L 4 Vg 718/95

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 16 Vg 1590/93
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 Vg 718/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 11. Mai 1995 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig der Anspruch der Kläger auf Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Die 1958 geborene Klägerin zu 1) ist die Witwe, die Kläger zu 2) und 3) sind die Kinder des am 1954 geborenen (Geschädigter). Der Geschädigte wurde am 3. November 1991 gegen 0.15 Uhr im "Ch.” in von (Schädiger) durch einen Pistolenschuß so schwer verletzt, daß er an dessen Folgen am gleichen Tage gegen 4.00 Uhr verstarb.

Am 25. November 1991 beantragten die Kläger Versorgung nach dem OEG. Der Beklagte zog die Akten der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Gießen mit dem rechtskräftigen Urteil des Landgerichts Gießen vom 8. Oktober 1992 (Az.: 4 Js 209178/91 – 5 Ks –) bei, wonach wegen unerlaubten Waffenbesitzes zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt wurde, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Hinsichtlich des Vorwurfes des Totschlags bzw. versuchten Totschlages wurde der Schädiger wegen angenommener Notwehr freigesprochen.

Nach den Feststellungen im Urteil des Landgerichts Gießen hielten sich am 2. November 1991 ab ca. 22.00 Uhr der Schädiger sowie die Herren und , wobei alle Alkohol zu sich genommen hatten, im "Ch.” auf. Einige Zeit später traf eine zweite Gruppe von Männern, bestehend aus den Herren und sowie dem Geschädigten im "Ch.” ein. Auch diese Gruppe hatte mit Ausnahme des Zeugen Alkohol zu sich genommen. Nach den Feststellungen des Landgerichts Gießen ergab sich folgender Ablauf:

"Im Gasthaus des Ch. kamen bald Spannungen zwischen beiden Gruppen auf, insbesondere Herr fühlte sich durch die lustige lockere Art und das laute Lachen des Angeklagten und seiner Freunde, die alle jünger waren als die Mitglieder der anderen Gruppe, gereizt. Es kam zum Wortwechsel, auch wurden Schimpfworte wie "Arschloch, Depp” gegenseitig gebraucht. Der Zeuge zog schließlich seine Jacke aus und sagte zu dem Zeugen , der am Tresen saß, "da vorne die wollen Zirkus”. Dann ging er wieder zu dieser Gruppe zurück. Herr wollte beschwichtigen und sagte zu der anderen Gruppe, man sehe doch, daß abgefüllt sei. Es trat aber keine Ruhe ein. Der Angeklagte ging deshalb nach draußen und holte seine Pistole aus dem Pkw. Er wollte die anderen durch den Anblick der Pistole abschrecken. Der Streit legte sich aber nicht.

Der Angeklagte verließ schließlich mit seiner Pistole den Gastraum und ging nach draußen in den Hof. Dies löste eine Verlagerung der Auseinandersetzung nach draußen aus. Die Zeugen und folgten dem Angeklagten nämlich unmittelbar nach draußen. Nachdem der Zeuge die Zeche für sich und den Zeugen bezahlt hatte, gingen beide ebenfalls nach draußen. Als letzter ging der Zeuge hinaus. Im Hof hatte der Angeklagte seine Axt aus dem dort stehenden Pkw Opel Corsa geholt. Er stand mit der Axt und seiner Pistole bewaffnet neben der Beifahrertür seines Fahrzeuges. Der Zeuge zog seine ungeladene Gaspistole und der Zeuge holte das Reizgassprühgerät aus der Tasche. Ihnen gegenüber standen Herr und die Zeugen und etwas später auch. Der Angeklagte drohte zunächst mit der Axt, mit seiner Gaspistole. Als der Zeuge dem Zeugen zu nahe kam, betätigte dieser sein Reizgassprühgerät. Durch das Gas wurde insbesondere Herr in Mitleidenschaft gezogen. Der Angeklagte, der merkte, daß die andere Gruppe so einfach nicht zu vertreiben war, rief, während er mit seiner Pistole drohte, "das ist eine scharfe Waffe”. Er gab zwei Warnschüsse in die Luft ab. Einer der Schüsse schlug in den Dachüberstand des Küchenanbaus ein. Als auch dies keine Wirkung zeigte, gab er einen dritten Schuß in den Boden zwischen sich und die andere Gruppe ab. Daraufhin war die Auseinandersetzung zunächst beendet. Herr lief in das Gebäude, um sich die Augen auszuwaschen. Er war erregt. Für ihn war die Sache noch nicht ausgestanden. Die Zeugin versuchte vergeblich, ihn davon abzubringen, wieder hinauszulaufen.

