Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 Ar 12/62
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt a.M. vom 27. März 1962 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der 1895 geborene Kläger war vom 1. August 1948 bis 30. Juni 1956 und ab 1. November 1956 als Heimarbeiter (Hosenschneider) bei der Firma L., Sp., versicherungspflichtig beschäftigt. Zum 15. September 1960 wurde ihm wegen Erreichung der Altersgrenze gekündigt. Vom 3. bis 15. September 1960 erhielt er bezahlten Urlaub. Sein Sohn H., mit dem er gemeinsam ein Haus bewohnt, war in den Jahren 1946 bis 1959 mit ihm bei der Firma L. als Heimarbeiter (Hosenschneider) in gemeinsamer Arbeitsstätte beschäftigt und verrichtete seit dem 5. September 1960 für diese Firma wieder die gleiche Tätigkeit. In der Zwischenzeit war er als Fabrikarbeiter bei der Firma D. in W. beschäftigt.
Der Kläger meldete sich am 19. September 1960 arbeitslos und beantragte die Gewährung von Arbeitslosengeld. Das Arbeitsamt H. lehnte den Antrag mit Bescheid vom 28. Oktober 1960 ab. Der Kläger gelte nicht als Heimarbeiter weil sein Sohn H. in der gemeinsamen Arbeits- und Wohnstätte eine gleichartige Tätigkeit als Heimarbeiter aufgenommen habe (§ 75 Abs. 5 Satz 2 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung – AVAVG).
Nachdem dem hiergegen eingelegten Widerspruch des Klägers nicht abgeholfen worden war, erhob er bei dem Sozialgericht Frankfurt a.M. Klage. Dieses verurteilte die Beklagte mit Urteil vom 27. März 1962 dem Grunde nach, dem Kläger das Arbeitslosengeld zu gewähren. Die eng auszulegende Bestimmung des § 75 Abs. 5 Satz 2 AVAVG könne hier keine Anwendung finden, weil der Sohn H. des Klägers seine Heimarbeitertätigkeit bereits vor der Arbeitslosmeldung des Klägers aufgenommen habe.
Gegen das der Beklagten am 5. April 1962 zugestellte Urteil hat diese am 21. April 1962 Berufung eingelegt. Sie führt u.a. aus, die Bestimmung des § 75 Abs. 5 Satz 2 AVAVG sei auch auf die Fälle anzuwenden, in denen anstelle des seither tätigen Heimarbeiters ein Familienangehöriger in der gemeinsamen Arbeits- oder Wohnstätte eine gleichartige Tätigkeit antrete und die Arbeitslosmeldung erst nach dem tatsächlichen Ende des Beschäftigungsverhältnisses erfolge. Bei einer wörtlichen Auslegung käme diese Bestimmung praktisch kaum zur Anwendung, da in aller Regel bei einem Wechsel der Familienangehörigen in der Heimarbeitertätigkeit in nahtloser Folge die Arbeitslosmeldung erst zu einem Zeitpunkt abgegeben werde, in dem der andere Familienangehörige bereits die Arbeit aufgenommen habe.
Sie beantragt,
das Urteil des Sozialgerichtes Frankfurt a.M. vom 27. März 1962 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er führt aus, das Sozialgericht habe die Beklagte zutreffend zur Gewährung von Arbeitslosengeld verurteilt.
Von der Firma L., Sp., wurde noch eine schriftliche Auskunft eingeholt (Bl. 48 der Verfahrensakte), die ebenso wie der Inhalt der beigezogenen Leistungsakte des Arbeitsamts H. und der Verfahrensakte zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt sowie zulässig.
Sie ist auch begründet. Dem Kläger steht auf seinen Antrag vom 19. September 1960 kein Arbeitslosengeld zu, weil er nicht arbeitslos war und damit die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 AVAVG nicht erfüllte. Gemäß § 75 Abs. 5 Satz 2 AVAVG gilt nämlich nicht als arbeitslos ein Heimarbeiter, sobald einer seiner Familienangehörigen in der gemeinsamen Arbeits- oder Wohnstätte eine gleichartige Tätigkeit als Heimarbeiter aufnimmt.
