L 6 An 646/80

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 An 646/80
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Berufung ist zulässig, auch wenn die Entscheidung über die Zulassung der Berufung nicht in der verkündeten Urteilsformel, sondern nur in den Entscheidungsgründen des sozialgerichtlichen Urteils ausgesprochen ist.
Die im Urteil enthaltene Zulassungsentscheidung begründet für den durch das Urteil beschwerten Prozeßbeteiligten eine Rechtsposition, die des Vertrauensschutzes bedarf.
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 27. März 1980 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Abänderung ihres Bescheids vom 17. Juli 1979 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. November 1979 verurteilt, dem Kläger Altersruhegeld bereits ab 1. August 1978 zu gewähren.

II. Die Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen Aufwendungen beider Rechtszüge zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist der Beginn der Gewährung von Altersruhegeld nach § 25 Abs. 1 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) streitig.

Der 1915 geborene Kläger war bis zum 31. Juli 1978 als Beamter beschäftigt. Mit Schreiben vom 8. Februar 1975 fragte er bei der Beklagten an, wie hoch sein Altersruhegeld mit Vollendung, des 62. Lebensjahres, des 63. Lebensjahres und des 65. Lebensjahres sein würde, und ob er sich auch jetzt noch ab 1. Januar 1965 freiwillig nachversichern könne und welche Leistungen er für welche Ergebnisse zu erbringen habe. Unter dem 18. Februar 1975 teilte die Beklagte dem Kläger mit, daß sie zur Zeit die Konten der Versicherten des Geburtsjahrganges 1915 speichere. Danach erhalte jeder Versicherte einen Versicherungsverlauf. Der Kläger möge sich bis dahin gedulden. Zur Information übersende sie ein Sondermerkblatt. Es handelte sich um das Sondermerkblatt Oktober 1972 über die Versicherungspflicht auf Antrag, freiwillige Versicherung und Nachentrichtung von Beiträgen nach den Vorschriften des Rentenreformgesetzes.

Mit Schreiben vom 3. Mai 1975 an die Beklagte bat der Kläger um Beantwortung seiner Anfrage vom 8. Februar 1975. Unter dem 22. Januar 1976 übersandte die Beklagte dem Kläger den Versicherungsverlauf. In dem Schreiben wies sie darauf hin, daß für die Altersruhegelder wegen Vollendung des 60. oder 65. Lebensjahres (§ 25 Abs. 2, 3 und 5 AVG) die Wartezeit erfüllt sei. Für das Altersruhegeld wegen Vollendung des 62. bzw. 63. Lebensjahres (§ 25 Abs. 1 AVG) sei jedoch die Wartezeit mit den gegenwärtig bekannten und anzurechnenden Beitrags-, Ersatz- und Ausfallzeiten nicht erfüllt.

Am 21. Februar 1979 beantragte der Kläger die Gewährung von Altersruhegeld wegen Vollendung des 63. Lebensjahres. Gleichzeitig stellte er unter Hinweis auf sein Schreiben vom 8. Februar 1975 und auf das Schreiben der Beklagten vom 18. Februar 1975 den Antrag auf Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen nach Art. 2 § 49 a Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG).

Durch Bescheid vom 25. April 1979 gestattete die Beklagte unter Bezugnahme auf den Antrag des Klägers vom 11. Februar 1975 die Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen nach Art. 2 § 49 a Abs. 2 AnVNG für die Zeit vom 1. Juli 1972 bis 31. Dezember 1973 der Klasse 100. Am 14. Mai 1979 wurde der von dem Kläger überwiesene Nachentrichtungsbetrag in Höhe von insgesamt 324,– DM der Beklagten gutgeschrieben.