Der Zeuge , der nach Hause wollte, hatte den betrunkenen Zeugen zu dem Pkw Mercedes gebracht, mit dem beide gekommen waren. Er fuhr aus dem Hof. Die Zeugin hatte das Ende der Auseinandersetzung bemerkt und deshalb den Notausgang geöffnet. Vom Gastraum gelangt man über einen schmalen Flur an der Küche vorbei zu diesem Ausgang. Durch diese Tür gingen der Angeklagte und der Zeuge ins Gebäude. Der Zeuge der das Reizgas versprüht hatte, war weggelaufen, weil er Angst hatte. Er wartete in einem Feld hinter einer Rübenmiete. Der Zeuge ging in den Gastraum. Der Angeklagte lief in die Küche, wo er den Zeuginnen und seine Pistole aushändigte. Sie legten die Waffe in den Kühlschrank.

Dies bedeutete indessen aber nicht das Ende der Auseinandersetzungen. Zum weiteren Hergang des Geschehens, der zur tödlichen Verletzung des führte, beruht der festgestellte Sachverhalt in den für die Entscheidung wesentlichen Punkten mit einer, Ausnahme auf der insoweit nicht zu widerlegenden Einlassung des Angeklagten. Die Ausnahme besteht darin, daß festgestellt worden ist, daß der Angeklagte den tödlichen Schuß auf den Herrn nicht außen auf den Stufen vor der Notausgangstür, sondern in dem Gebäude, in dem Flur, der zur Notausgangstür führt, abgegeben hat. ”

Unter Zugrundelegung der Angaben des Schädigers ging das Landgericht Gießen von folgendem weiteren Sachverhalt aus:

"Der Angeklagte hatte bemerkt, daß sein Freund nicht im Haus war und wollte ihn suchen. Er nahm deshalb die Pistole wieder an sich. Zu diesem Zeitpunkt rief jemand: "Die kommen wieder, die erschießen euch”. Als die Zeugin daraufhin in den Barraum lief, um telefonisch die Polizei zu benachrichtigen, sah sie vom Flur aus durch die Notausgangstür den Zeugen vom Hof her herannahen, der einen knüppelähnlichen Gegenstand in der Hand hielt.

Bei Herrn war der Zeuge. Die Zeugen und waren zwar in den Mercedes eingestiegen und aus dem Hof gefahren. Der Zeuge hatte jedoch dort angehalten, weil er nach Herrn und dem Zeugen sehen wollte. Auch der Zeuge war ausgestiegen und hatte aus dem Kofferraum des Fahrzeuges eine mit rotem Isolierband umwickelte, etwa 60 cm lange und ca. 3 kg schwere Eisenstange genommen. Er lief damit zur Notausgangstür. Auch Herr war am Fahrzeug bei den Zeugen und gewesen und dann wieder auf den Hof zurückgelaufen und zur Notausgangstür.

Die Zeugen und waren mit Schlagwerkzeugen bewaffnet, weil sie die Auseinandersetzung fortsetzen wollten. Zugunsten des Angeklagten konnte nicht ausgeschlossen werden, daß auch Herr mit einem Schlagwerkzeug bewaffnet war. Neben der schon erwähnten Eisenstange, die zunächst der Zeuge ergriffen hatte, standen zur Bewaffnung weiterhin ein schwarzer Gummiknüppel, den der Zeuge zu einem späteren Zeitpunkt ergriff und ein Baseballschläger zur Verfügung, der nach der Tat in der Küche liegen blieb. Auch Herr , der im Hof am intensivsten von dem Tränengas getroffen worden war, hatte deshalb, ebenso wie die Zeugen und Anlaß, mit einem der zur Verfügung stehenden Schlagwerkzeuge auf den Angeklagten loszugehen.

Der Angeklagte, der nach draußen wollte, traf in dem engen Flur, der zur Notausgangstür führt, auf Herrn der unmittelbar vor dem Angeklagten stehend sein Schlagwerkzeug erhoben hatte, um auf den Angeklagten einzuschlagen. Der Angeklagte schoß auf Herrn um einen solchen Angriff abzuwehren. Herr wurde im Oberbauch im Bereich des Rippenbogenwinkels getroffen. Er drehte sich um und wankte zum Notausgang. Dort konnten die Zeugen und , die kurz zuvor auf den Hof gefahren waren und durch die Notausgangstür das Gebäude betreten wollten, den zusammenbrechenden Herrn auffangen. Der Schuß, der durch den Körper des Herrn drang, hatte ihn tödlich verletzt. ”.

Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung wurde auch der Zeuge von dem Schädiger angeschossen, erlitt dabei jedoch keine lebensgefährlichen Verletzungen. Ausgehend von der Aussage des Schädigers billigte das Landgericht diesem eine Notwehrlage zu, da in beiden Fällen der Angriff mit massiven Schlagwaffen erfolgt sei, die geeignet gewesen wären, tödliche Verletzungen herbeizuführen.

Mit Bescheid vom 3. Mai 1993 lehnte der Beklagte den Antrag ab, da der Angriff des Schädigers durch Notwehr gerechtfertigt und somit nicht rechtswidrig gewesen sei. Darüber hinaus seien Leistungen auch nach § 2 OEG zu versagen.

Der Geschädigte habe sich bewußt und gewollt mit einem Schlagwerkzeug bewaffnet in eine gewalttätige Auseinandersetzung begeben und damit eine wesentliche Bedingung für den Schadenseintritt selbst gesetzt. Unabhängig davon sei es auch unbillig Versorgung zu gewähren.

Der Widerspruch vom 21. Mai 1993 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 1. Dezember 1993 zurückgewiesen.

Hiergegen haben die Kläger am 31. Dezember 1993 bei dem Sozialgericht Gießen Klage erhoben. Nach Beiziehung der Akten der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Gießen hat das Sozialgericht Gießen mit Urteil vom 11. Mai 1995 die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Das Gericht sei davon überzeugt, daß der Geschädigte infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs getötet worden sei. Aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme sei auch nicht davon auszugehen, daß der Getötete bewaffnet gewesen sei. Ein Versagensgrund nach § 2 OEG im Sinne einer Mitverursachung liege ebenfalls nicht vor. Es sei jedoch vorliegend unbillig, hier eine Entschädigung zu gewähren. Da sich nach Beendigung der ersten Auseinandersetzung alle Mitarbeiter und der Geschädigte außerhalb des Lokales befunden hätten und sich die gegnerische Gruppe erkennbar ins Haus zurückgezogen hätte, habe für den Getöteten kein verständiger Anlaß bestanden, nochmals das Haus zu betreten. Zumindest seien keine Motive erkennbar, die von der Rechtsordnung nicht "mißbilligt” würden. Es fänden sich eher Anhaltspunkte dafür, daß auch der Geschädigte durch die erste Auseinandersetzung, bei der er durch das Reizgas verletzt worden sei, derart erregt gewesen sei, daß auch für ihn der Streit noch nicht abgeschlossen gewesen sei, insbesondere da sich die Gruppe nach Aussage des Zeugen in einem "Feuerüberfall” befunden habe, "den man sich nicht so einfach gefallen bzw. auf sich sitzen läßt”. Der Geschädigte habe sich damit leichtfertig in eine erkennbare "Gewaltopfer-Situation” begeben, ohne daß er Motive gehabt habe, welche dem Sinn und Zweck des OEG entsprechen.

Gegen dieses den Klägern gegen Empfangsbekenntnis am 14. Juni 1995 zugestellte Urteil haben diese am 12. Juli 1995 bei dem Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt und verfolgen ihr Begehren weiter.

Der Senat hat Beweis erhoben durch eine Augenscheinseinnahme. Auf die den Beteiligten bekannte Niederschrift vom 4. März 1997 wird verwiesen.

Die Kläger beantragen,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 11. Mai 1995 sowie den Bescheid des Beklagten vom 3. Mai 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Dezember 1993 aufzuheben und diesen zu verurteilen, ihnen ab 1. November 1991 Versorgung zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Akteninhalt Bezug genommen sowie auf den der Akten des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, denn sie ist insbesondere form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Sie ist jedoch sachlich unbegründet.