Dies ist hier der Fall. Unstreitig wurde eine gleichartige Tätigkeit in gemeinsamer Wohn- und Arbeitsstätte verrichtet. Der Kläger arbeitete vor seiner Arbeitslosmeldung als Hosenschneider bei der Firma L., Sp ... Die gleiche Tätigkeit wird seither von dem Sohn H. des Klägers in der im Erdgeschoß des gemeinsam bewohnten Hauses gelegenen Werkstatt verrichtet. Dies ergibt sich aus der Auskunft der Firma L. vom 1. Juni 1962 und den Angaben des Sohnes des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 15. August 1962 (vgl. Bl. 48 und 54 der Verfahrensakte).
Das Sozialgericht ist zu Unrecht der Auffassung, § 75 Abs. 5 Satz 2 AVAVG könne hier nicht angewandt werden, weil sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergebe, daß ein Heimarbeiter nur dann nicht als arbeitslos gelte, wenn einer seiner Familienangehörigen eine gleichartige Tätigkeit in der gemeinsamen Arbeits- oder Wohnstätte erst nach der Arbeitslosmeldung oder gleichzeitig mit ihr aufnehme. Bereits nach dem Wortlaut dieser Bestimmung kommt es aber für die Verneinung der Arbeitslosigkeit eines Heimarbeiters nur darauf an, daß ein Familienangehöriger in der gemeinsamen Arbeits- oder Wohnstätte eine gleichartige Tätigkeit als Heimarbeiter aufnimmt, ohne daß der Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung dabei eine Rolle spielt.
Durch § 75 Abs. 5 AVAVG soll eine mißbräuchliche Ausnutzung der Arbeitslosenversicherung in der Heimarbeit nach Möglichkeit verhindert werden. Nachdem der Gesetzgeber die gesamte Heimarbeit nicht arbeitslosenversicherungsfrei gestellt hat, will er der Gefahr, die er darin erblickt, daß Heimarbeiter versuchen könnten, etwa eine ungenügende Entlohnung auf dem Wege über die Versicherungsleistung auszugleichen, entgegentreten. Wegen der Schwierigkeit, die Arbeitslosigkeit von Heimarbeitern bei gemeinsamen Arbeits- oder Wohnstätten mit anderen Heimarbeitern zuverlässig festzustellen, hat er in § 75 Abs. 5 AVAVG den wesentlichen Inhalt des Artikels 2 der Verordnung über die Arbeitslosenversicherung von Hausgewerbetreibenden und Heimarbeitern vom 18. Oktober 1930 (RABl I S. 227) übernommen. Gleichzeitig hat er diese Vorschrift durch den letzten Satz des § 75 Abs. 5 AVAVG erweitert, um einer mißbräuchlichen Ausnutzung der Unterstützung vorzubeugen, die durch Übernahme der bisher von dem arbeitslosen Heimarbeiter ausgeführten Tätigkeit durch einen Familienangehörigen möglich wäre (vgl. Bundestagsdrucksache 2. Wahlperiode, 1953, Nr. 1274 zu §§ 75 c, 87 a Abs. 5). Auch mit diesem gesetzgeberischen Zweck, einen Mißbrauch der Arbeitslosenversicherung zu verhindern, ist die vom Sozialgericht vorgenommene Auslegung des § 75 Abs. 5 Satz 2 AVAVG nicht vereinbar. Die Beklagte hat zutreffend darauf hingewiesen, daß diese Bestimmung bei einem Wechsel der Heimarbeitertätigkeit durch Familienangehörige ohne zeitlichen Zwischenraum sonst in der Regel nicht anwendbar wäre, weil die Arbeitslosmeldung meist erst in einem Zeitpunkt erfolgt, in dem der andere Familienangehörige die Arbeit bereits aufgenommen hat. Auf jeden Fall könnte mit einer Verzögerung der Arbeitslosmeldung schon um einen Tag die Anwendbarkeit des § 75 Abs. 5 Satz 2 a.a.O. ausgeschlossen werden. Die Wörter " sobald aufnimmt ” können nur so verstanden werden, daß eine allgemeine zeitliche Beziehung zwischen der Beendigung der Heimarbeit durch einen Familienangehörigen und der Aufnahme gleichartiger Heimarbeit durch einen anderen Angehörigen hergestellt werden soll. Im vorliegenden Fall besteht ein solcher zeitlicher Zusammenhang. Der Kläger schied am 15. September 1960 aus der Heimarbeit aus, während sein Sohn H. diese Arbeit kurz zuvor, nämlich am 5. September 1960, aufnahm.