Mit Schreiben vom 15. Mai 1979 teilte die Beklagte dem Kläger mit, daß das Altersruhegeld wegen Vollendung des 63. Lebensjahres erst vom Ablauf des Monats an zu gewähren sei, in dem seine Voraussetzungen erfüllt seien, jedoch vom Beginn des Antragsmonats an, wenn der Antrag später als 3 Monate nach der Erfüllung der Voraussetzungen gestellt werde. Die Voraussetzungen seien am 31. Juli 1978 erfüllt, die Rente konnte daher unter Zugrundelegung der Antragstellung vom 21. Februar 1979 erst am 1. Februar 1979 beginnen. Würde der Kläger jedoch gemäß § 25 Abs. 6 AVG den Versicherungsfall auf den 30. November 1978 verschieben, so könnte das Altersruhegeld bereits am 1. Dezember 1978 beginnen. Der Kläger war der Meinung, das Altersruhegeld müsse bereits ab 1. August 1978 beginnen, bat aber um einen vorläufigen Rentenbescheid mit Beginn der Rente ab 1. Dezember 1978.

Durch Bescheid vom 17. Juli 1979 gewährt die Beklagte Altersruhegeld wegen Vollendung des 63. Lebensjahres ab 1. Dezember 1978. Mit dem hiergegen am 1. August 1979 eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, der Rentenbeginn sei auf den 1. August 1978 festzusetzen. Er sei durch Verschulden der Beklagten daran gehindert worden, die Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen zur Erfüllung der Wartezeit für das Altersruhegeld ab Vollendung des 63. Lebensjahres früher zu leisten und den Rentenantrag rechtzeitig bis zum 31. Juli 1978 zu stellen. Die Beklagte habe auf seinen Antrag vom 8. Februar 1975 erst durch Bescheid vom 25. April 1979 entschieden.

Durch Schreiben vom 30. August 1979 teilte die Beklagte dem Kläger mit, sie sehe keine Möglichkeit, abweichend von dem mit dem angefochtenen Bescheid festgesetzten Rentenbeginn das Altersruhegeld bereits ab 1. August 1978 zu zahlen. Der Rentenantrag sei unstreitig erst am 21. Februar 1979 gestellt worden. Zu diesem Zeitpunkt habe er gewußt, daß die Wartezeit für das Altersruhegeld nach § 25 Abs. 1 AVG nicht erfüllt gewesen sei. Denn er habe mit dem Rentenantrag gleichzeitig die Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen angeboten. Zwar treffe es zu, daß der Kläger sich bereits mit seinem Schreiben vom 8. Februar 1975 danach erkundigt habe, ob er jetzt noch (also 1975) freiwillige Beiträge für die Zeit ab 1. Januar 1965 entrichten könne. Daraufhin sei ihm mit Schreiben vom 18. Februar 1975 das entsprechende Sondermerkblatt übersandt worden, in dem die Voraussetzungen und Modalitäten einer Nachentrichtung von Beiträgen nach Art. 2 § 49 a AnVNG ausführlich erläutert seien. In dem späteren Schriftwechsel sei der Kläger auf die Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen nicht mehr zurückgekommen, obwohl ihm durch die Rentenauskunft vom 22. Januar 1976 bekannt gewesen sei, in welchem Umfange für ihn Versicherungs- und Ausfallzeiten zurückgelegt worden seien. Im Hinblick auf die angekündigte Begründung seines Widerspruchs habe sie von einer Weiterleitung an die Widerspruchsstelle zur Entscheidung vorerst abgesehen.

Mit am 19. September 1979 bei der Beklagten und beim Sozialgericht Wiesbaden eingegangenen Schreiben vom 15. September 1979 erhob der Kläger gegen den Bescheid vom 17. Juli 1979 Klage. Er trug vor, die Beklagte sei offenbar nicht bereit, ihr Versäumnis zuzugeben und die Widerspruchsstelle werde wohl keine andere Entscheidung treffen. Er verzichte daher auf eine Entscheidung durch diese Stelle und bitte darum, den gesamten Vorgang unverzüglich an das Sozialgericht Wiesbaden abzugeben. Er verweise auf § 85 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Beklagte wies durch Widerspruchsbescheid vom 23. November 1979 den Widerspruch gegen den Rentenbescheid vom 17. Juli 1979 zurück.

