L 4 SB 1351/95

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 10 Vb 1915/94
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 SB 1351/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Im Gegensatz zum Nachteilsausgleich „aG” bedarf es für die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches „G” nicht einer dauernden, d.h. ständigen Bewegungseinschränkung. Es reicht vielmehr aus, wenn der Behinderte an ca. 40 % der Tage in seiner Gehfähigkeit und Orientierungsfähigkeit eingeschränkt ist, sodaß er insoweit nur noch kurze Fußstrecken weit unter 2.000 m mit zusätzlichen Pausen sowie weit über einer halben Stunde zurücklegen und sich in diesem Sinne zeitweise nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann.
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 15. November 1995 sowie die Bescheide des Beklagten vom 10. März 1994 und 25. Juli 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. November 1994 aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, bei dem Kläger einen Grad der Behinderung von 60 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches "erhebliche Gehbehinderung” festzustellen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um Feststellungen nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG).

Der 1951 geborene Kläger stellte am 23. August 1993 einen Antrag auf Feststellungen nach dem Schwerbehindertengesetz. Der Beklagte zog Befundberichte und medizinische Unterlagen der behandelnden Ärzte bei und stellte mit Bescheid vom 10. März 1994 unter Anerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 20 als Behinderungen

degenerative Veränderungen und Bewegungseinschränkungen der Wirbelsäule, Schuppenflechte mit Gelenkbeteiligung sowie nervöse Störungen

fest. Dagegen erhob der Kläger am 31. März 1994 Widerspruch. Aufgrund weiterer beigezogener Befundberichte, insbesondere von der Deutschen Klinik für Diagnostik, Wiesbaden, aus dem Jahre 1993 und 1994 erließ der Beklagte am 25. Juli 1994 einen Abhilfebescheid über einen GdB von 50 und erkannte als Behinderungen nunmehr an:

1) Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Bandscheibenschädigungen und Bewegungseinschränkungen, Reizerscheinungen.
2) Schuppenflechte mit Gelenkbeteiligung und Knochenumbauprozessen bei Notwendigkeit der Immunsuppression.
3) Nervöse Störungen.

Den wegen der Gewährung des Nachteilsausgleichs "G” aufrecht erhaltenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 4. November 1994 zurück, nachdem er ein Gutachten des Orthopäden Dr. für die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) vom 9. März 1994 nebst einem Befundbericht vom 15. September 1994 ausgewertet hatte.

Dagegen hat der Kläger am 6. Dezember 1994 Klage vor dem Sozialgericht in Gießen erhoben. Er weist insbesondere auf die von ihm zu erleidenden erheblichen Schmerzen hin, die Auswirkungen auf das Gehvermögen hätten. Das Sozialgericht hat aus dem Rechtsstreit S-4/An-1166/94 gegen die BfA die Gutachten des Dr. des Internisten Dr. vom 22. Juli 1993, des Nervenarztes Dr. vom 7. September 1993, des Anästhesiologen Dr. vom 5. März 1995 und ein Entlassungsgutachten der Rheumaklinik vom 21. Oktober 1994 beigezogen. Mit Urteil vom 15. November 1995 hat das Sozialgericht die Klage auf Gewährung des Nachteilsausgleiches "G” abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, daß aus den umfangreichen medizinischen Unterlagen und Gutachten keine Befunde zu entnehmen seien, die eine erhebliche Einschränkung der Bewegungsfähigkeit begründen könnten. Auch die aufgetretenen Schmerzen und die geltend gemachten Schwindelerscheinungen rechtfertigten dies nicht.

Gegen das am 12. Dezember 1995 zur Post aufgelieferte Urteil hat der Kläger am 19. Dezember 1995 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt, mit der er einen höheren GdB und die Gewährung des Nachteilsausgleiches "G” begehrt. Der Senat hat Beweis erhoben und auf Antrag des Klägers nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein anästhesiologisches Gutachten bei Dr. vom 19. November 1997 eingeholt. Der Sachverständige kommt im wesentlichen zu den gleichen Befunden wie schon in seinem Gutachten vom 5. März 1995. Es beständen in ca. 60 bis 70 % der Nächte erhebliche Schmerzen an Armen und Beinen mit einer Stärke von ca. 7 cm auf der VAS (Visuelle Analogskala, 0 cm kein und 10 cm maximaler Schmerz), Kopfschmerzen, Schwindelanfälle und Konzentrationsstörungen mit Beeinträchtigung des Gehvermögens. Daneben lägen seelische Begleiterscheinungen, Kreuz- und Rückenschmerzen bei degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule, chronische Kopfschmerzen vom Spannungstyp mit Schwindel und Ohrgeräuschen vor. Die Arm- und Beinschmerzen bewirkten einen GdB von 50, die übrigen Behinderungen von jeweils 20; zusammengefaßt betrage der Gesamt-GdB 60. An ca. 40 % der Tage könne der Kläger im Ortsverkehr übliche Fußwegstrecken nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten und nicht ohne Gefahren für sich und andere zurücklegen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Gutachten verwiesen.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 15. November 1995 sowie den Bescheid des Beklagten vom 10. März 1994 und den Abhilfebescheid vom 25. Juli 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. November 1994 aufzuheben und diesen zu verurteilen, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches "G” sowie einen Grad der Behinderung von 60 festzustellen.