§ 75 Abs. 5 Satz 2 a.a.O. könnte nur dann nicht angewandt werden, wenn der Kläger seinem Sohn in gemeinschaftlicher Arbeits- und Wohnstätte gearbeitet hätte und ihr Gesamtentgelt nach der Arbeitslosmeldung des Klägers mindestens um den Betrag gemindert wäre, der sich bei gleichmäßiger Verteilung des bisherigen Gesamtverdienstes auf beide Arbeitnehmer als Anteil des Klägers ergäbe (Satz 1 a.a.O.). Der Kläger hat erstmals in der mündlichen Verhandlung am 15. August 1962 durch seinen Sohn H. vorgetragen, daß dieser ihm während seiner Beschäftigung als Fabrikarbeiter bei der Firma D. nach Kräften bei der Heimarbeit und in der Zeit vom 28. August bis 2. September 1960 während eines von der Firma D. bezahlten Urlaubs bei der Anfertigung von 15 Hosen, die dann Anfang Oktober von der Firma L. mit seinem Sohn abgerechnet worden seien, geholfen habe. Damit haben der Kläger und sein Sohn aber nicht in Sinne des § 75 Abs. 5 Satz 1 AVAVG als Heimarbeiter miteinander gearbeitet. Zwar steht der Anwendung dieser Bestimmung nicht der Umstand entgegen, daß der Sohn H. als Fabrikarbeiter bereits in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stand. Denn neben einer solchen Beschäftigung ist die Verrichtung von Heimarbeit durchaus möglich. § 75 Abs. 5 Satz 1 AVAVG kann aber nicht angewandt werden, wenn es sich, wie im vorliegenden Fall, lediglich um eine familienhafte Mitarbeit ohne Begründung eines regelrechten Heimarbeiterverhältnisses im Sinne des Heimarbeitsgesetzes vom 14. März 1951 (BGBl I S. 191) handelt. Etwas anderes kann auch nicht gelten, wenn die Behauptung des Klägers als zutreffend unterstellt wird, daß ihm sein Sohn während eines von der Firma D. bezahlten Urlaubs in der Zeit vom 28. August bis 2. September 1960 geholfen habe, für die Firma L. 15 Hosen anzufertigen. Abgesehen davon, daß der Sohn H. des Klägers der Bescheinigung der Firma L. vom 6. Oktober 1960 (Bl. 14 Leistungsakte) zufolge erst seit dem 5. September 1960 für diese Arbeitgeberin tätig ist, würde ein so kurzer Zeitraum nicht ausreichen, um eine gemeinsame Heimarbeit im Sinne des § 75 Abs. 5 Satz 1 AVAVG anzunehmen. Die Vorschrift des Satzes 2 a.a.O. könnte sonst dadurch umgangen werden, daß ein Familienangehöriger bereits einige Tage vor dem Ausscheiden eines anderen Familienangehörigen aus der Heimarbeit eine gleichartige Tätigkeit als Heimarbeiter aufnimmt. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, daß bereits am 20. August 1960 das Ausscheiden des Klägers aus der Heimarbeit feststand, wie er durch seinen Sohn in der mündlichen Verhandlung am 15. August 1962 erklärt hat. Eine gemeinsame Heimarbeit im Sinne des § 75 Abs. 5 Satz 1 a.a.O. setzt aber voraus, daß mehrere Personen nicht nur während eines unbedeutenden und von vornherein eng begrenzten Zeitraums zusammenarbeiten. Diese Bestimmung kann also im vorliegenden Falle nicht angewandt werden.
