L 4 SB 942/99

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 6d SB 1485/96
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 SB 942/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 29. Juni 1999 aufgehoben.

Die Klagen gegen den Bescheid vom 22. Mai 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 1996 und den Bescheid vom 3. Mai 1999 werden abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosen zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Entziehung des Nachteilsausgleichs "aG” – außergewöhnliche Gehbehinderung –.

Die 1931 geborene Klägerin beantragte erstmals 1982 Feststellungen nach dem Schwerbehindertengesetz – SchwbG –. In den Bescheiden vom 22. Juli 1982, 7. November 1983 und 11. August 1986 stellte der Beklagte den Gesamt-Grad der Behinderung – Gesamt-GdB – der Klägerin mit 40, 50 und 40 fest. Am 21. Februar 1991 erlitt die Klägerin einen Arbeitsunfall und später in dessen Folge einen Oberschenkelhalsbruch. Sie beantragte daraufhin am 18. November 1991 die Neufeststellung des GdB unter Berücksichtigung der Unfallfolgen. Der Beklagte holte zunächst einen Befundbericht bei Dr. W. (Allgemeinmediziner, W.) vom 12. März 1992 ein, dem weitere medizinische Unterlagen beigefügt waren. Die Unterlagen der G. und L. Berufsgenossenschaft – BG – konnte er nicht einsehen, da diese ihre Ermittlungen in dem Verfahren um die Gewährung von Verletztengeld noch nicht abgeschlossen hatte. Durch Bescheid vom 10. Juli 1992 stellte er alsdann unter dem Vorbehalt der Entscheidung der BG als Behinderungen fest:

1) Degenerative Wirbelsäulen- und Gelenkveränderungen, praktische Gebrauchsunfähigkeit des linken Beines nach Sprunggelenks- und Schenkelhalsbruch mit Sudeck-Syndrom – Einzel-GdB 80 –,
2) Allergisches Kontaktekzem – Einzel-GdB 20 –,
3) Labiler Bluthochdruck – Einzel-GdB 10 –.

Den Gesamt-GdB bewertete er mit 80 und stellte fest, dass durch die festgestellten Behinderungen die gesundheitlichen Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche "G” (erhebliche Gehbehinderung), "B” (Erforderlichkeit einer ständigen Begleitung) und "aG” erfüllt seien. Er führte weiter in dem Bescheid aus, dass er bei der Erteilung eines endgültigen Bescheides nicht an den vorläufigen Bescheid gebunden sei.

Durch Bescheid vom 12. März 1993 setzte die BG den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit – MdE – auf 50 v.H. und später durch Bescheid vom 11. Mai 1995 auf 40 v.H. ab dem 1. Juli 1995 fest. Zur Begründung führte sie in dem Herabsetzungsbescheid aus, dass die Überprüfung der groben Kraft des linken Beines gezeigt habe, dass nunmehr wieder ein für die Hüft- und Oberschenkelmuskulatur normaler Befund vorläge. Der Morbus Sudeck sei abgeklungen. Es sei eine Anpassung und Gewöhnung an die Unfallfolgen eingetreten. Der Beklagte erließ daraufhin einen weiteren Bescheid vom 22. Mai 1995, in dem er die Behinderungen der Klägerin wie folgt neu bezeichnete:

1) Arbeitsunfallfolgen linkes Bein – Einzel-GdB 40 –,
2) Degenerative Wirbelsäulen- und Gelenkveränderungen – Einzel-GdB 30 –,
3) Allergisches Kontaktekzem – Einzel-GdB 20 –,
4) Labiler Bluthochdruck – Einzel-GdB 10 –.