Mit seiner Klage machte der Kläger geltend, ihm sei unverständlich, warum die Beklagte nun doch den Widerspruchsbescheid erlassen habe. Er habe kein Vorverfahren, sondern eine unmittelbare Klagedurchführung gewünscht. Diese Wahlmöglichkeit sei nach der Rechtsmittelbelehrung im Rentenbescheid ausdrücklich gegeben. Die Beklagte habe mit ihrer Rentenauskunft vom 22. Januar 1976 nicht nur festzustellen gehabt, daß die Wartezeit von 35 Versicherungsjahren für das vorgezogene Altersruhegeld noch nicht erfüllt sei, sondern im Rahmen ihrer Betreuungspflicht mitteilen müsse, daß und wie er die fehlenden 18 Monate ausgleichen könne. Bei entsprechender Belehrung hätte er den geringen Nachentrichtungsbetrag in Höhe von 324,– DM sofort gezahlt. Das ihm von der Beklagten übersandte Sondermerkblatt habe er unmöglich als konkrete Antwort auf seine Anfrage vom 8. Februar 1975 betrachten können. Hätte die Beklagte seinen formlosen Antrag vom 8. Februar 1975 hinsichtlich der Nachentrichtung nicht erst am 25. April 1979, sondern spätestens mit der Rentenauskunft vom 22. Januar 1976 konkret beschieden, dann hätte dem Eintritt des Versicherungsfalles am 31. Juli 1978 und damit des Rentenbeginns ab 1. August 1978 nichts im Wege gestanden. Die verspätete Rentenantragstellung beruhe auf ein Verschulden der Beklagten.

Die Beklagte trug demgegenüber vor, die Klage sei verspätet erhoben worden. Mit seinem fristgerecht erhobenen Widerspruch gegen den Rentenbescheid vom 17. Juli 1979 habe der Kläger von seinem Wahlrecht gemäß § 78 Abs. 2 SGG zwischen Vorverfahren und unmittelbarer Klage Gebrauch gemacht. Dieses Wahlrecht sei mit der Einlegung des Widerspruchs verbraucht. Die Widerspruchsstelle habe daher ungeachtet des Schreibens des Klägers vom 19. September 1979 entscheiden können.

Der Kläger vertrat dagegen die Ansicht, von einer Fristversäumnis könne gar keine Rede sein, da er vor Erlaß des nicht begehrten Widerspruchsbescheids Klage erhoben habe. Vorsorglich beantrage er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Durch Urteil vom 27. März 1980 wies das Sozialgericht Wiesbaden die Klage mit der Begründung ab, es könne dahingestellt bleiben, ob der Kläger von seinem Wahlrecht der Gestalt Gebrauch gemacht habe, vorerst das Widerspruchsverfahren durchzuführen, was bedeuten würde, daß die Klage im Zeitpunkt ihrer Erhebung am 19. September 1979 unzulässig gewesen sei. Dieser prozessuale Mangel sei durch den Bescheid vom 23. November 1979 geheilt worden, denn dieser sei gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des anhängigen Verfahrens geworden. Diese Vorschrift sei aus Gründen der Prozeßökonomie weit auszulegen, wobei es nicht darauf ankomme, ob die Klage zulässig ist. Sachlich sei die Klage jedoch nicht begründet. Für die Beklagte habe keine Verpflichtung bestanden, den Kläger gezielt auf den Zeitpunkt der Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen hinzuweisen. Mit dem am 18. Februar 1975 übersandten Sondermerkblatt habe die Beklagte ihrer Auskunftspflicht genügt. In den Entscheidungsgründen ließ das Sozialgericht die Berufung gemäß § 150 Nr. 1 SGG zu.

Gegen dieses zum Zwecke der Zustellung an den Kläger am 19. Mai 1980 zur Post aufgelieferte Urteil richtet sich seine mit Schriftsatz vom 24. Mai 1980 – eingegangen beim Hessischen Landessozialgericht am 27. Mai 1980 – eingelegte Berufung.

