Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
6
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 12 Kg 19/83
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 Kg 298/85
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die zum Recht der gesetzlichen Rentenversicherung entwickelten Grundsätze zur „Verschlossenheit des Arbeitsmarktes” können auch im Rahmen der Prüfung ob ein Kind nach § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG außerstande ist, sind selbst zu unterhalten, entsprechend herangezogen werden.
2. Ergibt sich bei der Überprüfung des Arbeitsmarktes, daß Arbeitsplätze der für ein behindertes Kind infrage kommenden Art auf dem Arbeitsmarkt nicht in nennenswerter Anzahl vorhanden sind, bedingt dies den Anspruch auf Weitergewährung von Kindergeld für ein nicht mehr in der Ausbildung stehendes Kind auch dann, wenn dieses Kind das 16. Lebensjahr bereits vollendet hat.
2. Ergibt sich bei der Überprüfung des Arbeitsmarktes, daß Arbeitsplätze der für ein behindertes Kind infrage kommenden Art auf dem Arbeitsmarkt nicht in nennenswerter Anzahl vorhanden sind, bedingt dies den Anspruch auf Weitergewährung von Kindergeld für ein nicht mehr in der Ausbildung stehendes Kind auch dann, wenn dieses Kind das 16. Lebensjahr bereits vollendet hat.
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichtes Gießen vom 13. Februar 1985 aufgehoben. Unter Abänderung des Bescheids vom 22. November 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Juni 1983 wird die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab August 1982 Kindergeld unter Einbeziehung des Kindes A. zu gewähren.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger für seine Tochter A. Kindergeld auch über den Monat Juni 1982 hinaus zusteht.
Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er lebt seit 1971 in der Bundesrepublik Deutschland. Seine älteste Tochter A. ist am 7. Juli 1962 geboren; sie lebt im Haushalt des Klägers und ist im Besitz einer besonderen Arbeitserlaubnis. Bei A. besteht eine angeborene Schwerhörigkeit mit sekundärer Sprachstörung; sie ist wegen "Taubstummheit” vom Versorgungsamt Gießen mit einem Grad der Behinderung von 100 v.H. als Schwerbehinderte anerkannt. A. wird nach den Feststellungen des arbeitsamtsärztlichen Gutachtens von Dr. M. vom 1. Februar 1983 darüber hinaus als kleinwüchsig angesehen, bei beiderseits leichter Schielstellung der Augen und korrekturbedürftiger Weitsehminderung.
In der Zeit vom 20. Januar 1981 bis zum 16. Juni 1982 besuchte A. das Berufsvorbereitungsjahr der J.-V.-Schule – eine Schule für Gehörlose – in F ... Nach Auskunft der J.-V.-Schule vom 25. September 1984 wird A. als in der Lage angesehen, Arbeiten im Haushalt, Näharbeiten nach Einarbeitung, Putz- und Reinigungsarbeiten leichterer Art sowie Tätigkeiten als Montiererin nach Anleitung zu verrichten. Absehen vom Mund wird nach dieser Auskunft als technisch möglich, in der Praxis aber als verhältnismäßig bedeutungslos angesehen, weil A. die Begriffe der deutschen Lautsprache nur in sehr ungenügendem Maße zur Verfügung habe; eine Verständigung sei trotzdem unter Zuhilfenahme von natürlichen Gebärden, Mimik und Gestik möglich.
Am 24. August 1982 meldete sich A. als Arbeitssuchende arbeitslos. Eine Vermittlung in Arbeit für A., die nach wie vor als arbeitsuchend gemeldet ist, ist bisher nicht gelungen.
Mit Ablauf des Monats Juni 1982 stellte die Beklagte die Zahlung von Kindergeld für A. ein. Durch Schreiben vom 9. September 1982 beantragte der Kläger die Weitergewährung von Kindergeld für seine Tochter A ... Er reichte dazu unter dem 25. Oktober 1982 – unter Einbeziehung von A. – den von der Beklagten zur Verfügung gestellten "Fragebogen zur Prüfung des Anspruchs auf Kindergeld” ein.