Den Gesamt-GdB setzte er mit 60 fest und beließ es bei der Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "G”. Die gesundheitlichen Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche "aG” und "B” lägen nicht mehr vor, so heißt es weiter in dem Bescheid. Die Klägerin legte hiergegen Widerspruch ein und verwies zur Begründung im Wesentlichen auf ihre Ausführungen in dem Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid der BG. Der Beklagte zog dann medizinische Unterlagen aus dem Verwaltungsverfahren der BG bei. Hierunter finden sich unter anderem ein Arztbericht des Dr. C. (Neurologe, H. M.) vom 21. September 1994, eine Stellungnahme des Prof. S. (Universitätsklinik G.) vom 13. März 1995 und ein Arztbericht des Dr. W. vom 4. April 1995. Dr. C. wies auf immer noch vorhandene Schmerzen der Klägerin hin. Diese erschwerten das Laufen. Prof. S. erwähnte, dass im Vergleich zu seinem Vorgutachten vom 8. Februar 1992 eine Besserung nur im Hinblick auf die Oberschenkelfraktur eingetreten sei. Dr. W. führte aus, dass die Klägerin sich nur mit Hilfe hochschachtiger orthopädischer Schuhe bewegen könne. Des weiteren finden sich in den Unterlagen der BG Bescheide vom 26. Juni 1996, mit denen diese die MdE ab 15. Juli 1992 auf 40 v.H. und 4. November 1992 auf 30 v.H. herabsetzte. Als verbliebene Unfallfolgen führte sie auf: Versteifung des linken oberen und unteren Sprunggelenkes mit mäßiger Spitzfußstellung, Muskelschwäche des Beines, Ödembildung bzw. Weichteilschwellung im Unterschenkel- und Sprunggelenksbereich mit daraus resultierender Gang- und Standbehinderung. Nach der Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des B. L. (Chirurg, K.) vom 26. Juli 1996 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin durch Widerspruchsbescheid vom 28. Oktober 1996 zurück.

Auf ihre Klage vor dem Sozialgericht in Kassel vom 22. November 1996 hat dieses ein medizinisches Sachverständigengutachten bei dem Orthopäden Dr. D. (K.) vom 9. März 1999 eingeholt. Dieser gelangte zu der Einschätzung, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "aG” nicht vorlägen. Die Klägerin könne sich ohne fremde Hilfe mit zwei Unterarmstützen und orthopädischem Schuhwerk rhythmisch und sicher auf ebener Erde bewegen. Ansonsten benötige sie Begleitung. Sie sei nicht mit einem Hüftexartikulierten vergleichbar, da sie mit den orthopädischen Hilfsmitteln über die erforderliche Sicherheit verfüge. Hierzu hat Dr. v.F. für den Beklagten eine versorgungsärztliche Stellungnahme abgegeben. Der Beklagte hat unter Berücksichtigung dieser durch Abhilfebescheid vom 3. Mai 1999 als weitere Behinderung mit einem Einzel-GdB von 10 ein Lymphödem sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "B” festgestellt. In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Kassel hat die Klägerin die Klage im Hinblick auf die Herabsetzung des Gesamt-GdB zurückgenommen.

Durch Urteil vom 29. Juni 1999 hat das Sozialgericht Kassel der Klage stattgegeben, soweit der Beklagte der Klägerin den Nachteilsausgleich "aG” entzogen hat. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Bescheid vom 22. Mai 1995 sei im Hinblick auf die Entziehung des Nachteilsausgleiches "aG” unter Verletzung des rechtlichen Gehörs erfolgt. Der Bescheid sei daher rechtswidrig. Dieser Verfahrensmangel erfasse auch den Widerspruchsbescheid und den im Klageverfahren erlassenen Abhilfebescheid, weil die Anhörung bis zum Schluss des Verwaltungsverfahrens nicht nachgeholt worden sei. Der Beklagte sei nämlich vor dem Erlass des Bescheides vom 22. Mai 1995 verpflichtet gewesen, die Klägerin im Sinne des § 24 Sozialgesetzbuch 10. Buch – SGB 10 – über den Eingriff in ihre Rechte, nämlich die Entziehung des Nachteilsausgleichs "aG”, anzuhören. Hieran ändere es auch nichts, dass der Bescheid vom 10. Juli 1992 unter dem Vorbehalt der Entscheidung der BG erlassen worden sei. Der Beklagte sei zwar verpflichtet, die Höhe des GdB in der von der BG festgestellten MdE-Höhe für die Unfallfolgen in seinen Bescheid zu übernehmen. Im Hinblick auf die Zuerkennung eines Nachteilsausgleichs sei er jedoch zu eigenen Feststellungen verpflichtet. Er entscheide mithin auch in eigener Kompetenz über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen insoweit. Vor der Entziehung des Nachteilsausgleichs "aG” habe der Beklagte die Klägerin jedoch nicht über seine Entscheidungsgrundlagen in Kenntnis gesetzt und ihr keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Äußerungen der Klägerin im Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid der BG könnten diese Anhörung nicht ersetzen, da die BG nicht über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "aG” entschieden habe.