Zur Begründung trägt der Kläger vor, da er aufgrund seiner Schreiben vom 8. Februar 1975 und vom 3. Mai 1975 keine konkrete Auskunft erhalten habe, sei er bei der Rentenauskunft vom 22. Januar 1976 davon ausgegangen, daß für ihn als Beamter keine Möglichkeit der freiwilligen Versicherung bestanden habe. Erst eine Beratung durch den Sachbearbeiter bei der Ortsverwaltung in W. habe diesen Irrtum beseitigt und schriftlich zur Rentenantragstellung am 21. Februar 1979 geführt.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgericht Wiesbaden vom 27. März 1980 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheids vom 17. Juli 1979 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. November 1979 zu verurteilen, ihm Altersruhegeld bereits ab 1. August 1978 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, sie habe ihrer Beratungspflicht genügt.

Mit der Rentenauskunft vom 22. Januar 1976 sei der Kläger darauf hingewiesen worden, daß er die Wartezeit für das vorzeitige Altersruhegeld nicht erfülle. Er habe somit seit 1976 genügend Möglichkeiten gehabt, die fehlenden 18 freiwilligen Beiträge nachzuentrichten. Habe er Zweifel gehabt, ob er als Beamter zur freiwilligen Versicherung berechtigt sei, so habe es ihm freigestanden, sich ratsuchend an sie zu wenden. Dies sei jedoch nicht geschehen.

Wegen weiterer Einzelheiten und des Vorbringens der Beteiligten im übrigen wird auf die Gerichts- und Rentenakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig; sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (vgl. §§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz –SGG).

Die Berufung ist nicht nach § 146 SGG ausgeschlossen. Sie ist nach § 150 Nr. 1 SGG kraft Zulassung statthaft. Der Senat sieht die Zulassung der Berufung in den Urteilsgründen als wirksam ausgesprochen an. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) genügte es, wenn die Entscheidung über die Zulassung der Berufung nicht in der verkündeten Urteilsformel, sondern nur in den Entscheidungsgründen ausgesprochen war (BSGE 2, 245, 246 ff.; 4, 206, 210; 8, 147, 149; 8, 154, 148; SozR Nrn. 10, 41, 51 zu § 150 SGG). Das BSG hat seine frühere Ansicht, daß die Mitteilung der Zulassung in den Entscheidungsgründen genüge, teilweise aufgegeben, will allerdings für eine Übergangszeit noch das Vertrauen in die frühere Rechtsprechung schützen (BSG in: Die Sozialgerichtsbarkeit 1977, 25, 205; Urteil vom 29. März 1977 – 9 RV 178/75–). Gleichwohl stützt der Senat seine Entscheidung im vorliegenden Fall nicht auf diese rechtlichen Erwägungen (vgl. auch PETERS-SAUTTER-WOLFF, § 150 SGG, Anm. 2; MEYER-LADEWIG, § 150 SGG, RNr. 7). Wenn – wie hier – bei einem aufgrund mündlicher Verhandlung verkündeten Urteil der Ausspruch, die Berufung werde zugelassen, nicht in einer üblichen Entscheidungsformel (§ 132 Abs. 2 Satz 1, § 136 Abs. 1 Nr. 4 SGG) kundgetan wird, ist diese in den Gründen enthaltene Verlautbarung sachgemäß. Der Ausspruch der Zulassung wird auch nicht dadurch beeinträchtigt, daß er in einem einzigen Satzgefüge mit der Begründung verbunden ist.