Durch Bescheid vom 22. November 1986 lehnte die Beklagte die Weitergewährung von Kindergeld für A. mit der Begründung ab, das Kind A. stehe der Arbeitsvermittlung zur Verfügung und sei deshalb nicht wegen der Behinderung außerstande, sich selbst zu unterhalten. Für die Zeit ab August 1982 wurde demzufolge für die Kinder Y., S. und Y. das Kindergeld auf 370,– DM monatlich festgesetzt.
Der gegen diesen Bescheid eingelegte Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 10. Juni 1983 zurückgewiesen. Im Widerspruchsbescheid führte die Beklagte aus, die Tochter des Klägers sei noch vermittlungsfähig und damit in der Lage, ein Arbeitsentgelt von mehr als 660,– DM monatlich zu erzielen. A. komme noch für Näharbeiten, Tätigkeiten im Haushalt, Industriearbeiten sowie Putz- und Reinigungsarbeiten leichterer Art in Frage. Damit fehle es an dem kausalen Zusammenhang zwischen der Behinderung und der Unfähigkeit, den Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.
Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht durch Urteil vom 13. Februar 1985 zurückgewiesen. Das Sozialgericht hat die Auffassung vertreten, die Tochter des Klägers erfülle die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Ziff. 3 Bundeskindergeldgesetzes nicht. Eine anerkannte Schwerbehinderung von 100 v.H. habe nicht zwangsläufig zur Folge, daß der Behinderte außerstande sei, sich selbst zu unterhalten. Aufgrund der Teilnahme von A. an dem Berufsvorbereitungsjahr sei die Tochter des Klägers in die Lage versetzt worden, die von der Beklagten genannten Tätigkeiten sowie Arbeiten als Montiererin zu verrichten. Die Tochter des Klägers sei damit vermittlungsfähig. Dies aber schließe einen Kindergeldanspruch aus. Nicht wegen der Taubstummheit, sondern vor allem wegen der schlechten Arbeitsmarktlage sei die Tochter des Klägers nicht in der Lage, sich selbst zu unterhalten. Damit fehle es jedoch an dem erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen der Behinderung und der Unfähigkeit, den Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.
Gegen das am 28. Februar 1985 zugestellte Urteil richtet sich die am 14. März 1985 eingegangene Berufung. Der Kläger trägt vor, seiner Meinung nach sei seine Tochter nicht in der Lage, die in der Auskunft der J.-V.-Schule aufgezeigten Tätigkeiten auszuführen. A. sei vielmehr nicht vermittlungsfähig und damit auch nicht in der Lage, durch Arbeit ihr Existenzminimum zu sichern. Dies werde sich durch die Einholung eines fachmedizinischen Gutachtens bestätigen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 13. Februar 1985 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 22. November 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Juni 1983 zu verurteilen, ab August 1982 Kindergeld unter Einbeziehung des Kindes A. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält das sozialgerichtliche Urteil für zutreffend. Sie trägt vor, es sei in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit sicher nicht leicht, für A. einen behindertengerechten Arbeitsplatz zu vermitteln. Zusätzlich zu ihrer schweren Behinderung komme, daß sie bisher noch nicht beruflich tätig gewesen sei und noch keine Arbeitspraxis habe. Derartige Behinderte könnten nur auf Arbeitsplätzen in größeren Betrieben untergebracht werden, wenn entsprechender Bedarf an Hilfskräften bestehe und entsprechende Führungskräfte langjährige Erfahrung mit der Einweisung und Einarbeitung dieses Personenkreises hätten. Insoweit seien jedoch Arbeitsplätze in nennenswertem Umfang nicht vorhanden. Dennoch müsse dies außer Betracht bleiben, da entscheidungserheblich allein – der vorliegend nicht gegebene – ursächliche Zusammenhang zwischen Behinderung und der Unfähigkeit, den Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, sei.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird im übrigen auf den gesamten weiteren Inhalt der Gerichtsakte sowie die beigezogene Kindergeldakte der Beklagten (XXXXX) sowie die weiterhin beigezogene Behindertenakte des Versorgungsamtes Gießen über die Tochter des Klägers (XYXYXY) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –); Berufungsausschließungsgründe nach § 27 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) und §§ 144 ff. SGG liegen nicht vor.
