaftlichen Arbeit nachgewiesen, daß Alkoholismus bei Hirnverletzten häufiger sei als bei Gesunden. Die Neigung des Klägers zu gereizten Verstimmungen und allgemein zu übermäßigen Stimmungsschwankungen und auch zu anderen psychopathologischen Auffälligkeiten sei Folge der Hirnverletzung. Der Sachverständige ist mit Prof. Dr. S. und Dr. M. der Meinung, daß mit Wahrscheinlichkeit der frühere chronische Alkoholismus in ursächlichem Zusammenhang mit den anerkannten Schädigungsfolgen stehe. Da der Kläger nach der Entziehungskur vom 21. Juli 1976 bis 18. Januar 1977 nicht mehr trinke, bestehe kein chronischer Alkoholismus mehr, sondern lediglich die Gefahr des Rückfalls.
Das Sozialgericht Marburg verurteilte den Beklagten am 19. Februar 1979 unter Aufhebung des Bescheides vom 6. April 1977 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 1978, beim Kläger ab 1. Oktober 1976 die Neigung zu chronischem Alkoholismus als Schädigungsfolge anzuerkennen. Im übrigen wies es die Klage ab. Zur Begründung führte er aus, daß Neigung zu chronischem Alkoholismus als Schädigungsfolge anzuerkennen sei. Beim Kläger habe im Zeitpunkt der Antragstellung kein chronischer Alkoholismus mehr vorgelegen. Mit Dr. M. und Dr. Sch. sei davon auszugehen, daß der frühere chronische Alkoholismus Folge der Hirnverletzung gewesen sei. Da bei der Behandlung von Suchtkranken eine erhebliche Rückfallgefahr bestehe, habe der Beklagte die Neigung zu chronischem Alkoholismus bescheidmäßig festzustellen.
Gegen das dem Beklagten am 20. März 1979 zugestellte Urteil hat dieser am 3. April 1979 Berufung eingelegt. Er ist der Auffassung, daß Neigung zu chronischem Alkoholismus nicht als Schädigungsfolge anerkannt werden könne, da zwar chronischer Alkoholismus eine Krankheit sei, die Neigung hierzu aber Lediglich eine Gefährdung durch Eintritt eines Rückfalls darstelle. Der Kläger sei jetzt durch eine Entziehungskur dem Alkohol entwöhnt. Sollte ein erneuter chronischer Alkoholismus auftreten, dann sei zu prüfen, ob die Schädigungsfolgen hierfür ursächlich seien.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgericht Marburg vom 19. Februar 1979 abzuändern und die Klage in vollem Umfange abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des Sozialgerichts Marburg für zutreffend.
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakten und die Gerichtsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden. Sie ist auch zulässig. Zwar betrifft sie die Neufeststellung des Versorgungsspruchs wegen Änderung der Verhältnisse (§ 148 Ziff. 3 Sozialgerichtsgesetz –SGG–). Jedoch ist der ursächliche Zusammenhang zwischen den anerkannten Schädigungsfolgen und einem weiteren Leiden, nämlich der Neigung zu chronischem Alkoholismus im Streit (§ 150 Ziff. 3 SGG).
Die Berufung ist auch begründet. Das Sozialgericht hat zu Unrecht "Neigung zu chronischem Alkoholismus als Schädigungsfolge nach dem BVG anerkannt. Nach der Rechtsprechung der Bundessozialgerichts (vgl. Urteile vom 15. Februar 1978 – III RK 29, 77, SozR 2200 § 184 a RVO, vom 17. Oktober 1969 – III RK 82/66, SozR RVO § 184, Nr. 23 und vom 18. Juni 1968 – III RK 63/66 SozR RVO § 132 Nr. 28) ist nicht mehr strittig, daß es sich bei Alkoholismus um eine Krankheit im Sinne des Krankenkassenrechts handelt. Als Krankheit sind nämlich solche regelwidrigen Körper- und Geisteszustände zu sehen, deren Eintritt entweder eine Heilbehandlung notwendig macht oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Voraussetzung ist, daß der körperliche oder geistige Zustand von der Norm abweicht und durch Behandlung beseitigt oder gebessert werden kann. Als solch ein regelwidriger Zustand ist die Abhängigkeit von Alkohol zu sehen. Als Schädigungsfolge nach § 1 BVG ist in der Regel Alkoholismus nicht