Es ist davon auszugehen, daß das Sozialgericht in voller Besetzung die Zulassung der Berufung beschlossen hat, wie in der Urteilsbegründung bekundet wird. Die – entsprechend dem Wortlaut des Gesetzes "im Urteil” enthaltene – Zulassungsentscheidung begründet für den urteilsbeschwerten Beteiligten eine Rechtsposition, die des Vertrauensschutzes bedarf. Dieser Vertrauensschutz, der sich auf den Inhalt des Urteils gründet – und der sich nicht zuletzt auch auf eine jahrelange höchstrichterliche Rechtsprechung stützen kann, die die Zulassung in den Entscheidungsgründen als ausreichend angesehen hat – ist gewichtiger als irgendwelche formellen Erwägungen. Es muß deswegen daran festgehalten werden, daß die Zulassung der Berufung auch dann wirksam ist, wenn sie lediglich in den Entscheidungsgründen ausgesprochen worden ist (vgl. auch BSG in SozR 1500 Nr. 16 zu § 161 RVO).

Die Berufung ist auch sachlich begründet. Das angefochtene Urteil konnte nicht aufrechterhalten werden, der Kläger hat einen Anspruch auf das flexible Altersruhegeld bereits ab 1. August 1978 (§§ 25 Abs. 1, 67 Abs. 1 Satz 2 AVG).

Die am 19. September 1979 beim Sozialgericht Wiesbaden eingegangene Klage gegen den Rentenbescheid vom 19. Juli 1979 ist unzulässig, da sie nicht innerhalb eines Monats nach Zulassung des Bescheids erhoben worden ist (vgl. § 87 Abs. 1 SGG). Dem Kläger war aber gemäß § 67 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Die Klage ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht deswegen unzulässig, weil der Kläger durch den zuvor eingelegten Widerspruch sein Wahlrecht zwischen Widerspruch und unmittelbarer Klage gemäß § 78 Abs. 2 SGG verbraucht hatte (vgl. PETERS-SAUTTER-WOLFF, § 78 SGG, Anm. 5 b). Allerdings ist § 78 Abs. 2 SGG zu entnehmen, daß ein Nebeneinander von Vorverfahren und Rechtsstreit verhindert werden soll. Für Fälle dieser Art ordnet das Gesetz die Priorität des Widerspruchs an. Es schließt ein Zusammentreffen der Rechtsbehelfe aber nicht schlechthin aus, läßt im besonderen die zeitliche Reihenfolge nicht maßgebend dafür sein, daß der ältere Rechtsbehelf den späteren ausschließe. Dem durch einen Verwaltungsakt Betroffenen wird der zusätzliche Weg zur höheren Verwaltungsbehörde angeboten, ohne daß mit Rücksicht hierauf der Rechtsweg beschränkt oder verzögert würde. Der Kläger konnte folglich unabhängig von seinem Widerspruch noch Klage erheben (vgl. BSG SozR 1500 § 78 SGG Nr. 8).

Die Klage ist aber wegen Versäumnis der Frist nach § 87 Abs. 1 Satz 1 SGG unzulässig. Das Sozialgericht hätte die am 19. September 1979 erhobene Klage als unzulässig abweisen oder aber über den Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand positiv entscheiden müssen. Der prozessuale Mangel der Unzulässigkeit der Klage gegen den Rentenbescheid vom 19. Juli 1979 ist auch nicht durch den Widerspruchsbescheid vom 23. November 1979 im Rahmen des § 96 Abs. 1 SGG geheilt worden, wie das Sozialgericht angenommen hat. Zwar wird ein Bescheid, der die Voraussetzungen des § 96 Abs. 1 SGG erfüllt, Gegenstand des Verfahrens, wenn überhaupt ein Klageverfahren eröffnet worden ist, mag die Klage auch gegen den ersten Bescheid unzulässig sein; über ihn ist sachlich zu entscheiden, weil der Mangel der Prozeßvoraussetzungen des über den ersten Verwaltungsakt schwebenden Verfahrens die Entscheidung über den zweiten Verwaltungsakt nicht hindert (vgl. BSG 24, 36, 37; PETERS-SAUTTER-WOLFF, § 96 SGG, Anm. 1 d; MEYER-LADEWIG, § 96 SGG RNr. 2). Die Klage gegen den Erstbescheid bleibt aber weiterhin unzulässig. Die Koppelung einer unzulässigen Klage mit einer Klage gegen einen Zweitbescheid über § 96 Abs. 1 SGG führt nicht zur Sachentscheidung der unzulässigen Klage (so Handbuch der Sozialversicherung, Bd. I/2, Seite 242 t, für den Fall der unzulässigen Berufung). Das Sozialgericht hätte also, falls der Widerspruchsbescheid vom 23. November 1979 überhaupt Gegenstand des Verfahrens nach § 96 Abs. 1 SGG geworden ist, nur über diesen Bescheid sachlich entscheiden dürfen, und die Klage gegen den ursprünglichen Bescheid wegen Unzulässigkeit abweisen müssen, oder aber die Klage insgesamt abweisen müssen, falls der Widerspruchsbescheid vom 23. November 1979 nicht nach § 96 Abs. 1 SGG im Wege einer gesetzlichen Klageerweiterung Gegenstand des Klageverfahrens geworden ist.