Gegen dieses dem Beklagten am 16. Juli 1999 zugestellte Urteil hat dieser am 6. August 1999 Berufung bei dem Hessischen Landessozialgericht eingelegt.

Er vertritt die Auffassung, dass eine Anhörung der Klägerin vor der Herabsetzung des GdB und der Entziehung der Nachteilsausgleiche nicht erforderlich gewesen sei. Die unterlassene Anhörung sei im Übrigen im Widerspruchsverfahren nachgeholt worden.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 29. Juni 1999 aufzuheben und die Klagen abzuweisen, soweit sie sich auf die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG” beziehen.

Die im Termin zur mündlichen Verhandlung weder anwesende noch vertretene Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil für zutreffend.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird Bezug genommen auf den Akteninhalt sowie auf den der Akten des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte auch in Abwesenheit der Klägerin aufgrund mündlicher Verhandlung entscheiden, da sie auf diese Möglichkeit in der ordnungsgemäßen Ladung hingewiesen worden ist (§ 110 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –).

Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt und an sich statthaft (§§ 143, 151 SGG i.V.m. § 4 Abs. 6 SchwbG).

Das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 29. Juni 1999 kann keinen Bestand haben. Der Bescheid des Beklagten vom 22. Mai 1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 1996 und des Bescheides vom 3. Mai 1999 (§ 96 SGG) ist rechtmäßig, soweit der Beklagte damit den Nachteilsausgleich "aG” entzogen bzw. nicht wieder festgestellt hat. Die Klägerin wird dadurch nicht in ihren Rechten verletzt. Die Klägerin erfüllt die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "aG” nicht.

Zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 22. Mai 1995 lagen die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "aG” nicht mehr vor. Sie liegen auch heute nicht vor. Die Klägerin ist seit 1995 nicht außergewöhnlich gehbehindert.

Nach § 46 Straßenverkehrsordnung (StVO) sind als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind. Dabei ist eine außergewöhnliche Gehbehinderung nur dann anzunehmen, wenn sich die Einschränkung auf die Gehfähigkeit und nicht auf die Bewegungsbehinderung anderer Art bezieht. Das Gehvermögen muss auf das schwerste eingeschränkt sein. Hiervon kann bei der Klägerin nach dem Abheilen der Folgen der Oberschenkelfraktur und der insoweit verbliebenen geringen Einschränkung der Bewegungsfähigkeit nicht mehr ausgegangen werden. Unter Berücksichtigung der Arztberichte der Dres. C. vom 21. September 1994 und W. vom 4. April 1995 war die Klägerin 1994 in der Lage, sich mit zwei Unterarmstützen fortzubewegen. Es war 1996 bei ihr noch eine Versteifung des linken oberen und unteren Sprunggelenks mit mäßiger Spitzfußstellung, eine Muskelschwäche des linken Beines und Ödembildung bzw. Weichteilschwellung im Unterschenkel- und Sprunggelenksbereich mit daraus resultierender Gangbehinderung festzustellen. Prof. Dr. S. hatte hierzu im März 1995 in einem Bericht ausgeführt, dass eine Besserung im Gesundheitszustand der Klägerin nur im Hinblick auf die Folgen der Oberschenkelfraktur eingetreten sei. Dies hat sich bis heute nicht geändert. Dr. D. bestätigt in seinem Sachverständigengutachten vom 9. März 1999, dass die Klägerin sich mit zwei Unterarmstützen ohne fremde Hilfe und mit orthopädischem Schuhwerk rhythmisch und sicher gehend bewege. Zutreffend weist er daraufhin, dass die Klägerin im Hinblick auf die Einschränkung ihres Gehvermögens nicht mit einem Hüftexartikulierten vergleichbar sei. Dies gilt aber auch für die Vergleichbarkeit mit einem einseitig Oberschenkelamputierten. Zwar sind die sich auf die Gehfähigkeit der Klägerin auswirkenden Behinderungen, ebenso wie bei diesen Personen, einseitig. Doch kann einem einseitig Oberschenkelamputierten nur dann der Nachteilsausgleich "aG” zuerkannt werden, wenn er dauernd außerstande ist, ein Kunstbein zu tragen (vgl. hierzu Entscheidung des Bundessozialgerichts – BSG – vom 17. Dezember 1997 – 9 RVs 16/96). Es ist davon auszugehen, dass dies dann nämlich zu einer erheblichen Unsicherheit bei der Gehbewegung mit zwei Unterarmstützen führt. Die Klägerin kann hingegen auch das betroffene Bein noch zur Abstützung verwenden, so dass es zu dem von Dr. D. beschriebenen rhythmischen und sicheren Gangbild kommt. Die erforderliche Hilfeleistung bei dem Treppensteigen oder dem Gehen auf unebenem Gelände kann nicht zu der Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG” fuhren. Der notwendige Hilfebedarf durch eine Begleitperson wird durch den Nachteilsausgleich "B”, wie ihn der Beklagte durch Bescheid vom 3. Mai 1999 wieder anerkannt hat, umfasst.