Der Kläger gilt daher gemäß § 75 Absatz 5 Satz 2 a.a.O. nicht als arbeitslos, so daß ihm kein Arbeitslosengeldanspruch zusteht.
Der erkennende Senat ist auch nicht der Überzeugung, daß § 75 Abs. 5 Satz 2 AVAVG gegen das Grundgesetz, und zwar insbesondere gegen die Artikel 3 Abs. 1 und 20 Abs. 1, verstößt. Der Gesetzgeber, der in § 195 AVAVG die Gleichstellung der Heimarbeiter angeordnet hat, war berechtigt, einen Mißbrauch des Arbeitslosengeldbezugs, der sich, wie oben ausgeführt, aus der besonderen Natur der Heimarbeit in einer gemeinsamen Arbeits- oder Wohnstätte ergeben kann, auszuschließen. Unter diesem Gesichtspunkt verstößt die genannte Bestimmung die eine Sonderregelung für einen bestimmten Personenkreis darstellt, grundsätzlich weder gegen den Gleichheitsgrundsatz noch gegen die sich aus Artikel 20 Abs. 1 des Grundgesetzes ergebende Verpflichtung des Gesetzgebers, besonders bei der Daseinsvorsorge soziale Gerechtigkeit walten zu lassen (vgl. zu § 75 Abs. 5 Satz 1 AVAVG die Entscheidung des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Oktober 1960, L-4/Ar-35/58 Dienstblatt d. Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Ausgabe C vom 9. März 1961 zu § 75 Nr. 657).
In Ausnahmefällen erscheint es allerdings zweifelhaft, ob die Regelung des § 75 Abs. 5 Satz 2 AVAVG insbesondere gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes verstößt.
In dem Kommentar zum AVAVG von Draeger-Buchwitz-Schönefelder wird die Ansicht vertreten, die Regelung des § 75 Abs. 5 Satz 2 AVAVG sei nicht anzuwenden, wenn der die Heimarbeit aufnehmende Familienangehörige Bezieher von Arbeitslosengeld ist und durch die Aufnahme der Heimarbeit seinen eigenen Anspruch auf Arbeitslosengeld verliert (vgl. Anm. 24 zu § 75 AVAVG). Diese Bestimmung bietet nach Auffassung des erkennenden Senats jedoch keine Möglichkeit in einem solchen Falle Arbeitslosigkeit zu bejahen, weil darin nicht zwischen Empfängern und Nichtempfängern von Arbeitslosengeld unterschieden wird. Ein Mißbrauch der Arbeitslosenversicherung ist auch hier möglich, und zwar insbesondere dann, wenn sich die Bezugsdauer bei der Aufnahme von Heimarbeit nur noch auf einen kurzen Zeitraum erstreckt. Auch in Fällen dieser Art scheidet also ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz aus.