Der Senat konnte jedoch offen lassen, ob der Widerspruchsbescheid unter § 96 Abs. 1 SGG fällt, oder aber Gegenstand der Klage weiterhin nur der ursprüngliche Bescheid in der Gestalt gewesen ist, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat (vgl. § 95 SGG). Denn dem Kläger ist gemäß § 67 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Klagefrist zu gewähren. Er hat unmittelbar nach Erhalt des Schreibens der Beklagten vom 30. August 1979, nach dem eine Änderung des Rentenbescheids vonseiten der Beklagten nicht zu erwarten war, Klage erhoben und damit die versäumte Rechtshandlung rechtzeitig im Sinne von § 67 Abs. 2 SGG nachgeholt. Ein eventuell auf seiner Seite liegendes Verschulden für die Versäumnis der Klagefrist kann ihm nicht angerechnet werden, weil es auf einem nicht vermeidbaren Rechtsirrtum beruhte (vgl. hierzu PETERS-SAUTTER-WOLFF, § 67 SGG, Anm. 7 a). Mit Schreiben vom 30. August 1979 hatte die Beklagte dem Kläger mitgeteilt, daß sie im Hinblick auf die angekündigte Begründung des Widerspruchs von einer Weiterleitung an die Widerspruchsstelle zur Entscheidung vorerst abgesehen habe. Daraufhin bat der Kläger mit seiner gleichzeitig am 19. September 1979 erhobenen Klage unter Bezugnahme auf § 85 SGG den "gesamten Vorgang” an das Sozialgericht Wiesbaden abzugeben. Damit erteilte er offensichtlich seine schriftliche Zustimmung für ein Verfahren im Sinne des § 85 Abs. 4 SGG. Dies hat im übrigen auch die Beklagte angenommen, wie sich aus einer internen Verfügung vom 4. Oktober 1979 ergibt. Daß aber auch, bei Zuleitung des Widerspruchs an das zuständige Sozialgericht als Klage vorher eine Entscheidung der Widerspruchsstelle erforderlich ist, hatte der Kläger offenbar übersehen. Auf jeden Fall konnte er damit rechnen, daß die Beklagte aufgrund ihres Hinweises im Schreiben vom 30. August 1979, von einer Weiterleitung des Widerspruchs vorerst abzusehen, und aufgrund seines Schreibens vom 15. September 1979, wonach er unter Bezugnahme auf § 85 SGG auf eine Entscheidung durch die Widerspruchsstelle verzichtete, keine Entscheidung in Form eines Widerspruchsbescheids treffen würde, oder aber darauf hinweisen würde, trotz des "Verzichts” werde eine Entscheidung in Form eines Widerspruchsbescheids ergehen. Zwar hätte der Kläger gegen den Widerspruchsbescheid vom 23. November 1979 entsprechend der Rechtsmittelbelehrung binnen eines Monats nach der Zustellung nochmals Klage erheben können – eine vorsorgliche Klage gegen einen noch nicht erteilten Widerspruchsbescheid gibt es nicht (vgl. § 87 Abs. 2 SGG) –, jedoch ist ihm dieses Versäumnis nicht zuzurechnen, zumal er davon ausgegangen war, mit seiner am 19. September 1979 erhobenen Klage und des Hinweises auf § 85 SGG sei das Widerspruchsverfahren erledigt. Wäre die Beklagte im übrigen nach § 85 Abs. 4 SGG verfahren, hätte eine Versäumnis der Klagefrist nicht eintreten können.