Der Bescheid vom 22. Mai 1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 1996 und des Abhilfebescheides vom 3. Mai 1999 sind auch nicht unter Berücksichtigung der von dem Sozialgericht Kassel in dem Urteil vom 29. Juni 1999 vertretenen Auffassung aufzuheben, soweit der Beklagte den Nachteilsausgleich "aG” entzogen hat. Sie leiden nach der Auffassung des erkennenden Senats nicht unter der Verletzung des rechtlichen Gehörs der Klägerin, da diese zu der Entziehung des Nachteilsausgleichs "aG” nach der Erteilung des "Vorbehaltsbescheides” nicht angehört zu werden brauchte. Dies gilt unabhängig davon, dass der Bescheid vom 3. Mai 1999 Gegenstand des Verfahrens nach § 96 SGG geworden ist.

Der Beklagte hat den Bescheid vom 22. Mai 1995 unter dem Vorbehalt der endgültigen Feststellungen der G. und L.-Berufsgenossenschaft erlassen. Dieser Vorbehalt betrifft zunächst nur die Feststellung der Behinderung als Folge des Arbeitsunfalls und die Höhe der MdE bzw. des GdB.

Ein derartiger Vorbehalt stellt eine Nebenbestimmung im Sinne des § 32 Abs. 1 SGB 10 dar. Danach darf ein Verwaltungsakt, auf den ein Anspruch besteht, mit einer Nebenbestimmung nur versehen werden, wenn sie durch Rechtsvorschrift zugelassen ist oder wenn sie sicherstellen soll, dass die gesetzlichen Voraussetzungen des Verwaltungsakts erfüllt werden. Eine derartige gesetzliche Bestimmung findet sich im vorliegenden Fall in § 4 Abs. 2 SchwbG. Danach ist eine Feststellung nach Abs. 1 nicht zu treffen, wenn eine Feststellung über das Vorliegen einer Behinderung und den Grad einer auf ihr beruhenden Minderung der Erwerbsfähigkeit schon in einem Rentenbescheid, der für diese Entscheidung zuständigen Dienststellen getroffen worden ist, es sei denn, dass der Behinderte ein Interesse an anderweitiger Feststellung nach Abs. 1 glaubhaft macht. Eine Feststellung nach Abs. 2 gilt zugleich als Feststellung des Grades der Behinderung. Die Feststellung der Arbeitsunfallfolgen und die Höhe der MdE hierfür durch die Berufsgenossenschaft binden demnach den Beklagten, so dass dieser in dem damaligen Verfahrensstadium eine Feststellung der Behinderungen und die Höhe des GdB nur unter dem Vorbehalt der späteren Entscheidung der Berufsgenossenschaft treffen konnte und durfte. Dies gilt zwar nicht für die nach § 4 Abs. 4 SchwbG vorgesehene Feststellung von Nachteilsausgleichen. Hierzu heißt es in § 4 Abs. 4 SchwbG nämlich ausdrücklich, dass dann, wenn neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind, die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes – BVG – zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach Abs. 1 treffen. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn der Beklagte, wie im vorliegenden Fall, nach dem eindeutigen Bescheidtext auch die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des betreffenden Nachteilsausgleichs unter Vorbehalt gestellt und die Feststellung in Abhängigkeit von der durch einen anderen Träger festzustellenden Behinderung steht.