Der Beklagte, der unter Bezugnahme auf eine versorgungsärztliche Äußerung von Frau Dr. von vom 10. Februar 1998 das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend hält, beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der Einzelheiten der Beweiserhebung und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Akteninhalt verwiesen, insbesondere den Inhalt der beigezogenen Akten des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung (§§ 143, 151 SGG, § 4 Abs. 6 SchwbG) ist sachlich begründet. Die angefochtenen Bescheide und das Urteil des Sozialgerichts sind auf die zulässige Klage (§§ 51, 54 Abs. 1, 85, 87 SGG) aufzuheben. Der Grad der Behinderung beträgt beim Kläger 60. Auch insoweit ist die Klage zulässig, obwohl der Kläger im sozialgerichtlichen Verfahren nur den Nachteilsausgleich "G” erstreiten wollte. Den in der Berufung darüber hinausgehend erstrebten GdB von 60 sieht der Senat als zulässige Klageerweiterung im Sinne von § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG an. Zugleich stellt dies aber auch eine sachdienliche und damit zulässige Klageänderung nach § 99 Abs. 1 SGG dar, die prozeßökonomisch ist und auf die sich der Beklagte eingelassen hat (§ 99 Abs. 2 SGG). Ferner liegen die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G” vor.

Außer einer Psoriasis, die die Ärzte der Deutschen Klinik für Diagnostik (DKD) als Psoriasis Arthropathica (Schuppenflechte mit schmerzhafter Erkrankung der Gelenke) diagnostiziert haben, liegen bei dem Kläger ausweislich der umfangreichen Begutachtungen auf internistischem, rheumatologischem, orthopädischem und nervenärztlichem Fachgebiet keine wesentlichen, das altersübliche Maß überschreitenden organischen Erkrankungen vor. Auf orthopädischem Fachgebiet bestehen vor allem Verschleißerscheinungen an der Halswirbelsäule, die aber einen Einzel-GdB von 10 nicht überschreiten. Die auf nervenärztlichem Fachgebiet festgestellte leichte reaktive Depression hat sich zuletzt leicht gebessert, sie ist vor allem im Zusammenhang mit der Schmerzerkrankung des Klägers zu sehen und auch zu bewerten.

Ganz im Vordergrund der Beschwerden des Klägers stehen die regelmäßig auftretenden Schmerzattacken. Aufgrund des anästhesiologischen Gutachtens sieht es der Senat als bewiesen an, daß der Kläger an 70 % der Nächte bis in den Tag reichend an erheblichen Schmerzen an Armen und Beinen leidet. Es handelt sich um ziehende, brennende, stechende, stromstoßartige, durchstoßende und hämmernde Schmerzen im Bereich beider Ellenbogen mit Ausstrahlung in beide Unter- und Oberarme und stellenweise bis in den Hals sowie an den Schienbeinen mit Ausstrahlung in die Unterschenkel. Dadurch ist der Schlaf des Klägers wesentlich beeinträchtigt, so daß er tagsüber seine Aktivität einschränken muß und an Konzentrationsschwäche und Schwindel leidet. Die Hände sind geschwollen und kraftlos, während der Schmerzattacken können die Beine nicht belastet werden. Der Sachverständige zitiert einen ihm vom Kläger überlassenen Arztbrief des Chefarztes des Klinikbereiches Rheumatologie Innere Medizin, der Fachklinik Bentheim vom 31. Dezember 1996, in dem es heißt, daß der Kläger die einzelnen Schmerzattacken als dramatisch erlebe, was die Verspannungen, und damit auch den Schmerz in einem Teufelskreis verstärke.

Unter Auswertung der selbst erhobenen Untersuchungsbefunde, der speziellen Schmerzdiagnostik und der umfangreichen medizinischen Dokumentation kommt der Sachverständige zu der Beurteilung, daß die in 60 bis 70 % der Nächte auftretenden Schmerzattacken wesentliche Einschränkungen in der Lebensführung des Klägers bewirken und mit einem Grad der Behinderung von 50 zu bewerten seien. Den Gesamt-GdB hat der Sachverständige schlüssig und nachvollziehbar auf 60 geschätzt, weil zu den im Vordergrund stehenden Gliederschmerzen noch chronische Kopfschmerzen und Rückenschmerzen sowie seelische Begleiterscheinungen kommen, die jeweils mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten seien. Der Senat hält die vom Sachverständigen vorgeschlagene Höhe des Gesamt-GdB für überzeugend und zutreffend. Durch den gestörten Nachtschlaf und die organischen Begleiterscheinungen der Kopfschmerzen (Ohrgeräusche, Schwindel) ist die Lebensführung des Klägers so reduziert, daß sein Zustand etwa mit dem psychisch Kranker zu vergleichen ist, die an mittelgradigen Anpassungsschwierigkeiten leiden (GdB 50–70, vgl. Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (AHP) Nr. 26.3, Seite 61).