Nach alledem wäre auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt die Versäumnis der Klagefrist nicht vermieden worden, so daß dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren war.

Schließlich hat der Kläger auch einen Anspruch auf das Altersruhegeld bereits ab 1. August 1978.

Nach § 67 Abs. 1 Satz 2 AVG ist das Altersruhegeld gemäß § 25 Abs. 1 AVG wegen Vollendung des 63. Lebensjahres vom Ablauf des Monats an zu gewähren, in dem seine Voraussetzungen erfüllt sind, jedoch vom Beginn des Antragsmonats an, wenn der Antrag später als 3 Monate nach Erfüllung der Voraussetzungen gestellt wird. Der Kläger, der im Juli 1978 sein 63. Lebensjahr vollendet hatte, hat den Antrag auf Gewährung des Altersruhegeldes gemäß § 25 Abs. 1 AVG unstreitig erst am 21. Februar 1979 gestellt, so daß die Zahlung des Altersruhegeldes frühestens ab 1. Februar 1979 hätte beginnen können, wenn, der Kläger den Versicherungsfall gemäß § 25 Abs. 6 AVG nicht auf den 30. November 1978 vorverlegt hätte.

Die Beklagte ist jedoch entgegen ihrer Auffassung unter dem Gesichtspunkt des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs verpflichtet, den Kläger so zu behandeln, als ob er bis zum 31. Juli 1978 den Antrag auf das flexible Altersruhegeld gestellt hätte mit der Folge, daß gemäß § 67 Abs. 1 Satz 2 AVG das Altersruhegeld ab 1. August 1978 zu gewähren ist. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch, der nicht auf Schadensersatz in Geld, sondern auf Herstellung des ohne die schädigende Handlung oder Unterlassung bestehenden Zustandes durch Vornahme einer "Amtshandlung” gerichtet ist, setzt eine Verletzung von sozialrechtlichen Pflichten durch den Versicherungsträger voraus (vgl. Urteile des BSG vom 18. Dezember 1975 – 12 RJ 88/75 –; vom 27. April 1978 – 11 RA 69/77 –; vom 12. Oktober 1979 – 12 RK 47/77 –; und insbesondere vom 21. Februar 1980 – 5 RKn 19/78 –), zu denen als spezielle Dienstleistung Auskunft und Belehrung sowie "verständnisvolle Förderung” gehören (vgl. Urteil des BSG vom 25. April 1978 – 5 RJ 18/77 –). Eine Verletzung dieser Pflicht, die auf dem mit der Antragstellung begründeten Verwaltungsrechtsverhältnis beruht, liegt immer dann vor, wenn der Versicherungsträger es versäumt, den Versicherten auf Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die klar zutage getreten, also für den Versicherungsträger erkennbar geworden sind und deren Wahrnehmung offensichtlich so zweckmäßig ist, daß jeder verständige Versicherte sie mutmaßlich nutzen wird (vgl. Urteil des BSG vom 12. September 1979 – 5 RJ 126/77 – und Urteil des erkennenden Senats vom 20. März 1980 – L-6/An-509/78 –).

Allerdings besteht keine Verpflichtung des Versicherungsträgers, den Versicherten von Amts wegen ohne konkreten Anlaß, also ohne vorausgegangenen Antrag oder eine gezielte Anfrage, zu beraten und zu belehren (vgl. Urteil des BSG vom 25. April 1978 – 5 RJ 18/77 –).