Die Berufung des Klägers ist auch begründet. Dem Kläger steht über den Monat Juli 1982 hinaus Kindergeld unter Einbeziehung seiner Tochter A. zu.
Nach der – vorliegend allein als Anspruchsgrundlage in Betracht kommenden – Bestimmung des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG werden für die Gewährung von Kindergeld Kinder, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, nur berücksichtigt, wenn sie wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten. Dies trifft auf die Tochter A. des Klägers zu.
Zwar ist mit dem Sozialgericht davon auszugehen, daß eine anerkannte Schwerbehinderung von 100 v.H. nicht zwangsläufig zur Folge hat, daß der Behinderte sich nicht mehr selbst unterhalten kann. Der Umstand – auf den das Sozialgericht und die Beklagte abstellen – daß die Tochter A. des Klägers während des Berufsvorbereitungsjahres in die Lage versetzt worden ist, bestimmte Tätigkeiten auszuüben, steht dem Anspruch auf Kindergeld indes nicht entgegen.
Ziel des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG ist es, Kindergeld für diejenigen Kinder zu gewähren, die nicht selbst in der Lage sind, durch Arbeit das Existenzminimum zu verdienen. Der Begriff des Außerstandeseins, sich selbst zu unterhalten, ist demnach entsprechend dem Begriff der Erwerbsunfähigkeit im Sinne von § 1247 Abs. 2 Satz 1 RVO – der im Ergebnis dasselbe Ziel, bezogen auf den Versicherten, verfolgt – auszufüllen (BSG Urteil vom 14. August 1984 – 10 RKg 6/83 = SozR 5870 § 2 Nr. 35). Festzustellen ist deshalb, ob A. infolge ihrer Behinderung auf nicht absehbare Zeit nicht in der Lage ist, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben und dadurch nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit zu erzielen (BSG a.a.O.).
Von dieser Annahme geht der Senat aus.
Die insbesondere in der Taubstummheit von A. liegende Behinderung läßt zwar – wie sich aus dem im Vorverfahren eingeholten arbeitsamtsärztlichen Gutachten von Dr. H. vom 1. Februar 1983 ergibt, und dem der Senat insoweit folgt – die Ausführung leichter Arbeiten durch die Tochter des Klägers noch zu. Der Senat folgt auch der Meinung der Beklagten, die auf der Auskunft der J.-V.-Schule F. vom 25. September 1984 und wiederum dem arbeitsamtsärztlichen Gutachten vom 1. Februar 1983 beruht, daß A. insoweit trotz der bestehenden Behinderungen noch Tätigkeiten im Haushalt, sowie Näharbeiten nach Einarbeitung, Tätigkeiten als Montiererin nach Anleitung und Reinigungsarbeiten leichterer Art vollschichtig ausüben kann. Einer weiteren – insbesondere arbeitsmedizinischen – Begutachtung der Tochter des Klägers bedarf es insoweit nicht, zumal die von der J.-V.-Schule gegebene Auskunft in dieser Beziehung mit der Beurteilung des Arbeitsamtsarztes Dr. M. vollinhaltlich übereinstimmt.