anzusehen. Diese Auffassung wird in den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, Ausgabe 1973, Seite 142, vertreten, die der derzeitigen herrschenden medizinischen Lehrmeinung entspricht. Nach der Anhaltspunkten für die ärztliche Begutachtung Behinderter nach dem Schwerbehindertengesetz, Ausgabe 1977, ist ein Alkoholismus, d.h. eine Abhängigkeit von Alkohol erst dann als nachgewiesen anzusehen, wenn eine sachgerechte Entziehungsbehandlung durchgeführt worden ist und zu keinem bleibenden Erfolg geführt hat. Der Senat ist entgegen der Auffassung in den Anhaltspunkten aufgrund der Gutachten von Prof. Dr. S., Dr. M. und Dr. Sch. zur Überzeugung gelangt, daß der beim Kläger früher bestandene chronische Alkoholismus Folge der Gehirnverletzung gewesen ist. Schon im Gutachten von 1972 hatten Prof. Dr. S. und Dr. M. den Alkoholismus als Auswirkung der schweren Hirnschädigung angesehen. Zum gleichen Ergebnis kam Dr. Sch. in seinem Gutachten vom 20. November 1978, wenn er ausführt, daß der Alkoholismus auf die schweren psychischen Veränderungen des Klägers durch die Gehirnverletzung zurückgehe. Jedoch ist eine Gesundheitsstörung nach § 30 BVG nur dann als Schädigungsfolge anzusehen, wenn die gesundheitlichen Störungen bei Antragstellung bestehen und ausschließend weiter fortdauern. Nach dem Gutachten von Dr. Sch. lag im Zeitpunkt der Antragstellung im Oktober 1976 beim Kläger ein chronischer Alkoholismus nicht mehr vor. Nachdem sich der Kläger ab 21. Juli 1976 einer Alkoholentziehungskur in der Klinik am H. O. unterzogen hatte, nahm er nach den Ermittlungen keinen Alkohol mehr zu sich, so daß in der Folgezeit die Alkoholkrankheit als geheilt anzusehen ist. Die vom Sozialgericht als Schädigungsfolge anerkannte Neigung zu chronischen Alkoholismus stellt keine Regelwidrigkeit dar. Vielmehr hat das Sozialgericht als Schädigungsfolge eine Gefährdung durch Rückfall angesehen. Eine Rückfallgefahr ist aber noch keine Gesundheitsstörung im Sinne von § 30 BVG. Denn es steht nicht fest, ob ein etwaiger Rückfall tatsächlich in absehbarer Zeit oder überhaupt nicht eintritt.
Das Urteil des Sozialgerichts war deshalb aufgrund der Berufung des Beklagten aufzuheben und die Klage in vollem Umfange abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Beklagte hatte dem 59-jährigen Kläger mit Bescheid vom 14. Dezember 1972 Rente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) im allgemeinen Erwerbsleben um 100 v.H. und Pflegezulage nach Stufe I gewährt. Als Schädigungsleiden hatte er anerkannt: "Steckschußverletzung der linken Schläfenhirns mit Wesensveränderung und Hirnleistungsschwäche mit Hirnkrampfanfällen”. Dem Bescheid hatte das Gutachten von Prof. Dr. S. und Dr. M. von der Poliklinik der Universitäts-Nervenklinik M. vom 7. August 1972 zugrunde gelegen. Die Sachverständigen hatten gegenüber dem Vorgutachten vom 14. März 1950 eine deutliche Verschlechterung gesehen, die sich sowohl in der Zunahme von Häufigkeit und Intensität der posttraumatischen hirnorganischen Anfälle als auch in einer Zunahme der durch die Hirnverletzung und die Anfälle bedingten Wesensänderung gezeigt hatte. Die seit 26. Januar 1970 bestehende völlige Erwerbsunfähigkeit gehe allein auf die Schädigungsfolgen zurück, weshalb sich die MdE auf 100 v.H. belaufe. Auch der episodisch auftretende Alkoholabusus müsse als Folge der posttraumatischen psychischen Veränderungen angesehen werden. Zu einem extensiven Alkoholabusus sei es immer dann gekommen, wenn der Kläger psychischen Belastungen ausgesetzt gewesen sei. Der Kläger habe nach dem Genuß von 2 bis 3 Flaschen Bier jegliche Kontrolle über sich verloren, was darauf zurückzuführen sei, daß eine verminderte Alkoholtoleranz den durch die Verletzung geschädigten Gehirns bestehe.