Bereits von ihrem Sinn und Zweck her war in diesem Fall eine erneute Anhörung der Betroffenen nicht erforderlich. Sie ist bereits in dem "Vorbehaltsbescheid” daraufhingewiesen worden, dass sich eine Änderung der rechtlichen Bewertung ergeben könnte, wenn sich aus den Feststellungen der BG ergäbe, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "aG” nicht mehr gegeben seien. Die Anhörung dient dazu, die Betroffene in die Lage zu versetzen, sich adäquat und umfassend zu dem rechtlich relevanten Sachverhalt zu äußern. Voraussetzung ist mithin, dass der Betroffenen der Sachverhalt bekannt ist, zu dem sie sich zur Wahrung ihrer rechtlichen Interessen äußern sollte. Hiervon ist im vorliegenden Fall auszugehen. Der Beklagte hat in seinem Vorbehaltsbescheid vom 10. Juli 1992 ausdrücklich daraufhingewiesen, dass seine Entscheidung von der der BG in Abhängigkeit stände. Gegenüber der BG hat sich die Klägerin im Verfahren um die Feststellung der Höhe der Verletztenrente (Höhe der MdE und Feststellung der Arbeitsunfallfolgen) mehrfach geäußert. Sie war über die dortigen Sachverhaltsfeststellungen informiert. Die Herabsetzung des GdB und die Neufeststellung der Nachteilsausgleiche kamen für die Klägerin mithin nicht überraschend. Sie kannte die Grundlagen der Feststellung durch den Beklagten aus dem Verwaltungsverfahren mit der BG. Sie kannte mithin auch die entscheidungserheblichen Grundlagen für die Entscheidung des Beklagten (vgl. Entscheidung des 9. Senats des BSG vom 25. März 1999 – B 9 SB 12/97 –, vom 25. März 1999 – B 9 SB 14/97 –). Der endgültige Bescheid vom 22. Mai 1995 stellt zudem keinen belastenden Bescheid dar, vor dessen Erlass die Klägerin anzuhören gewesen wäre. Der Vorbehaltsbescheid vom 10. Juli 1992 hat sich ohne besondere Aufhebung durch Erlass des endgültigen Bescheides erledigt (vgl. hierzu Entscheidung des BSG zu einem Vorschussbescheid vom 9. Mai 1996 – 7 RAr 36/95 –).

Im Übrigen ist selbst dann, wenn der Beklagte, wie in dem erstinstanzlichen Urteil angenommen wird, nicht berechtigt war, die Feststellung der Nachteilsausgleiche unter einen Vorbehalt der Entscheidung der BG zu stellen, keine andere Entscheidung gerechtfertigt.

Selbst wenn der Bescheid vom 10. Juli 1992 insoweit rechtswidrig gewesen sein sollte, so ist er dennoch bindend geworden. Damit ist auch der dortige Vorbehalt, der sich nach dem Wortlaut eindeutig auch auf die Feststellung der Nachteilsausgleiche bezieht, in Bestandskraft erwachsen. Unter Berücksichtigung seiner Rechtsauffassung konnte der Beklagte damit jedoch nach der Erteilung des Bescheides der BG auch seinen Bescheid vom 10. Juli 1992 ohne erneute Anhörung ändern. Es wird insoweit auf die vorangegangenen Ausführungen verwiesen.

Die Kostentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Rechtsstreits zuzulassen (§ 160 SGG).
Rechtskraft
Aus
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