L 6 Ar 665/84

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 3c Ar 138/83
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 Ar 665/84
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Bei verfassungskonformer Auslegung des § 128 a.F. AFG unter Berücksichtigung des Urteils des BVerfG vom 23.01.1990 (1 BvL 44/861 BvL 48/87) liegt eine unzumutbare wirtschaftliche Belastung des Arbeitgebers, die zum Wegfall der Erstattungspflicht führt, jedenfalls dann vor, wenn es sich um einen sog. Kleinbetrieb handelt, eine ungünstige wirtschaftliche Entwicklung des Betriebes besteht, der Arbeitgeber während Kurzarbeit allen Arbeitnehmern kündigt und er nach Erhalt von Anschlußaufträgen dem älteren Arbeitnehmer zu Beginn der Arbeitslosigkeit die Wiedereinstellung anbietet.
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 1. März 1984 sowie die Bescheide der Beklagten vom 31. Mai 1983, vom 3. Juni 1983, vom 26. September 1983 und vom 1. November 1983 aufgehoben.

II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Es geht in dem Rechtsstreit um die Erstattung von Arbeitslosengeld nebst Versicherungsbeiträgen nach § 128 Arbeitsförderungsgesetz (AFG in der Fassung des AFKG vom 22.12.1981 m.W. v. 01.01.1982 = a.F. – BGBl. I S. 1497 –) für die Zeit vom 3. Januar bis 31. Mai 1983 in Höhe von DM 7.293,69.

Der Kläger betreibt einen Garten-, Landschafts- und Sportplatzbaubetrieb in B. H ... Er beschäftigte 1982 ca. 15 Arbeitnehmer, darunter den am 26. Mai 1920 geborenen E. S. seit 1955. Laut Arbeitsbescheinigung des Klägers vom 5. Januar 1983 kündigte er Herrn S. am 30. September 1982 zum 31. Dezember 1982 wegen Arbeitsmangels. Herr S. beantragte und erhielt Arbeitslosengeld von der Beklagten für die Zeit vom 3. Januar 1983 bis 31. Mai 1983. Mit Bescheid der Landesversicherungsanstalt Hessen vom 22. Juni 1983 wurde Herrn S. flexibles Altersruhegeld ab 1. Juni 1983 bewilligt.

Mit Schreiben vom 12. Januar 1983 teilte die Beklagte, dem Kläger den Text des § 128 AFG a.F. sowie weitere Einzelheiten hierzu mit und gab ihm Gelegenheit, sich zu den für die beabsichtigte Erstattungsforderung erheblichen Tatsachen zu äußern. Der Kläger teilte mit, daß er Herrn S. gebeten habe, weiter zu arbeiten, dieser das jedoch abgelehnt habe. Der Grund der Kündigung sei durch Wiederhereinnahme von Aufträgen gegenstandslos geworden. Die Erstattungsforderung stelle eine unzumutbare Härte dar.

Mit Bescheid vom 31. Mai 1983 stellte die Beklagte die grundsätzliche Verpflichtung des Klägers zur Erstattung des Arbeitslosengeldes sowie von Versicherungsbeiträgen seines früheren Arbeitnehmers S. ab 3. Januar 1983 fest und kündigte die erste Zwischenrechnung für das erste Quartal 1983 an. Mit Bescheid vom 3. Juni 1983 verlangte die Beklagte nunmehr vom Kläger die Zahlung eines Betrages von DM 4.444,62 für gezahltes Arbeitslosengeld und Versicherungsbeiträge für die Zeit vom 3. Januar bis 2. April 1983.

Hiergegen hat der Kläger am 10. Juni 1983 Widerspruch eingelegt und zur Begründung der Unzumutbarkeit der Erstattung die Bilanzen der Jahre 1981 und 1982 nebst einer Beurteilung der wirtschaftlichen Situation durch seinen Steuerberater vorgelegt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 26. September 1983 hat die Beklagte den Widerspruch zurückgewiesen und dies u.a. damit begründet, daß die Bilanzergebnisse nicht auswiesen, daß von einem im Gesetz konkret aufgeführten Entlastungstatbestand ausgegangen werden könne und auch nicht gutachtlich nachgewiesen sei, daß die Existenz des Betriebes durch die Erstattung gefährdet sei. Es sei ein Gewinn ausgewiesen, wenn auch 1982 mit deutlicher Abschwächung, nachhaltige Verluste lägen nicht vor.