Der Kläger beantragte mit einem am 12. Oktober 1976 eingegangenen Schreiben die Anerkennung eines chronischen Alkoholismus als weiter Schädigungsfolge. Er gab an, er sei seit 21. Juli 1976 zu einer Entziehungskur in der Klinik am H. in O. untergebracht. Der Alkoholismus gehe auf die Schädigungsfolgen zurück. Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 6. April 1977 den Antrag ab und führte zur Begründung aus, daß die Neigung zum Alkoholmißbrauch mit den Schädigungsfolgen in keinem ursächlichen Zusammenhang stände, sondern vielmehr hierfür die mißlichen familiären und sozialen Verhältnisse maßgebend seien. Es handele sich um ein anlage- und umweltbedingtes Leiden, das nicht unmittelbare oder mittelbare Folge der Gehirnverletzung sei. Dem Bescheid hatte das nervenärztliche Gutachten von Dr. R. von der Versorgungsärztlichen Untersuchungsstelle Kassel zugrunde gelegen. Darin hatte Sachverständige ausgeführt, daß Hirnverletzte nicht wegen ihrer Schädigung zu Alkoholikern würden, sondern die alkoholischen Exzesse vorwiegend im Zusammenhang mit familiären Komplikationen und materiellen Nöten aufträten. Die Hinneigung zum Alkohol sei anlagebedingt. Der Alkoholmißbrach stehe mit der Hirnverletzung nicht im Zusammenhang. Der Kläger legte gegen den Bescheid Widerspruch ein, in dem er den Alkoholismus auf die Hirnverletzung mit Krampfanfällen und nachfolgenden Depressionen zurückführte. Der Beklagte wies mit Bescheid vom 25. April 1978 den Widerspruch zurück und führte darin aus, daß Alkoholmißbrauch und seine Auswirkungen grundsätzlich keine Schädigungsfolgen seien, was sich aus den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, Ausgabe 1973 Ziffer 100 ergebe. Mit größerer Wahrscheinlichkeit ginge die Neigung zum Alkoholmißbrauch auf Nichtschädigungsleiden zurück.
Gegen den Widerspruchsbescheid erhob der Kläger beim Sozialgericht in Marbung Klage. Das Sozialgericht holte bei dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. Sch., M., ein Gutachten ein. Danach seien im Hinblick auf die Art und Häufigkeit der epileptischen Anfälle keine wesentlichen Änderungen eingetreten. Gewisse Schwankungen in der Häufigkeit und Schwere der Anfälle seien üblich. Dr. M. habe in seinem Gutachten vom 7. August 1972 beim Kläger eine erhöhte Alkoholintoleranz festgestellt, die jedoch bei jedem Hirnverletzten bestehe. Es werde in keiner wissenschaftlichen Arbeit nachgewiesen, daß Alkoholismus bei Hirnverletzten häufiger sei als bei Gesunden. Die Neigung des Klägers zu gereizten Verstimmungen und allgemein zu übermäßigen Stimmungsschwankungen und auch zu anderen psychopathologischen Auffälligkeiten sei Folge der Hirnverletzung. Der Sachverständige ist mit Prof. Dr. S. und Dr. M. der Meinung, daß mit Wahrscheinlichkeit der frühere chronische Alkoholismus in ursächlichem Zusammenhang mit den anerkannten Schädigungsfolgen stehe. Da der Kläger nach der Entziehungskur vom 21. Juli 1976 bis 18. Januar 1977 nicht mehr trinke, bestehe kein chronischer Alkoholismus mehr, sondern lediglich die Gefahr des Rückfalls.
Das Sozialgericht Marburg verurteilte den Beklagten am 19. Februar 1979 unter Aufhebung des Bescheides vom 6. April 1977 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 1978, beim Kläger ab 1. Oktober 1976 die Neigung zu chronischem Alkoholismus als Schädigungsfolge anzuerkennen. Im übrigen wies es die Klage ab. Zur Begründung führte er aus, daß Neigung zu chronischem Alkoholismus als Schädigungsfolge anzuerkennen sei. Beim Kläger habe im Zeitpunkt der Antragstellung kein chronischer Alkoholismus mehr vorgelegen. Mit Dr. M. und Dr. Sch. sei davon auszugehen, daß der frühere chronische Alkoholismus Folge der Hirnverletzung gewesen sei. Da bei der Behandlung von Suchtkranken eine erhebliche Rückfallgefahr bestehe, habe der Beklagte die Neigung zu chronischem Alkoholismus bescheidmäßig festzustellen.
Gegen das dem Beklagten am 20. März 1979 zugestellte Urteil hat dieser am 3. April 1979 Berufung eingelegt. Er ist der Auffassung, daß Neigung zu chronischem Alkoholismus nicht als Schädigungsfolge anerkannt werden könne, da zwar chronischer Alkoholismus eine Krankheit sei, die Neigung hierzu aber Lediglich eine Gefährdung durch Eintritt eines Rückfalls darstelle. Der Kläger sei jetzt durch eine Entziehungskur dem Alkohol entwöhnt. Sollte ein erneuter chronischer Alkoholismus auftreten, dann sei zu prüfen, ob die Schädigungsfolgen hierfür ursächlich seien.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgericht Marburg vom 19. Februar 1979 abzuändern und die Klage in vollem Umfange abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des Sozialgerichts Marburg für zutreffend.