Ein Missbrauch des Arbeitslosengeldbezugs ist nur dann auszuschließen, wenn ein Familienangehöriger die Heimarbeit aufgeben muß, weil sein Leistungsvermögen nicht mehr ausreicht, diese Arbeit zu verrichten, während er auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch vermittlungsfähig ist. Der in § 75 Abs. 5 Satz 2 a.a.O. zwingend vorgeschriebene Verlust des Arbeitslosengeldanspruchs ist hier nicht gerechtfertigt, weil ein echtes, nachprüfbares Ausscheiden aus dem Heimarbeiterverhältnis vorliegt. Nach Auffassung des erkennenden Senats wird jedoch durch diesen Ausnahmefall kein zweifelsfreier Verstoß des § 75 Abs. 5 Satz 2 a.a.O. gegen das Grundgesetz bewirkt, so daß die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts nicht erforderlich ist (vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 1, S. 189).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der 1895 geborene Kläger war vom 1. August 1948 bis 30. Juni 1956 und ab 1. November 1956 als Heimarbeiter (Hosenschneider) bei der Firma L., Sp., versicherungspflichtig beschäftigt. Zum 15. September 1960 wurde ihm wegen Erreichung der Altersgrenze gekündigt. Vom 3. bis 15. September 1960 erhielt er bezahlten Urlaub. Sein Sohn H., mit dem er gemeinsam ein Haus bewohnt, war in den Jahren 1946 bis 1959 mit ihm bei der Firma L. als Heimarbeiter (Hosenschneider) in gemeinsamer Arbeitsstätte beschäftigt und verrichtete seit dem 5. September 1960 für diese Firma wieder die gleiche Tätigkeit. In der Zwischenzeit war er als Fabrikarbeiter bei der Firma D. in W. beschäftigt.
Der Kläger meldete sich am 19. September 1960 arbeitslos und beantragte die Gewährung von Arbeitslosengeld. Das Arbeitsamt H. lehnte den Antrag mit Bescheid vom 28. Oktober 1960 ab. Der Kläger gelte nicht als Heimarbeiter weil sein Sohn H. in der gemeinsamen Arbeits- und Wohnstätte eine gleichartige Tätigkeit als Heimarbeiter aufgenommen habe (§ 75 Abs. 5 Satz 2 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung – AVAVG).
Nachdem dem hiergegen eingelegten Widerspruch des Klägers nicht abgeholfen worden war, erhob er bei dem Sozialgericht Frankfurt a.M. Klage. Dieses verurteilte die Beklagte mit Urteil vom 27. März 1962 dem Grunde nach, dem Kläger das Arbeitslosengeld zu gewähren. Die eng auszulegende Bestimmung des § 75 Abs. 5 Satz 2 AVAVG könne hier keine Anwendung finden, weil der Sohn H. des Klägers seine Heimarbeitertätigkeit bereits vor der Arbeitslosmeldung des Klägers aufgenommen habe.
Gegen das der Beklagten am 5. April 1962 zugestellte Urteil hat diese am 21. April 1962 Berufung eingelegt. Sie führt u.a. aus, die Bestimmung des § 75 Abs. 5 Satz 2 AVAVG sei auch auf die Fälle anzuwenden, in denen anstelle des seither tätigen Heimarbeiters ein Familienangehöriger in der gemeinsamen Arbeits- oder Wohnstätte eine gleichartige Tätigkeit antrete und die Arbeitslosmeldung erst nach dem tatsächlichen Ende des Beschäftigungsverhältnisses erfolge. Bei einer wörtlichen Auslegung käme diese Bestimmung praktisch kaum zur Anwendung, da in aller Regel bei einem Wechsel der Familienangehörigen in der Heimarbeitertätigkeit in nahtloser Folge die Arbeitslosmeldung erst zu einem Zeitpunkt abgegeben werde, in dem der andere Familienangehörige bereits die Arbeit aufgenommen habe.
Sie beantragt,
das Urteil des Sozialgerichtes Frankfurt a.M. vom 27. März 1962 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er führt aus, das Sozialgericht habe die Beklagte zutreffend zur Gewährung von Arbeitslosengeld verurteilt.
Von der Firma L., Sp., wurde noch eine schriftliche Auskunft eingeholt (Bl. 48 der Verfahrensakte), die ebenso wie der Inhalt der beigezogenen Leistungsakte des Arbeitsamts H. und der Verfahrensakte zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt sowie zulässig.
Sie ist auch begründet. Dem Kläger steht auf seinen Antrag vom 19. September 1960 kein Arbeitslosengeld zu, weil er nicht arbeitslos war und damit die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 AVAVG nicht erfüllte. Gemäß § 75 Abs. 5 Satz 2 AVAVG gilt nämlich nicht als arbeitslos ein Heimarbeiter, sobald einer seiner Familienangehörigen in der gemeinsamen Arbeits- oder Wohnstätte eine gleichartige Tätigkeit als Heimarbeiter aufnimmt.