Dies schließt eine Kindergeldgewährung jedoch nicht aus. Denn – ähnlich wie im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung (vgl. dort die Entscheidung des Großen Senats des Bundessozialgerichts vom 10. Dezember 1976 – SozR § 1246 Nr. 13) – ist auch im Kindergeldrecht bei Anwendung der Bestimmung des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG der Gedanke zugrunde zu legen, daß ein über 16 Jahre altes Kind im Sinne des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG nur dann nicht als außerstande angesehen werden kann, sich selbst zu unterhalten, wenn für die verbliebene Erwerbsfähigkeit in der Wirklichkeit der Arbeitswelt auch eine reale Chance ihrer Verwertbarkeit besteht, wenn also eine nicht nur theoretische Möglichkeit vorhanden ist, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erlangen. Solche Tätigkeiten scheiden deshalb aus, die es auf dem Arbeitsmarkt nicht oder praktisch nicht gibt, die also in nur so geringer Anzahl vorhanden sind, daß eine Verweigerung darauf unrealistisch ist. Diese Grundsätze gelten bei der Beurteilung von Erwerbs- und Berufsunfähigkeit nicht nur für eine Beschränkung auf Teilzeitarbeit. Das Erfordernis des Vorhandenseins einer jedenfalls nicht unbedeutenden Zahl von Arbeitsplätzen gilt insoweit grundsätzlich auch bei der Fähigkeit zur Vollzeittätigkeit (BSG Urteil vom 6. Oktober 1981 – 5 b RJ 36/81 m.w.N.). Auch soweit Vollzeittätigkeiten etwa in Tarifverträgen Eingang gefunden haben, kann die grundsätzlich bestehende Vermutung ihres Vorhandenseins im konkreten Fall widerlegbar sein.
Genau dies trifft vorliegend zu.
Die Beklagte selbst trägt insoweit vor, daß es ihr aufgrund der umfangreichen Einschränkungen, die bei der Tochter des Klägers vorliegen, bisher nicht gelungen sei, diese in eine Arbeitsstelle zu vermitteln. Erschwerend sei dabei, daß A. bisher noch nicht beruflich tätig gewesen sei und noch keine Arbeitspraxis habe. Derartige Behinderte könnten nur auf Arbeitsplätzen in größeren Betrieben untergebracht werden, wenn entsprechender Bedarf an Hilfskräften bestehe und entsprechende Führungskräfte langjährige Erfahrung mit der Einweisung und Einarbeitung dieses Personenkreises hätten. Arbeitsplätze dieser Art seien jedoch in nennenswertem Umfang nicht vorhanden.
Eine reale Chance der Verwertbarkeit der Arbeitskraft der Tochter des Klägers scheidet damit nach dieser Annahme der Beklagten, der sich der Senat anschließt – jedenfalls derzeit und während des zurückliegend streitbefangenen Zeitraums – aus.
Da der Kläger noch im August 1982 die Weitergewährung von Kindergeld beantragt hat und die übrigen Leistungsvoraussetzungen vorliegen, war – unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts und der ergangenen Bescheide – der Klage in vollem Umfang stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision hat der Senat nicht zugelassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger für seine Tochter A. Kindergeld auch über den Monat Juni 1982 hinaus zusteht.
Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er lebt seit 1971 in der Bundesrepublik Deutschland. Seine älteste Tochter A. ist am 7. Juli 1962 geboren; sie lebt im Haushalt des Klägers und ist im Besitz einer besonderen Arbeitserlaubnis. Bei A. besteht eine angeborene Schwerhörigkeit mit sekundärer Sprachstörung; sie ist wegen "Taubstummheit” vom Versorgungsamt Gießen mit einem Grad der Behinderung von 100 v.H. als Schwerbehinderte anerkannt. A. wird nach den Feststellungen des arbeitsamtsärztlichen Gutachtens von Dr. M. vom 1. Februar 1983 darüber hinaus als kleinwüchsig angesehen, bei beiderseits leichter Schielstellung der Augen und korrekturbedürftiger Weitsehminderung.