Im vorliegenden Fall war für die Beklagte ein konkreter Anlaß zur Belehrung und Betreuung des Klägers gegeben. Mit Schreiben vom 8. Februar 1975 hatte der Kläger konkret angefragt, ob und in welcher Höhe er freiwillige Beiträge ab 1. Januar 1965 nachentrichten könne und wie hoch sein Altersruhegeld dann ab Vollendung des 63. Lebensjahres sein würde. Das daraufhin mit Schreiben vom 18. Februar 1975 übersandte Sondermerkblatt über die freiwillige Versicherung und Nachentrichtung von Beiträgen nach den Vorschriften des Rentenreformgesetzes stellte zwar unter den Buchstaben "B” und "C” zunächst eine allgemeine und ausreichende Information des Klägers über die auch für ihn in Betracht kommende außerordentliche Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen dar, doch durfte die Beklagte es hierbei nicht bewenden lassen. Denn nach Erhalt des Sondermerkblattes, mit dem der Kläger offenbar nichts anzufangen wußte, bat er mit Schreiben vom 3. Mai 1975 nochmals um Beantwortung seiner Anfrage vom 8. Februar 1975. Durch Schreiben vom 22. Januar 1976 hat die Beklagte insofern reagiert, als sie dem Kläger den Versicherungsverlauf übersandte und gleichzeitig darauf hinwies, daß die Wartezeit für das Altersruhegeld wegen Vollendung des 62. bzw. 63. Lebensjahres mit den "gegenwärtig bekannten und anzurechnenden Beitrags-, Ersatz- und Ausfallzeiten” nicht erfüllt sei. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte sich die Beklagte an die Antragen des Klägers vom 8. Februar 1975 und vom 3. Mai 1975 erinnern bzw. bei Durchsicht der Akten erkennen müssen, daß er nach wie vor an einer Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen und an der Gewährung eines Altersruhegeldes ab Vollendung des 63. Lebensjahres interessiert ist. Eine dahingehende Durchsicht der Akten war der Beklagten auch zumutbar, da die Akten bis dahin nur einen geringen Umfang hatten.

Überdies hat die Beklagte das Schreiben vom 8. Februar 1975 als rechtzeitig gestellten Antrag auf Nachentrichtung freiwilliger Beiträge zur Angestelltenversicherung nach Art. 2 § 49 a Abs. 2 AnVNG angesehen (vgl. § 49 a Abs. 3 Satz 1 AnVNG) und durch Bescheid vom 25. April 1979 beschieden. Hätte die Beklagte aber über diesen Antrag des Klägers nicht erst nach Ablauf von 4 Jahren, sondern in angemessener Frist, spätestens aber bei der Feststellung des Versicherungsverlaufes entschieden, dann hätte der Kläger frühzeitig erfahren, daß er mit der Nachentrichtung von 18 Monatsbeiträgen die Wartezeit für das flexible Altersruhegeld erfüllt, und demgemäß vor Vollendung des 63. Lebensjahres einen entsprechenden Antrag auf Gewährung des Altersruhegeldes gestellt.

Nach alledem liegt eine Verletzung von sozialrechtlichen Pflichten durch die Beklagte vor. Die Verletzung dieser Pflichten führt dazu, daß der Kläger so zu stellen ist, als ob er bis zum 31. Juli 1978 den Antrag auf Gewährung des Altersruhegeldes gestellt hätte. Danach hat er einen Anspruch auf das Altersruhegeld ab 1. August 1978, also vier Monate früher als im angefochtenen Bescheid vom 17. Juli 1979 festgestellt. Diesen durch die Pflichtverletzung entstandenen Schaden hat die Beklagte über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch auszugleichen.

Auf die Berufung des Klägers waren daher das angefochtene Urteil aufzuheben und der Bescheid der Beklagten vom 17. Juli 1979 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. November 1979 abzuändern.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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