Dies ist hier der Fall. Unstreitig wurde eine gleichartige Tätigkeit in gemeinsamer Wohn- und Arbeitsstätte verrichtet. Der Kläger arbeitete vor seiner Arbeitslosmeldung als Hosenschneider bei der Firma L., Sp ... Die gleiche Tätigkeit wird seither von dem Sohn H. des Klägers in der im Erdgeschoß des gemeinsam bewohnten Hauses gelegenen Werkstatt verrichtet. Dies ergibt sich aus der Auskunft der Firma L. vom 1. Juni 1962 und den Angaben des Sohnes des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 15. August 1962 (vgl. Bl. 48 und 54 der Verfahrensakte).
Das Sozialgericht ist zu Unrecht der Auffassung, § 75 Abs. 5 Satz 2 AVAVG könne hier nicht angewandt werden, weil sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergebe, daß ein Heimarbeiter nur dann nicht als arbeitslos gelte, wenn einer seiner Familienangehörigen eine gleichartige Tätigkeit in der gemeinsamen Arbeits- oder Wohnstätte erst nach der Arbeitslosmeldung oder gleichzeitig mit ihr aufnehme. Bereits nach dem Wortlaut dieser Bestimmung kommt es aber für die Verneinung der Arbeitslosigkeit eines Heimarbeiters nur darauf an, daß ein Familienangehöriger in der gemeinsamen Arbeits- oder Wohnstätte eine gleichartige Tätigkeit als Heimarbeiter aufnimmt, ohne daß der Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung dabei eine Rolle spielt.
Durch § 75 Abs. 5 AVAVG soll eine mißbräuchliche Ausnutzung der Arbeitslosenversicherung in der Heimarbeit nach Möglichkeit verhindert werden. Nachdem der Gesetzgeber die gesamte Heimarbeit nicht arbeitslosenversicherungsfrei gestellt hat, will er der Gefahr, die er darin erblickt, daß Heimarbeiter versuchen könnten, etwa eine ungenügende Entlohnung auf dem Wege über die Versicherungsleistung auszugleichen, entgegentreten. Wegen der Schwierigkeit, die Arbeitslosigkeit von Heimarbeitern bei gemeinsamen Arbeits- oder Wohnstätten mit anderen Heimarbeitern zuverlässig festzustellen, hat er in § 75 Abs. 5 AVAVG den wesentlichen Inhalt des Artikels 2 der Verordnung über die Arbeitslosenversicherung von Hausgewerbetreibenden und Heimarbeitern vom 18. Oktober 1930 (RABl I S. 227) übernommen. Gleichzeitig hat er diese Vorschrift durch den letzten Satz des § 75 Abs. 5 AVAVG erweitert, um einer mißbräuchlichen Ausnutzung der Unterstützung vorzubeugen, die durch Übernahme der bisher von dem arbeitslosen Heimarbeiter ausgeführten Tätigkeit durch einen Familienangehörigen möglich wäre (vgl. Bundestagsdrucksache 2. Wahlperiode, 1953, Nr. 1274 zu §§ 75 c, 87 a Abs. 5). Auch mit diesem gesetzgeberischen Zweck, einen Mißbrauch der Arbeitslosenversicherung zu verhindern, ist die vom Sozialgericht vorgenommene Auslegung des § 75 Abs. 5 Satz 2 AVAVG nicht vereinbar. Die Beklagte hat zutreffend darauf hingewiesen, daß diese Bestimmung bei einem Wechsel der Heimarbeitertätigkeit durch Familienangehörige ohne zeitlichen Zwischenraum sonst in der Regel nicht anwendbar wäre, weil die Arbeitslosmeldung meist erst in einem Zeitpunkt erfolgt, in dem der andere Familienangehörige die Arbeit bereits aufgenommen hat. Auf jeden Fall könnte mit einer Verzögerung der Arbeitslosmeldung schon um einen Tag die Anwendbarkeit des § 75 Abs. 5 Satz 2 a.a.O. ausgeschlossen werden. Die Wörter " sobald aufnimmt ” können nur so verstanden werden, daß eine allgemeine zeitliche Beziehung zwischen der Beendigung der Heimarbeit durch einen Familienangehörigen und der Aufnahme gleichartiger Heimarbeit durch einen anderen Angehörigen hergestellt werden soll. Im vorliegenden Fall besteht ein solcher zeitlicher Zusammenhang. Der Kläger schied am 15. September 1960 aus der Heimarbeit aus, während sein Sohn H. diese Arbeit kurz zuvor, nämlich am 5. September 1960, aufnahm.