In der Zeit vom 20. Januar 1981 bis zum 16. Juni 1982 besuchte A. das Berufsvorbereitungsjahr der J.-V.-Schule – eine Schule für Gehörlose – in F ... Nach Auskunft der J.-V.-Schule vom 25. September 1984 wird A. als in der Lage angesehen, Arbeiten im Haushalt, Näharbeiten nach Einarbeitung, Putz- und Reinigungsarbeiten leichterer Art sowie Tätigkeiten als Montiererin nach Anleitung zu verrichten. Absehen vom Mund wird nach dieser Auskunft als technisch möglich, in der Praxis aber als verhältnismäßig bedeutungslos angesehen, weil A. die Begriffe der deutschen Lautsprache nur in sehr ungenügendem Maße zur Verfügung habe; eine Verständigung sei trotzdem unter Zuhilfenahme von natürlichen Gebärden, Mimik und Gestik möglich.
Am 24. August 1982 meldete sich A. als Arbeitssuchende arbeitslos. Eine Vermittlung in Arbeit für A., die nach wie vor als arbeitsuchend gemeldet ist, ist bisher nicht gelungen.
Mit Ablauf des Monats Juni 1982 stellte die Beklagte die Zahlung von Kindergeld für A. ein. Durch Schreiben vom 9. September 1982 beantragte der Kläger die Weitergewährung von Kindergeld für seine Tochter A ... Er reichte dazu unter dem 25. Oktober 1982 – unter Einbeziehung von A. – den von der Beklagten zur Verfügung gestellten "Fragebogen zur Prüfung des Anspruchs auf Kindergeld” ein.
Durch Bescheid vom 22. November 1986 lehnte die Beklagte die Weitergewährung von Kindergeld für A. mit der Begründung ab, das Kind A. stehe der Arbeitsvermittlung zur Verfügung und sei deshalb nicht wegen der Behinderung außerstande, sich selbst zu unterhalten. Für die Zeit ab August 1982 wurde demzufolge für die Kinder Y., S. und Y. das Kindergeld auf 370,– DM monatlich festgesetzt.
Der gegen diesen Bescheid eingelegte Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 10. Juni 1983 zurückgewiesen. Im Widerspruchsbescheid führte die Beklagte aus, die Tochter des Klägers sei noch vermittlungsfähig und damit in der Lage, ein Arbeitsentgelt von mehr als 660,– DM monatlich zu erzielen. A. komme noch für Näharbeiten, Tätigkeiten im Haushalt, Industriearbeiten sowie Putz- und Reinigungsarbeiten leichterer Art in Frage. Damit fehle es an dem kausalen Zusammenhang zwischen der Behinderung und der Unfähigkeit, den Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.
Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht durch Urteil vom 13. Februar 1985 zurückgewiesen. Das Sozialgericht hat die Auffassung vertreten, die Tochter des Klägers erfülle die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Ziff. 3 Bundeskindergeldgesetzes nicht. Eine anerkannte Schwerbehinderung von 100 v.H. habe nicht zwangsläufig zur Folge, daß der Behinderte außerstande sei, sich selbst zu unterhalten. Aufgrund der Teilnahme von A. an dem Berufsvorbereitungsjahr sei die Tochter des Klägers in die Lage versetzt worden, die von der Beklagten genannten Tätigkeiten sowie Arbeiten als Montiererin zu verrichten. Die Tochter des Klägers sei damit vermittlungsfähig. Dies aber schließe einen Kindergeldanspruch aus. Nicht wegen der Taubstummheit, sondern vor allem wegen der schlechten Arbeitsmarktlage sei die Tochter des Klägers nicht in der Lage, sich selbst zu unterhalten. Damit fehle es jedoch an dem erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen der Behinderung und der Unfähigkeit, den Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.