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakten und die Gerichtsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden. Sie ist auch zulässig. Zwar betrifft sie die Neufeststellung des Versorgungsspruchs wegen Änderung der Verhältnisse (§ 148 Ziff. 3 Sozialgerichtsgesetz –SGG–). Jedoch ist der ursächliche Zusammenhang zwischen den anerkannten Schädigungsfolgen und einem weiteren Leiden, nämlich der Neigung zu chronischem Alkoholismus im Streit (§ 150 Ziff. 3 SGG).
Die Berufung ist auch begründet. Das Sozialgericht hat zu Unrecht "Neigung zu chronischem Alkoholismus als Schädigungsfolge nach dem BVG anerkannt. Nach der Rechtsprechung der Bundessozialgerichts (vgl. Urteile vom 15. Februar 1978 – III RK 29, 77, SozR 2200 § 184 a RVO, vom 17. Oktober 1969 – III RK 82/66, SozR RVO § 184, Nr. 23 und vom 18. Juni 1968 – III RK 63/66 SozR RVO § 132 Nr. 28) ist nicht mehr strittig, daß es sich bei Alkoholismus um eine Krankheit im Sinne des Krankenkassenrechts handelt. Als Krankheit sind nämlich solche regelwidrigen Körper- und Geisteszustände zu sehen, deren Eintritt entweder eine Heilbehandlung notwendig macht oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Voraussetzung ist, daß der körperliche oder geistige Zustand von der Norm abweicht und durch Behandlung beseitigt oder gebessert werden kann. Als solch ein regelwidriger Zustand ist die Abhängigkeit von Alkohol zu sehen. Als Schädigungsfolge nach § 1 BVG ist in der Regel Alkoholismus nicht anzusehen. Diese Auffassung wird in den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, Ausgabe 1973, Seite 142, vertreten, die der derzeitigen herrschenden medizinischen Lehrmeinung entspricht. Nach der Anhaltspunkten für die ärztliche Begutachtung Behinderter nach dem Schwerbehindertengesetz, Ausgabe 1977, ist ein Alkoholismus, d.h. eine Abhängigkeit von Alkohol erst dann als nachgewiesen anzusehen, wenn eine sachgerechte Entziehungsbehandlung durchgeführt worden ist und zu keinem bleibenden Erfolg geführt hat. Der Senat ist entgegen der Auffassung in den Anhaltspunkten aufgrund der Gutachten von Prof. Dr. S., Dr. M. und Dr. Sch. zur Überzeugung gelangt, daß der beim Kläger früher bestandene chronische Alkoholismus Folge der Gehirnverletzung gewesen ist. Schon im Gutachten von 1972 hatten Prof. Dr. S. und Dr. M. den Alkoholismus als Auswirkung der schweren Hirnschädigung angesehen. Zum gleichen Ergebnis kam Dr. Sch. in seinem Gutachten vom 20. November 1978, wenn er ausführt, daß der Alkoholismus auf die schweren psychischen Veränderungen des Klägers durch die Gehirnverletzung zurückgehe. Jedoch ist eine Gesundheitsstörung nach § 30 BVG nur dann als Schädigungsfolge anzusehen, wenn die gesundheitlichen Störungen bei Antragstellung bestehen und ausschließend weiter fortdauern. Nach dem Gutachten von Dr. Sch. lag im Zeitpunkt der Antragstellung im Oktober 1976 beim Kläger ein chronischer Alkoholismus nicht mehr vor. Nachdem sich der Kläger ab 21. Juli 1976 einer Alkoholentziehungskur in der Klinik am H. O. unterzogen hatte, nahm er nach den Ermittlungen keinen Alkohol mehr zu sich, so daß in der Folgezeit die Alkoholkrankheit als geheilt anzusehen ist. Die vom Sozialgericht als Schädigungsfolge anerkannte Neigung zu chronischen Alkoholismus stellt keine Regelwidrigkeit dar. Vielmehr hat das Sozialgericht als Schädigungsfolge eine Gefährdung durch Rückfall angesehen. Eine Rückfallgefahr ist aber noch keine Gesundheitsstörung im Sinne von § 30 BVG. Denn es steht nicht fest, ob ein etwaiger Rückfall tatsächlich in absehbarer Zeit oder überhaupt nicht eintritt.
Das Urteil des Sozialgerichts war deshalb aufgrund der Berufung des Beklagten aufzuheben und die Klage in vollem Umfange abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
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