Der Kläger erfüllt auch die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Anerkennung einer erheblichen Beeinträchtigung im Straßenverkehr (Nachteilsausgleich "G”). Eine solche Beeinträchtigung liegt nach § 60 SchwbG vor, wenn ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten und nicht ohne Gefahren für sich oder andere, Wegstrecken im Ortsverkehr nicht zurücklegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden (vgl. AHP, a.a.O., Nr. 30, S. 164 f.). Diese Voraussetzungen sieht der Senat vor allem aufgrund des überzeugenden Gutachtens des Dr. vom 19. November 1997 als erwiesen an. Darin ist schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, daß bei dem Kläger wenigstens "gemittelt” an den unteren Gliedmaßen ein GdB von 50 besteht und er etwa an drei Tagen der Woche nur noch kurze Fußstrecken weit unter 2.000 m mit notwendigen Pausen zurücklegen kann. Nach den überzeugenden gutachtlichen Feststellungen wirken sich beim Kläger die Schmerzattacken an ca. 40 % der Tage so aus, daß er nicht in der Lage ist, übliche Wegstrecken im Ortsverkehr zu Fuß zurückzulegen. Der Nachteilsausgleich "G” verlangt nicht – etwa im Gegensatz zu "aG” (vgl. AHP, a.a.O., S. 167) – eine dauernde, also ständige, Bewegungseinschränkung. So schließt der Gesetzestext des § 60 SchwbG auch ausdrücklich Anfallskranke in den anspruchsberechtigten Personenkreis ein, wobei die Rechtsprechung davon ausgeht, daß eine mittelfristige Anfallshäufigkeit bei überwiegendem Auftreten bei Tage zur Gewährung des Nachteilsausgleiches "G” ausreicht. Die Auslegung des Begriffes "erheblich” in dieser Vorschrift ist zu orientieren an der Zielsetzung des Schwerbehindertengesetzes, das die Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft fördern soll. Wer, wie der Kläger, sich an ca. drei Tagen der Woche nur unter großen Schwierigkeiten und nur geringe Strecken weit bewegen kann, ist gegenüber Gesunden in seiner beruflichen und privaten Mobilität erheblich eingeschränkt. Die Behinderungen treten so häufig auf, daß er auch durch eine Planung seine Lebensführung nicht so einrichten kann, daß er notwendige Ortsveränderungen nur in schmerzfreien Zeiträumen vornimmt. Er muß, ebenso wie ein Anfallskranker, mit häufig auftretenden Anfällen, immer damit rechnen, daß er notwendige Wege nicht oder nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewältigen kann. Die Schwere der Behinderung ergibt sich nach den Ausführungen des Sachverständigen auch daraus, daß wegen der Schmerzattacken und ihrer Nebenwirkungen der Kläger sich nur zeitweise wegen der Schwere seines Leidens mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Auch dies reicht nach der o.g. Zielsetzung des Schwerbehindertengesetzes für die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches "G” aus. Dieser Bewertung wird die sozialmedizinische Beurteilung von Frau Dr. von vom 10. Februar 1998 nicht gerecht. Sie stellt hauptsächlich darauf ab, daß der Kläger allein auf subjektive Beschwerden abhebe, denen keine objektiven Befunde zugrunde lägen. Der Senat verkennt nicht, daß eine Objektivierung subjektiven Schmerzerlebens diagnostische Schwierigkeiten bereitet. Allerdings gibt die Schmerzforschung der medizinischen Wissenschaft heute Methoden an die Hand, Schmerz auch qualitativ zu bewerten. Der Sachverständige Dr. ist ein ausgewiesener Spezialist für Schmerzerkrankungen. Der Beklagte hat nicht dargetan, daß die Untersuchungen und Beurteilungen des Sachverständigen nicht der anerkannten medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung entsprechen. Der Senat sieht dafür auch keine Anhaltspunkte.

Die Schlüssigkeit des Gerichtsgutachtens wird auch durch die zahlreichen Befundunterlagen gestützt, in denen ein entsprechendes Bild des körperlich-seelischen Zustandes des Klägers geschildert wird. Nach alldem ist der Kläger deshalb als erheblich bewegungseingeschränkt im Sinne des § 60 SchwbG anzusehen.

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG.

Die Revision war wegen rechtsgrundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved