L 4 SB 1494/98

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 10 SB 753/97
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 SB 1494/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Weder das Schwerbehindertengesetz noch das Einkommensteuergesetz kennen einen besonderen Begriff der Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen. Die maßgeblichen Kriterien bei der Feststellung der Hilflosigkeit sind – unter Beachtung der durchschnittlichen besonderen Fälligkeiten des Alters – für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleich.
2. Auch unter Berücksichtigung der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz – Ausgabe 1996 – AHP – (Ziff. 21 und 22) kann bei Erkrankung an Zöliakie im Kindesalter nicht von dem Vorliegen von Hilflosigkeit im Sinne des § 33 b EStG ausgegangen werden, wenn als Therapie ausschließlich eine Diät einzuhalten ist und keine weiteren besonderen gesundheitlichen Komplikationen mit der Erkrankung verbunden sind.
3. Die Annahme von Hilflosigkeit bei Kindern, die unter Zöliakie leiden und eine Diät einhalten müssen, kann auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung nach den AHP erfolgen. Es liegt – mit Ausnahme der in Ziff. 22 t) AHP genannten Fälle – keine Vergleichbarkeit mit den Auswirkungen eines Diabetes mellitus oder einer Phenylketonurie im Kindesalter vor. Bei einer diätetisch beherrschbaren Zöliakie kann nicht davon ausgegangen werden, daß eine ständige Bereitschaft zur Überwachung erforderlich ist, also Hilfe häufig und plötzlich wegen akuter Lebensgefahr i.S. der Ziff. 22 Abs. 3 AHP erforderlich wird.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 16. September 1998 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs H. (Hilflosigkeit) wegen der Auswirkungen einer Zöliakie bei der 1991 geborenen Klägerin.

Die Eltern der Klägerin beantragten erstmals am 5. April 1994 für diese Feststellungen nach dem Schwerbehindertengesetz – SchwbG –. Durch Bescheid vom 27. April 1994 stellte der Beklagte als Behinderungen fest:

1) Zöliakie – Einzel-Grad der Behinderung – GdB – 10 – und
2) operativ behandelte Herzerkrankung – Einzel-GdB 20 –. Hieraus ergebe sich, so heißt es weiter in dem Bescheid, kein Mindest-GdB von 20.

Am 16. Juni 1994 beantragte die Klägerin die Erhöhung des GdB und die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs H. In einer aktenmäßigen Stellungnahme wies der Versorgungsarzt W. P. darauf hin, daß die Zöliakie mit 30 bewertet werden solle. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich H lägen nicht vor. Durch Bescheid vom 13. Oktober 1994 stellte der Beklagte ohne eine Änderung der Bezeichnung der Behinderungen den Gesamt-GdB mit 30 fest. Die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs lehnte er erneut ab. Mit einem Neufeststellungsantrag vom 14. Juli 1996 begehrte die Klägerin erneut die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs H. Es gelangte ein Befundbericht des Kinderarztes Dr. F. (Friedberg) zu den Akten und der Beklagte lehnte wiederum die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs H ab (Bescheid vom 27. August 1996). Zur Begründung führte er aus, daß eine wesentliche Änderung der Verhältnisse, die der vorangegangenen Bescheiderteilung zugrunde gelegen hätten, nicht eingetreten sei. Die anerkannte Stoffwechselstörung sei durch Diät gut eingestellt und von Seiten des Herzens bestünden z. Zt. keine Beeinträchtigungen. In dem Widerspruch vom 25. September 1996 führten die Eltern der Klägerin aus, daß die Tochter der ständigen Anleitung bei der Nahrungsaufnahme zur Vermeidung von Diätfehlern benötige. Durch Widerspruchsbescheid vom 20. März 1996 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte er aus, daß bei der Zöliakie Hilflosigkeit nur ausnahmsweise in Betracht komme, und zwar dann, wenn die Krankheit so spät festgestellt worden sei, daß bereits schwere Auswirkungen entstanden seien. Allerdings sei auch in solchen Fällen durch Einstellung auf eine entsprechende Diät eine Konsolidierung des Zustandes nach etwa einem Jahr erreicht. Die Auswirkungen der Krankheit bei Diätfehlern seien bei Kindern so gering, daß keine Hilfeleistungen in einem Umfang erforderlich seien, die die Annahme von Hilflosigkeit rechtfertigen könnten. Der Umfang der Hilfeleistungen bei Zöliakie sei bei Kindern in der Regel wesentlich geringer als bei Kindern mit Phenylketonurie oder mit Diabetes mellitus.

Auf die Klage der Eltern der Klägerin vor dem Sozialgericht Gießen vom 18. April 1997 hat der Beklagte eine versorgungsärztliche Stellungnahme der Dr. vom 27. Januar 1998 zu den Akten übersandt und das Sozialgericht hat einen Befundbericht bei Dr. F. eingeholt, dem diverse medizinische Unterlagen beigefügt waren. Des weiteren sind die Unterlagen des Medizinischen Zentrums für Kinderheilkunde der Universitätsklinik GX. über die Behandlung der Klägerin zu den Akten gelangt. Hieraus ergibt sich u.a., daß im Februar 1996 keine Diätfehler nachweisbar gewesen waren und die Herzerkrankung der Klägerin 1998 keine Auswirkungen mehr gezeigt hatte. 1997 befand sich die Klägerin in einem guten Allgemeinzustand. Nach Eingang einer weiteren versorgungsmedizinischen Stellungnahme der Dr. für den Beklagten vom 16. Juni 1998 hat das Sozialgericht Gießen durch Urteil vom 16. September 1998 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, daß der sich aus der Erkrankung der Zöliakie bei der Klägerin ergebende Hilfebedarf nicht das Ausmaß erreiche, das erforderlich sei, um den Nachteilsausgleich H zuzuerkennen. Die Klägerin müsse eine Diät einhalten, deren Einhaltung überwacht werden müsse. Die Nahrungsaufnahme an sich könne durch sie selbst erfolgen und die Nahrungszubereitung gehöre zu dem hauswirtschaftlichen Bereich. Hilfen in diesem Bereich könnten nicht zu der Annahme von Hilflosigkeit führen. Im häuslichen Bereich könne durch entsprechende Überwachungsmaßnahmen sichergestellt werden, daß die Klägerin nur für sie verträgliche Speisen zu sich nehme. Die Überwachung der Nahrungsaufnahme im außerhäuslichen Bereich erfülle nicht das Kriterium der Erheblichkeit, da ein Hilfebedarf nur bei einer der regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens erforderlich sei. Dies sei jedoch nicht ausreichend. Im übrigen seien die Auswirkungen von gelegentlichen Diätfehlern bei Zöliakie gering, so daß keine Hilfeleistungen in einem Umfang erforderlich seien, die die Annahme von Hilflosigkeit rechtfertigen. Bei der Klägerin seien zudem keine schweren Auswirkungen der Erkrankung festgestellt worden.

Gegen dieses der Klägerin am 8. Oktober 1998 zugestellte Urteil hat sie am 29. Oktober 1998 Berufung bei dem Hessischen Landessozialgericht eingelegt. Zur Berufungsbegründung weist sie nochmals auf die Folgen von Diätfehlern hin, insbesondere, weil sie keine unmittelbaren Auswirkungen zeigten, sondern erst später zu Folgeerkrankungen fuhren könnten.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 16. September 1998 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 27. August 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. März 1997 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, bei ihr das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs H festzustellen.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil für zutreffend.

Der Senat hat Auskünfte bei der Deutschen Zöliakiegesellschaft eingeholt und ein Protokoll des Sachverständigenbeirats der Sektion Versorgungsmedizin bei dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung vom 26. April 1999 beigezogen.

Wegen der weiteren Einzelheiten und zum Vorbringen der Beteiligten im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den Inhalt der Verwaltungsakte des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, denn sie form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG – i.V.m. § 4 Abs. 6 SchwbG).

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 16. September 1998 ist nicht zu beanstanden. Der Bescheid des Beklagten vom 27. August 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. März 1997 ist rechtmäßig. Die Klägerin wird dadurch nicht in ihren Rechten verletzt. Der Beklagte ist nicht verpflichtet, bei der Klägerin das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich H festzustellen.

Die Klägerin ist nicht hilflos im Sinne des Schwerbehindertenrechts. Im Schwerbehindertengesetz selbst wird der Begriff der Hilflosigkeit zwar nicht definiert. In § 48 Abs. 1 SchwbG heißt es lediglich, daß die Vorschriften über Hilfen für Behinderte zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile oder Mehraufwendungen (Nachteilsausgleiche) so zu gestalten seien, daß sie der Art oder der Schwere der Behinderung Rechnung tragen, und zwar unabhängig von der Ursache der Behinderung. Aber in § 59 Abs. 1 Nr. 1 SchwbG wird zur Ausfüllung des Begriffs auf § 33 b Einkommensteuergesetz – EStG – Bezug genommen. Nach § 33 b Abs. 6 Satz 1 EStG kann der Steuerpflichtige wegen der außergewöhnlichen Belastungen, die ihm durch die Pflege einer Person erwachsen, die nicht nur vorübergehend hilflos ist, an Stelle einer Steuerermäßigung nach § 33 einen Pauschbetrag geltend machen. Hilflos im Sinne des Satzes 1 ist eine Person, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den in Satz 2 genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muß, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist. Die Klägerin ist nicht hilflos in diesem Sinne. Das Sozialgericht Gießen hat dies in seinem Urteil vom 16. September 1998 zutreffend ausgeführt.

Der Senat nimmt auf diese Ausführungen Bezug und weist die Berufung insoweit aus den im erstinstanzlichen Urteil niedergelegten Gründen zurück. Er sieht, um Wiederholungen zu vermeiden, von einer erneuten Darstellung der Entscheidungsgründe hinsichtlich dieses Gesichtspunktes ab (§ 153 Abs. 2 SGG).

Neben dieser zuvor benannten Definition der Hilflosigkeit kennt das Schwerbehindertenrecht für den steuerrechtlich bedeutsamen Nachteilsausgleich H keinen besonderen Begriff der Hilflosigkeit bei Kindern. Hieran ändert es nichts, wenn nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz – AHP – (Herausgeber: Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Bonn 1996) im Kindesalter der Nachteilsausgleich der Hilflosigkeit unter erleichterten Voraussetzungen zugebilligt wird. Es fehlt insoweit an einer gesetzlichen Grundlage für die Verwaltungspraxis (vgl.: Urteile des BSG vom 12.11.96 – 9 RVs 18/94, S. 3; vom 26. November 1991 – 9a RVs 8/90, S. 6).

Allerdings sind die AHP als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen, die sich in der Praxis der Versorgungsverwaltung normähnlich auswirken (vgl. hierzu Urteil des BSG vom 18.12.1996 – 9 RV 17/95, S. 4). Die AHP haben sich nach der Art der untergesetzlichen Normen entwickelt, die von sachverständigen Gremien kraft Sachnähe und Kompetenz gesetzt werden. Der Senat folgt insoweit der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil des BSG vom 23.6.93 – 9/9a RVs 1/91, BSGE 72, 285, 286 f.). Die richterliche Kontrolle der AHP hat sich ungeachtet der Rechtsqualität, vornehmlich an den gesetzlichen Vorgaben zu orientieren, und es ist eine Evidenzkontrolle vorzunehmen. Dies dient dem Zweck der gleichmäßigen Behandlung aller Behinderten. Für das System der AHP, denen das Merkzeichen H zuzuordnen ist, beschränkt sich die Rechtskontrolle damit auf die Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht und Fragen der Gleichbehandlung (vgl. hierzu auch Beschluss des BVerfG vom 6.3.95 – 1 BvR 60/95, SozR 3870 § 3 SchwbG Nr. 6). Es geht nämlich um Minderheitenschutz, wenn bestimmten Gruppen von Behinderten Nachteilsausgleiche vorenthalten werden, obwohl ihre Behinderungen denen anderer Gruppen entsprechen. Gerade im Steuerrecht, auf das das Merkzeichen abzielt, ist eine besondere Sorgfalt im Umgang mit dem Gleichheitssatz angezeigt. Insoweit ergibt sich also eine Vertretbarkeitskontrolle dahin, ob im Rahmen gesetzgeberischer Freiheit für die Ungleichbehandlung sachliche Gründe vorhanden sind, so daß die Entscheidung für oder gegen ein Merkzeichen vertretbar ist. Ziel ist es, daß der Nachteilsausgleich zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile oder Mehraufwendungen geeignet ist und der Art und der Schwere der Behinderung Rechnung trägt. Dabei kann der Hilfebedarf in einem entschiedenen und zentralen Punkt ausreichen, wenn dieser Hilfebedarf für die gesamte Lebensführung prägend ist (vgl. BSG vom 06.03.1995, a.a.O.).