Zunächst bestehen keine Bedenken, die wesentlichen Feststellungen des Landgerichts Gießen vom 8. Oktober 1992 zugrunde zu legen, soweit sie den nachgewiesenen Geschehnisablauf betreffen, nachdem die Beteiligten dem ausdrücklich zugestimmt haben (vgl. Urteile des BSG vom 24. April 1980 – 9 RVg 1/73; vom 10. November 1993 – 9 RVg 2/93; vom 18. Dezember 1996 – 9 RVg 9/94). Aus den Strafverfahrensakten und dem Vortrag der Beteiligten ergeben sich auch keine Hinweise, die den Senat zu weiteren Ermittlungen drängen müßten. Für die eigentliche Tat, die zu den tödlichen Verletzungen des Geschädigten geführt hat, gibt es keinen Zeugen. Dies hat das Landgericht Gießen im Sinne des Grundsatzes von "in dubio pro reo” veranlaßt, die nicht zu widerlegende Einlassung des Schädigers zugrunde zu legen. Bei der Entscheidung über den Versorgungsanspruch nach § 1 OEG ist der Senat jedoch nicht an die rechtskräftig gewordene Beurteilung des Strafgerichts gebunden, daß der tödliche Schuß gegen den Geschädigten durch Notwehr gerechtfertigt gewesen ist (vgl. Urteil des BSG vom 25. Juni 1986 – 9a RVg 2/84 in SozR 1300 § 45 SGB 10 Nr. 24 m.w.N.).

In Übereinstimmung mit dem Sozialgericht ist der Senat der Auffassung, daß der Angriff des Schädigers nicht von Notwehr gedeckt war, sondern daß es sich insoweit um einen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff gehandelt hat. Die diesbezüglichen Angaben des Schädigers sind nach Überzeugung des Senats als reine Schutzbehauptung zu werten. Der von ihm geschilderte Geschehnisablauf entspricht teilweise nicht den tatsächlichen Gegebenheiten. Soweit er behauptet hatte, daß der tödliche Schuß auf dem Parkplatz hinter dem Lokal abgegeben worden sei, ist dies durch andere Zeugen, insbesondere durch die Aussage des Zeugen widerlegt. Danach stand der Geschädigte noch kurz vor Abgabe des ersten Schusses am Pkw des Zeugen und ging von hier aus über den Parkplatz durch den Notausgang in das Gebäude hinein. Erst danach erfolgten in einigem Abstand die Schüsse. Kurze Zeit nach dem ersten Schuß wankte der Geschädigte in gekrümmter Haltung aus diesem Eingang wieder heraus und brach auf dem Parkplatz zusammen. Nach den übereinstimmenden Aussagen der Zeugen und war der Geschädigte unbewaffnet. Auch andere Zeugen haben zu keiner Zeit eine Waffe oder einen anderen Gegenstand in der Hand des Geschädigten gesehen. Aus dem Ermittlungsergebnis wird ferner deutlich, daß zwar die Zeugen und teilweise Schlagwerkzeuge in den Händen hielten, nicht jedoch der Geschädigte. Nach der Aussage des Zeugen der selbst einen Gummiknüppel hatte, hat dieser einen Begleiter aus der Gruppe des Geschädigten mit einem ca. 80 cm langen schwarzen Gegenstand gesehen ( ?).

Ausdrücklich führt der Zeuge aus: "Dieser Mann war ein Begleiter des "Dicken und des getöteten ””. Auch hieraus wird klar, daß zwar andere Personen bewaffnet waren, nicht jedoch der Geschädigte. Der Senat geht daher davon aus, daß der Schädiger dem Geschädigten in unbewaffnetem Zustand die tödlichen Verletzungen beigebracht hat. Damit sind die Voraussetzungen von § 1 Abs. 1 OEG erfüllt.

Nach § 2 Abs. 1 OEG sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchsstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.

Der Geschädigte hat die Schädigung im Sinne von § 2 Abs. 1 1. Alternative OEG verursacht, wenn sein Verhalten als wesentliche Bedingung für den Schadenseintritt anzusehen ist. Ob der Geschädigte den Angriff wesentlich, d.h. durch eine wenigstens gleichwertige Mitbedingung beeinflußt hat, ist durch eine objektive Abwägung der verschiedenen Teilursachen zu entscheiden. Bei der Frage, ob und inwieweit der Geschädigte ursächlich gehandelt hat, sind alle Umstände heranzuziehen, die objektiv tatfördernd gewirkt haben oder subjektiv tatfördernd gewirkt haben können. Das Setzen der wesentlichen Bedingung für die Schädigung muß schuldhaft erfolgt sein. Dies ist stets dann der Fall, wenn der Geschädigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat war oder wenn das Opfer in die Tat einwilligte. Das gleiche gilt dann, wenn der Geschädigte den Angriff schuldhaft herausgefordert hat oder wenn er das Opfer einer Schlägerei geworden ist, in die er nicht ohne eigenes Verschulden hineingezogen worden ist (vgl. hierzu Kunz, Opferentschädigungsgesetz, § 2 Rz. 6). Ein tatförderndes Verhalten ist jedoch nicht schlechthin in jedem Fall leistungsausschließend, sondern nur dann, wenn es schwerwiegend und vorwerfbar ist. Eine Verursachung des Angriffs liegt nur dann vor, wenn der Beitrag des Geschädigten eine mehr als lediglich untergeordnete Bedeutung hat (vgl. Urteile des BSG vom 24. April 1980, Az.: 9 RVg 1/79 in BSGE 50, 95 f.; Urteil des BSG vom 6. Dezember 1989 – 9 RVg 2/89).