§ 75 Abs. 5 Satz 2 a.a.O. könnte nur dann nicht angewandt werden, wenn der Kläger seinem Sohn in gemeinschaftlicher Arbeits- und Wohnstätte gearbeitet hätte und ihr Gesamtentgelt nach der Arbeitslosmeldung des Klägers mindestens um den Betrag gemindert wäre, der sich bei gleichmäßiger Verteilung des bisherigen Gesamtverdienstes auf beide Arbeitnehmer als Anteil des Klägers ergäbe (Satz 1 a.a.O.). Der Kläger hat erstmals in der mündlichen Verhandlung am 15. August 1962 durch seinen Sohn H. vorgetragen, daß dieser ihm während seiner Beschäftigung als Fabrikarbeiter bei der Firma D. nach Kräften bei der Heimarbeit und in der Zeit vom 28. August bis 2. September 1960 während eines von der Firma D. bezahlten Urlaubs bei der Anfertigung von 15 Hosen, die dann Anfang Oktober von der Firma L. mit seinem Sohn abgerechnet worden seien, geholfen habe. Damit haben der Kläger und sein Sohn aber nicht in Sinne des § 75 Abs. 5 Satz 1 AVAVG als Heimarbeiter miteinander gearbeitet. Zwar steht der Anwendung dieser Bestimmung nicht der Umstand entgegen, daß der Sohn H. als Fabrikarbeiter bereits in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stand. Denn neben einer solchen Beschäftigung ist die Verrichtung von Heimarbeit durchaus möglich. § 75 Abs. 5 Satz 1 AVAVG kann aber nicht angewandt werden, wenn es sich, wie im vorliegenden Fall, lediglich um eine familienhafte Mitarbeit ohne Begründung eines regelrechten Heimarbeiterverhältnisses im Sinne des Heimarbeitsgesetzes vom 14. März 1951 (BGBl I S. 191) handelt. Etwas anderes kann auch nicht gelten, wenn die Behauptung des Klägers als zutreffend unterstellt wird, daß ihm sein Sohn während eines von der Firma D. bezahlten Urlaubs in der Zeit vom 28. August bis 2. September 1960 geholfen habe, für die Firma L. 15 Hosen anzufertigen. Abgesehen davon, daß der Sohn H. des Klägers der Bescheinigung der Firma L. vom 6. Oktober 1960 (Bl. 14 Leistungsakte) zufolge erst seit dem 5. September 1960 für diese Arbeitgeberin tätig ist, würde ein so kurzer Zeitraum nicht ausreichen, um eine gemeinsame Heimarbeit im Sinne des § 75 Abs. 5 Satz 1 AVAVG anzunehmen. Die Vorschrift des Satzes 2 a.a.O. könnte sonst dadurch umgangen werden, daß ein Familienangehöriger bereits einige Tage vor dem Ausscheiden eines anderen Familienangehörigen aus der Heimarbeit eine gleichartige Tätigkeit als Heimarbeiter aufnimmt. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, daß bereits am 20. August 1960 das Ausscheiden des Klägers aus der Heimarbeit feststand, wie er durch seinen Sohn in der mündlichen Verhandlung am 15. August 1962 erklärt hat. Eine gemeinsame Heimarbeit im Sinne des § 75 Abs. 5 Satz 1 a.a.O. setzt aber voraus, daß mehrere Personen nicht nur während eines unbedeutenden und von vornherein eng begrenzten Zeitraums zusammenarbeiten. Diese Bestimmung kann also im vorliegenden Falle nicht angewandt werden.