Gegen das am 28. Februar 1985 zugestellte Urteil richtet sich die am 14. März 1985 eingegangene Berufung. Der Kläger trägt vor, seiner Meinung nach sei seine Tochter nicht in der Lage, die in der Auskunft der J.-V.-Schule aufgezeigten Tätigkeiten auszuführen. A. sei vielmehr nicht vermittlungsfähig und damit auch nicht in der Lage, durch Arbeit ihr Existenzminimum zu sichern. Dies werde sich durch die Einholung eines fachmedizinischen Gutachtens bestätigen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 13. Februar 1985 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 22. November 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Juni 1983 zu verurteilen, ab August 1982 Kindergeld unter Einbeziehung des Kindes A. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält das sozialgerichtliche Urteil für zutreffend. Sie trägt vor, es sei in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit sicher nicht leicht, für A. einen behindertengerechten Arbeitsplatz zu vermitteln. Zusätzlich zu ihrer schweren Behinderung komme, daß sie bisher noch nicht beruflich tätig gewesen sei und noch keine Arbeitspraxis habe. Derartige Behinderte könnten nur auf Arbeitsplätzen in größeren Betrieben untergebracht werden, wenn entsprechender Bedarf an Hilfskräften bestehe und entsprechende Führungskräfte langjährige Erfahrung mit der Einweisung und Einarbeitung dieses Personenkreises hätten. Insoweit seien jedoch Arbeitsplätze in nennenswertem Umfang nicht vorhanden. Dennoch müsse dies außer Betracht bleiben, da entscheidungserheblich allein – der vorliegend nicht gegebene – ursächliche Zusammenhang zwischen Behinderung und der Unfähigkeit, den Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, sei.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird im übrigen auf den gesamten weiteren Inhalt der Gerichtsakte sowie die beigezogene Kindergeldakte der Beklagten (XXXXX) sowie die weiterhin beigezogene Behindertenakte des Versorgungsamtes Gießen über die Tochter des Klägers (XYXYXY) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –); Berufungsausschließungsgründe nach § 27 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) und §§ 144 ff. SGG liegen nicht vor.
Die Berufung des Klägers ist auch begründet. Dem Kläger steht über den Monat Juli 1982 hinaus Kindergeld unter Einbeziehung seiner Tochter A. zu.
Nach der – vorliegend allein als Anspruchsgrundlage in Betracht kommenden – Bestimmung des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG werden für die Gewährung von Kindergeld Kinder, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, nur berücksichtigt, wenn sie wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten. Dies trifft auf die Tochter A. des Klägers zu.
Zwar ist mit dem Sozialgericht davon auszugehen, daß eine anerkannte Schwerbehinderung von 100 v.H. nicht zwangsläufig zur Folge hat, daß der Behinderte sich nicht mehr selbst unterhalten kann. Der Umstand – auf den das Sozialgericht und die Beklagte abstellen – daß die Tochter A. des Klägers während des Berufsvorbereitungsjahres in die Lage versetzt worden ist, bestimmte Tätigkeiten auszuüben, steht dem Anspruch auf Kindergeld indes nicht entgegen.
Ziel des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG ist es, Kindergeld für diejenigen Kinder zu gewähren, die nicht selbst in der Lage sind, durch Arbeit das Existenzminimum zu verdienen. Der Begriff des Außerstandeseins, sich selbst zu unterhalten, ist demnach entsprechend dem Begriff der Erwerbsunfähigkeit im Sinne von § 1247 Abs. 2 Satz 1 RVO – der im Ergebnis dasselbe Ziel, bezogen auf den Versicherten, verfolgt – auszufüllen (BSG Urteil vom 14. August 1984 – 10 RKg 6/83 = SozR 5870 § 2 Nr. 35). Festzustellen ist deshalb, ob A. infolge ihrer Behinderung auf nicht absehbare Zeit nicht in der Lage ist, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben und dadurch nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit zu erzielen (BSG a.a.O.).
Von dieser Annahme geht der Senat aus.