Mit dem BSG ist der Senat der Auffassung, daß in den AHP die Tendenz erkennbar ist, Lernen, Kenntnis- und Fertigkeitserwerb bei Kindern zu den regelmäßigen Verrichtungen des täglichen Lebens zu zählen (vgl. Urteil des BSG vom 23.06.1993 – 9/9a RVs 1/91, BSGE 72, 285, 291). So wird in Rdnr. 22 Nr. 1 die Hilfe in der Anleitung besonders hervorgehoben. Dies entspricht den allgemeinen Ausführungen zu dem Begriff der Hilflosigkeit in Ziffer 21 Abs. 3 (S. 37). Danach kann Hilflosigkeit auch dann vorliegen, wenn der Behinderte zwar bei den Verrichtungen des täglichen Lebens keiner Handreichung bedarf, er diese Verrichtungen aber infolge einer Antriebsschwäche ohne ständige Überwachung nicht vornimmt. Diese ständige Bereitschaft ist dann anzunehmen, wenn Hilfe häufig und plötzlich wegen akuter Lebensgefahr notwendig ist. Übertragen auf Kinder kann dies bei der Überwachung einer Diät, z.B. bei dem Diabetes oder der klinisch gesicherter Typ I – Allergie, der Fall sein. Wenn es auch an einer gesetzlichen Grundlage mangelt, um in diesen Fällen zu der Zuerkennung des Nachteilsausgleichs H zu gelangen, so ist doch im Sinne der oben benannten Rechtsprechung zu prüfen, ob die AHP insoweit die verschiedenen Behindertengruppen – behinderte Kinder, die an Zöliakie oder anderen Stoffwechselkrankheiten leiden – im Sinne des Gleichheitssatzes gleich behandeln.

Wie bereits im erstinstanzlichen Urteil ausgeführt, wird in den AHP im Hinblick auf den erforderlichen Hilfebedarf und damit die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs H zwischen Kindern, die unter Zöliakie und solchen, die unter der Phenylketonurie usw. (AHP Rdnr. 22 Abs. 4) leiden im Hinblick auf die Dauer der Zuerkennung des Nachteilsausgleichs H, differenziert. Nach den AHP an sich steht der Klägerin mithin der Nachteilsausgleich nicht zu. Sie erfüllt nicht die Voraussetzungen der Rdnr. 22 Abs. 4 lit. t der AHP. Es wird auch insoweit auf die erstinstanzlichen Entscheidungsgründe verwiesen (§ 153 Abs. 2 SGG).

Diese Differenzierung in den AHP ist jedoch auch unter Beachtung des Gleichbehandlungsgebots im Sinne der zuvor benannten Rechtsprechung gerechtfertigt (vgl. auch Urteil des LSG Niedersachsen, vom 18. Dezember 1997 – L 10 Vs 52/97, Breithaupt 98, 551). Es ist im vorliegenden Fall ein sachliches Differenzierungskriterium vorhanden. Dieses ist dem System der AHP selbst zu entnehmen.

Wie zuvor bereits ausgeführt, ist nach Rdnr. 21 Abs. 3 der AHP nur dann eine Bereitschaft zur Hilfeleistung, anstatt konkreter Hilfeleistungen bei einzelnen Verrichtungen, ausreichend für die Annahme von Hilflosigkeit, wenn die Überwachung erforderlich ist, um z.B. eine plötzliche Lebensgefahr abzuwenden. Dies ist bei den unter Rdnr. 22 Abs. 4 lit. k und 1 benannten Behinderungen bei Kindern der Fall. Die Überwachung der Einhaltung einer Diät ist dort als Bereitschaft zur Hilfeleistung wegen des Risikos des Eintritts einer lebensgefährlichen Lage im weitesten Sinne bzw. wegen des Erfordernisses der dauernden Hilfe anzusehen. So kann nämlich der hypoglykämische Schock wegen Nichteinhaltung der Diät bei Diabetes mellitus lebensgefährliche Folgen haben. Ähnliches gilt für die unter Rdnr. 22 Abs. 4 lit. 1 benannten Erkrankungen, die im wesentlichen zu den hereditären Eiweißstoffwechselstörungen zählen. Es können ohne die Einhaltung einer entsprechenden Diät und bei Diätfehlern, die Phenylketonurie mit extrapyramidalen Störungen, Krampfanfällen und psychischer sowie geistiger Fehlentwicklung, die Leuzinose (Ahorn-Sirup-Krankheit) mit cerebralen und mentalen Entwicklungsstörungen, Krampfanfällen und Ernährungsstörungen sowie die Homozystinurie mit Intelligenzdefekt, Skelettanomalien und Thromboembolien verbunden sein (vgl. Schettler pp, Innere Medizin, Lehrbuch, Stuttgart 1987, Band II, S. 504, 505).