Der Kläger gilt daher gemäß § 75 Absatz 5 Satz 2 a.a.O. nicht als arbeitslos, so daß ihm kein Arbeitslosengeldanspruch zusteht.
Der erkennende Senat ist auch nicht der Überzeugung, daß § 75 Abs. 5 Satz 2 AVAVG gegen das Grundgesetz, und zwar insbesondere gegen die Artikel 3 Abs. 1 und 20 Abs. 1, verstößt. Der Gesetzgeber, der in § 195 AVAVG die Gleichstellung der Heimarbeiter angeordnet hat, war berechtigt, einen Mißbrauch des Arbeitslosengeldbezugs, der sich, wie oben ausgeführt, aus der besonderen Natur der Heimarbeit in einer gemeinsamen Arbeits- oder Wohnstätte ergeben kann, auszuschließen. Unter diesem Gesichtspunkt verstößt die genannte Bestimmung die eine Sonderregelung für einen bestimmten Personenkreis darstellt, grundsätzlich weder gegen den Gleichheitsgrundsatz noch gegen die sich aus Artikel 20 Abs. 1 des Grundgesetzes ergebende Verpflichtung des Gesetzgebers, besonders bei der Daseinsvorsorge soziale Gerechtigkeit walten zu lassen (vgl. zu § 75 Abs. 5 Satz 1 AVAVG die Entscheidung des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Oktober 1960, L-4/Ar-35/58 Dienstblatt d. Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Ausgabe C vom 9. März 1961 zu § 75 Nr. 657).
In Ausnahmefällen erscheint es allerdings zweifelhaft, ob die Regelung des § 75 Abs. 5 Satz 2 AVAVG insbesondere gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes verstößt.
In dem Kommentar zum AVAVG von Draeger-Buchwitz-Schönefelder wird die Ansicht vertreten, die Regelung des § 75 Abs. 5 Satz 2 AVAVG sei nicht anzuwenden, wenn der die Heimarbeit aufnehmende Familienangehörige Bezieher von Arbeitslosengeld ist und durch die Aufnahme der Heimarbeit seinen eigenen Anspruch auf Arbeitslosengeld verliert (vgl. Anm. 24 zu § 75 AVAVG). Diese Bestimmung bietet nach Auffassung des erkennenden Senats jedoch keine Möglichkeit in einem solchen Falle Arbeitslosigkeit zu bejahen, weil darin nicht zwischen Empfängern und Nichtempfängern von Arbeitslosengeld unterschieden wird. Ein Mißbrauch der Arbeitslosenversicherung ist auch hier möglich, und zwar insbesondere dann, wenn sich die Bezugsdauer bei der Aufnahme von Heimarbeit nur noch auf einen kurzen Zeitraum erstreckt. Auch in Fällen dieser Art scheidet also ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz aus.
Ein Missbrauch des Arbeitslosengeldbezugs ist nur dann auszuschließen, wenn ein Familienangehöriger die Heimarbeit aufgeben muß, weil sein Leistungsvermögen nicht mehr ausreicht, diese Arbeit zu verrichten, während er auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch vermittlungsfähig ist. Der in § 75 Abs. 5 Satz 2 a.a.O. zwingend vorgeschriebene Verlust des Arbeitslosengeldanspruchs ist hier nicht gerechtfertigt, weil ein echtes, nachprüfbares Ausscheiden aus dem Heimarbeiterverhältnis vorliegt. Nach Auffassung des erkennenden Senats wird jedoch durch diesen Ausnahmefall kein zweifelsfreier Verstoß des § 75 Abs. 5 Satz 2 a.a.O. gegen das Grundgesetz bewirkt, so daß die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts nicht erforderlich ist (vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 1, S. 189).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
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