Die insbesondere in der Taubstummheit von A. liegende Behinderung läßt zwar – wie sich aus dem im Vorverfahren eingeholten arbeitsamtsärztlichen Gutachten von Dr. H. vom 1. Februar 1983 ergibt, und dem der Senat insoweit folgt – die Ausführung leichter Arbeiten durch die Tochter des Klägers noch zu. Der Senat folgt auch der Meinung der Beklagten, die auf der Auskunft der J.-V.-Schule F. vom 25. September 1984 und wiederum dem arbeitsamtsärztlichen Gutachten vom 1. Februar 1983 beruht, daß A. insoweit trotz der bestehenden Behinderungen noch Tätigkeiten im Haushalt, sowie Näharbeiten nach Einarbeitung, Tätigkeiten als Montiererin nach Anleitung und Reinigungsarbeiten leichterer Art vollschichtig ausüben kann. Einer weiteren – insbesondere arbeitsmedizinischen – Begutachtung der Tochter des Klägers bedarf es insoweit nicht, zumal die von der J.-V.-Schule gegebene Auskunft in dieser Beziehung mit der Beurteilung des Arbeitsamtsarztes Dr. M. vollinhaltlich übereinstimmt.
Dies schließt eine Kindergeldgewährung jedoch nicht aus. Denn – ähnlich wie im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung (vgl. dort die Entscheidung des Großen Senats des Bundessozialgerichts vom 10. Dezember 1976 – SozR § 1246 Nr. 13) – ist auch im Kindergeldrecht bei Anwendung der Bestimmung des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG der Gedanke zugrunde zu legen, daß ein über 16 Jahre altes Kind im Sinne des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG nur dann nicht als außerstande angesehen werden kann, sich selbst zu unterhalten, wenn für die verbliebene Erwerbsfähigkeit in der Wirklichkeit der Arbeitswelt auch eine reale Chance ihrer Verwertbarkeit besteht, wenn also eine nicht nur theoretische Möglichkeit vorhanden ist, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erlangen. Solche Tätigkeiten scheiden deshalb aus, die es auf dem Arbeitsmarkt nicht oder praktisch nicht gibt, die also in nur so geringer Anzahl vorhanden sind, daß eine Verweigerung darauf unrealistisch ist. Diese Grundsätze gelten bei der Beurteilung von Erwerbs- und Berufsunfähigkeit nicht nur für eine Beschränkung auf Teilzeitarbeit. Das Erfordernis des Vorhandenseins einer jedenfalls nicht unbedeutenden Zahl von Arbeitsplätzen gilt insoweit grundsätzlich auch bei der Fähigkeit zur Vollzeittätigkeit (BSG Urteil vom 6. Oktober 1981 – 5 b RJ 36/81 m.w.N.). Auch soweit Vollzeittätigkeiten etwa in Tarifverträgen Eingang gefunden haben, kann die grundsätzlich bestehende Vermutung ihres Vorhandenseins im konkreten Fall widerlegbar sein.
Genau dies trifft vorliegend zu.
Die Beklagte selbst trägt insoweit vor, daß es ihr aufgrund der umfangreichen Einschränkungen, die bei der Tochter des Klägers vorliegen, bisher nicht gelungen sei, diese in eine Arbeitsstelle zu vermitteln. Erschwerend sei dabei, daß A. bisher noch nicht beruflich tätig gewesen sei und noch keine Arbeitspraxis habe. Derartige Behinderte könnten nur auf Arbeitsplätzen in größeren Betrieben untergebracht werden, wenn entsprechender Bedarf an Hilfskräften bestehe und entsprechende Führungskräfte langjährige Erfahrung mit der Einweisung und Einarbeitung dieses Personenkreises hätten. Arbeitsplätze dieser Art seien jedoch in nennenswertem Umfang nicht vorhanden.
Eine reale Chance der Verwertbarkeit der Arbeitskraft der Tochter des Klägers scheidet damit nach dieser Annahme der Beklagten, der sich der Senat anschließt – jedenfalls derzeit und während des zurückliegend streitbefangenen Zeitraums – aus.
Da der Kläger noch im August 1982 die Weitergewährung von Kindergeld beantragt hat und die übrigen Leistungsvoraussetzungen vorliegen, war – unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts und der ergangenen Bescheide – der Klage in vollem Umfang stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision hat der Senat nicht zugelassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
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