Andererseits ist zu beachten, daß nur solche Handlungen als zur Mitverursachung geeignet in Betracht kommen, die ebenso wie der rechtswidrige tätliche Angriff des Schädigers von der Rechtsordnung mißbilligt werden. Im Gegensatz zum Strafverfahren, wo sich bereits jeder Zweifel zugunsten des Täters auswirkt, muß im sozialgerichtlichen Verfahren jeder Zweifel über eine wesentliche Mitursache durch den Geschädigten im Sinne des § 2 Abs. 1 OEG zu Lasten des leistungspflichtigen Landes gehen (vgl. Urteil des LSG für das Saarland vom 19. Februar 1991 – L-2/Vg-1/90 in Breithaupt 1991, Seite 664 ff.; Urteil des BSG vom 18. Juni 1996 – 9 RVg 7/94).

Vor dem Hintergrund der vom Landgericht Gießen festgestellten Geschehnisabläufe stellt sich der "Tatbeitrag” des Geschädigten wie folgt dar: Er war im "Ch.” mit bei der Gruppe, aus der heraus der Zeuge offenbar eine Provokation begann. Der Geschädigte war weiter mit dabei, als sich die beiden Gruppen außen auf dem Hof gegenüberstanden. Hier wurde er von dem Zeugen durch dessen Reizgassprühgerät verletzt, was dazu führte, daß er sich ins Innere des Hauses begab, um seine Augen auszuwaschen. Nach den Aussagen der Zeugin war der Geschädigte erregt und ist danach wieder auf den Hof hinausgegangen. Im weiteren Verlauf ging dann der Geschädigte, der sich zuvor noch an dem Auto der Zeugen und aufgehalten hatte, durch den Notausgang in das Gebäude hinein. In dem Flur, der zur Gaststätte führt, fielen dann die tödlichen Schüsse.

Dieses Verhalten des Geschädigten ist als gleichwertige Mitverursachung i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG zu beurteilen, da er sich bewußt, zumindest jedoch leichtfertig, selbst gefährdet hat bzw. bewußt oder leichtfertig ein hohes Risiko eingegangen ist (vgl. Urteil des BSG vom 18. Oktober 1995 – 9 RVg 5/95).

Weshalb der Geschädigte nochmals das Gebäude betreten hat, steht nicht fest. Aufgrund der unübersichtlichen Situation – es existieren zwei Ein- bzw. Ausgänge, es war Nachtzeit, es war nicht klar, welche der beteiligten Personen sich wo befand und insbesondere aufgrund der vorausgegangenen Ereignisse hat sich der Geschädigte zumindest leichtfertig einer Selbstgefährdung ausgesetzt. Er ist dieses Risiko in dem Bewußtsein eingegangen, daß die "gegnerische Gruppe” über Waffen verfügte, insbesondere der spätere Täter über eine scharf geladene Pistole. Dies war ihm durch die Aussage des Täters bei der vorhergehenden Auseinandersetzung bekannt und durch dessen Demonstration, bei der er zwei Warnschüsse in die Luft und einen Warnschuß in den Boden abgegeben hatte.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt war ihm die Gefährlichkeit der Situation bewußt. Daß er sich dennoch in das Haus begeben hat, kann nur als bewußte oder leichtfertige Selbstgefährdung qualifiziert werden, die einen Leistungsausschlußgrund darstellt (vgl. Urteil des BSG vom 18. Oktober 1995 – a.a.O., vom 18. Juni 1996 – 9 RVg 7/94). Es gibt auch, keinerlei Gründe oder Hinweise dafür, daß der Geschädigte das Haus betreten hat, um etwa anderen zu Hilfe zu eilen oder um einen Streit zu schlichten (vgl. Urteil, des BSG vom 24. April 1991 – 9a RVg 1/90; vom 6. Dezember 1989 – 9 RVg 2/89).

Nachdem Leistungen nach § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative OEG wegen einer Mitverursachung zu versagen sind, kommt es auf die Frage, ob ein Versagensgrund wegen "Unbilligkeit” vorliegt, nicht an.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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