Der Hilfebedarf bei an Zöliakie erkrankten Kindern überschreitet den Hilfebedarf gesunder Kinder dort, wo es darum geht, sie anzuhalten, eine glutenfreie Diät einzuhalten, sofern nicht wegen weiterer gesundheitlicher Einschränkungen weiterer Hilfebedarf vorhanden ist. Als Folge eines Diätfehlers bei der Zöliakie kommt es im Regelfall – Ausnahmen sind die in Ziff. 22 Abs. 4 lit. k benannten – zu verstärkten Durchfällen. So heißt es in der von der Deutschen Zöliakie-Gesellschaft e.V. herausgegebenen Broschüre zur Zöliakie/Sprue (verfaßt von Prof. Harms, Kinderklinik der Universität München, Stuttgart, November 1998, S. 13/14), daß die Gefahr bestehe, daß die Eltern zu der Erkenntnis gelangten, die Krankheit sei ausgeheilt, weil keine unmittelbaren Folgen eines Ernährungsfehlers aufzutreten brauchten. Es könne dann jedoch auch nach Jahren äußerlicher Beschwerdelosigkeit zu erneuten Wachstumsstörungen, Blutarmut und Durchfällen kommen. Weiter wird ausgeführt: "Falls das Kind einmal etwas "Falsches erwischt” hat, sollte keine Panik aufkommen, da es kaum je sofort zu schlimmen Symptomen kommt. Man sollte sich des Fehlers bewußt sein und ihn in Zukunft zu vermeiden suchen.” Hieraus ist zu schließen, daß zwar eine lebenslange glutenfreie Ernährung bei dem Vorliegen von Zöliakie eingehalten werden sollte, von dem Eintritt einer akuten Lebensgefahr bei Diätfehlern jedoch nicht ausgegangen werden kann. Soweit in der medizinischen Wissenschaft die Auffassung vertreten wird, daß Diätfehler die Möglichkeit des Anstiegs des Krebsrisikos im fortgeschrittenen Alter nach sich zögen, ist dies nicht ausreichend, um eine Vergleichbarkeit mit den anderen Behindertengruppen, die in den AHP unter Rdnr. 22 Abs. 4 lit. k und 1 benannt sind, zu begründen. So heißt es in dem Aufsatz des Dr. Keller zur glutensensitiven Enteropahtie (coeliakie) (Sonderdruck: der Kinderarzt, 2/1994) in der Zusammenfassung: "Die gut dokumentierte Häufung maligner Erkrankungen bei jahrelangem Nichteinhalten der glutenfreien Diät unterstreicht die Bedeutung dieser Therapie (glutenfreie Ernährung – Anmerkung des Senats) auch in präventiver Hinsicht”. Prof. C. von der Universitätsklinik FX. führt hierzu in der eingangs benannten Broschüre der Deutschen Zöliakie-Gesellschaft (a.a.O., S. 21) aus, daß das Malignomrisiko bei Patienten, die eine strikte glutenfreie Diät einhielten nicht, bei denjenigen, die nur gelegentlich oder überhaupt keine glutenfreie Kost einhielten, erhöht sei. Hieraus folgt, daß gelegentliche Diätfehler jedoch keineswegs wissenschaftlich erwiesen, ein erhöhtes Krebsrisiko nach sich ziehen (so auch die Entscheidung des Senats vom 6. März 1990 – L-4/5/Vb – 1260/89).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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