Am 26. Oktober 1983 hat der Kläger Klage erhoben. Mit Bescheid vom 1. November 1983 hat die Beklagte für die Zeit vom 4. April bis 31. Mai 1983 eine weitere Erstattungsforderung in Höhe von DM 2.849,07 geltend gemacht.

Der Kläger hat die Klage, mit der er die Aufhebung der Bescheide begehrt, u.a. damit begründet, er habe nach Erhalt eines größeren Auftrages Herrn S. spätestens während der Betriebsruhe zwischen den Jahren angerufen und ihm mitgeteilt, daß er am 3. Januar 1983 die Arbeit wieder aufnehmen könne. Herr S. sei am 3. Januar 1983 auch im Büro erschienen, um seine Papiere zu holen. Die Arbeitsaufnahme habe er ohne Begründung abgelehnt. Es liege auch eine Existenzgefährdung vor. Für 1982 sei ein Gewinn von DM 31.172,– übrig geblieben, in dem auch der Unternehmerlohn enthalten sei. Notwendige Investitionen und Reparaturen könnten nicht mehr vorgenommen werden.

Die Beklagte hat vorgetragen, der ehemalige Arbeitnehmer S. sei bis zuletzt seiner Arbeitspflicht nachgekommen.

Die im Anschluß an den Kurzarbeitergeldbezug veranlaßte Betriebsprüfung enthalte den Prüfhinweis, daß der Betrieb am 1. November 1982 wieder zur Vollarbeit übergegangen sei. Ein erneutes Arbeitsangebot und die privaten Auseinandersetzungen seien nicht mehr Gegenstand des jetzigen Streitverfahrens.

Das Sozialgericht hat am 1. März 1984 den Kläger gehört und Beweis erhoben durch Vernehmung des Herrn E. S ... Mit Urteil vom 1. März 1984 (S-3c/Ar-138/83) hat das Sozialgericht Fulda die Klage abgewiesen und u.a. damit begründet, die Voraussetzungen für die Erstattungspflicht des Klägers nach § 128 AFG hätten vorgelegen, da Herr S. seit 27 Jahren bei dem Kläger beschäftigt gewesen sei, das 59. Lebensjahr überschritten und nicht selbst das Arbeitsverhältnis gekündigt habe. Es sei nicht nachgewiesen, daß Herrn S. vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein Angebot des Klägers zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zugegangen sei. Eine unzumutbare wirtschaftliche Belastung liege nicht vor. Der Kläger habe weder öffentliche Kredite oder Bürgschaften erhalten noch öffentliche Anpassungshilfen. Die Erstattungspflicht führe auch nicht zu einer Existenzgefährdung trotz des Rückganges von Umsatz und Gewinn.

Gegen das ihm am 6. April 1984 zugestellte Urteil hat der Kläger am 30. April 1984 sinngemäß Berufung eingelegt und damit begründet, die Kündigung des Herrn S. sei wie bei allen anderen zurückgenommen worden. Herr S. habe dies jedoch nicht anerkannt, wie er vor dem Sozialgericht auch ausgesagt habe. Er habe falsche Aussagen gemacht. Der Kläger hat die Geschäftsbilanzen der Jahre 1983 und 1984 vorgelegt. Er trägt ergänzend vor, daraus ergebe sich, daß das Jahr 1983 mit einem Verlust abschließe. Für das Jahr 1984 sehe die Bilanz noch schlechter aus, da er in ein Konkursverfahren verwickelt gewesen sei und dabei ca. DM 100.000,– eingebüßt habe.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 1. März 1984 sowie die Bescheide der Beklagten vom 31. Mai 1983, vom 3. Juni 1983, vom 26. September 1983 und vom 1. November 1983 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hat zusätzlich die den Betrieb des Klägers betreffenden Kurzarbeiter- und Schlechtwettergeldakten vorgelegt.

Das Hessische Landessozialgericht hat die Akten der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Fulda – 30 Js 3185/84 – betreffend das eingestellte Verfahren gegen Herrn E. S. wegen Verdachts der falschen uneidlichen Aussage am 1. März 1984 beigezogen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Ermittlungsakten XXXXXX, der Verwaltungsakten der Beklagten sowie der Gerichtsakten ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Berufungsausschließungsgründe nach §§ 144, 147 und 149 SGG liegen nicht vor.

Die Berufung ist auch begründet. Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 1. März 1984 sowie die Bescheide der Beklagten vom 31. Mai 1983, vom 3. Juni 1983, vom 26. September 1983 und vom 1. November 1983 sind rechtswidrig und waren deshalb aufzuheben.

Die Beklagte hat gegen den Kläger keinen Anspruch auf Erstattung des an Herrn S. für die Zeit vom 3. Januar bis 31. Mai 1983 gezahlten Arbeitslosengeldes nebst Versicherungsbeiträgen zur Krankenversicherung und Arbeiterrentenversicherung in Höhe von DM 7.293,69, § 128 Abs. 1 Satz 1 AFG a.F. (i.d.F. des Arbeitsförderungskonsolidierungsgesetzes = AFKG vom 22. Dezember 1981, BGBl. I S. 1497, gültig ab 1. Januar 1982). Danach erstattet der Arbeitgeber, bei dem der Arbeitslose innerhalb der Rahmenfrist mindestens 2 Jahre in einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung gestanden hat, der Beklagten vierteljährlich das Arbeitslosengeld für die Zeit nach Vollendung des 59. Lebensjahres des Arbeitslosen, längstens für 312 Tage.

Innerhalb der Rahmenfrist von 3 Jahren nach § 104 Abs. 1 und 3 AFG war Herr S. bei dem Kläger beitragspflichtig beschäftigt und war 61 bzw. 62 Jahre alt. Damit sind die Voraussetzungen des § 128 Abs. 1 und 2 AFG a.F. für die Erstattungspflicht erfüllt.

Zur Überzeugung des erkennenden Senats bedeutet die Erstattung für den Kläger jedoch eine unzumutbare wirtschaftliche Belastung i.S. § 128 Abs. 4 Satz 1 AFG a.F. Entsprechend dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 23. Januar 1990 (1 BvL 44/86 und 1 BvL 48/87) ist § 128 AFG (alte und neue Fassung) insoweit mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig, soweit Arbeitslosengeld auch dann in vollem Umfang zu erstatten ist, wenn der Arbeitnehmer die Voraussetzungen für eine andere Sozialleistung erfüllt, deren Zuerkennung einen Anspruch auf Arbeitslosengeld ganz oder teilweise ruhen oder entfallen ließe. Es ist im vorliegenden Fall nicht zu erkennen, daß der Arbeitnehmer S. in der streitbefangenen Zeit vom 3. Januar bis 31. Mai 1983 die Voraussetzungen für eine andere Sozialleistung erfüllt hätte, insbesondere ist nicht erkennbar, daß er einen Anspruch auf Krankengeld, Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente mit Erfolg hätte geltend machen können. Insoweit haben sowohl der Kläger als auch der Zeuge S. im Termin am 1. März 1984 keine Hinweise auf eine Leistungseinschränkung des Herrn S. gemacht. Auch in seinem Antrag auf Arbeitslosengeld vom 3. Januar 1983 bei der Beklagten hat der Arbeitnehmer S. keine Einschränkung hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit gemacht.

Soweit bei dem Vorliegen einer unzumutbaren wirtschaftlichen Belastung der Erstattungsanspruch in Wegfall kommt, § 128 Abs. 4 Satz 1 AFG a.F. ist diese Voraussetzung verfassungskonform auszulegen. Insbesondere darf nicht allein darauf abgestellt werden, daß die von der Beklagten geforderte Erstattung die Existenz des Betriebes gefährden muß, vielmehr genügt auch eine wirtschaftliche Belastung, die noch nicht den Grad der Existenzgefährdung erreicht hat und es sind auch andere Umstände als nur solche finanzieller Art zu berücksichtigen, die das Verlangen der Erstattung zu einer Härte werden lassen (z.B. Besonderheiten des Gewerbezweiges, des einzelnen Unternehmens, Wiedereinstellungszusagen – vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Januar 1990 s.o., Urteil des BSG vom 22. August 1984 – 7 RAr 112/83 – in SozR 4100 § 128 Nr. 3). Im Falle des Klägers führen mehrere Gründe dazu, daß bei grundgesetzkonformer Auslegung des § 128 Abs. 4 AFG a.F. die Beklagte die Erstattung des gezahlten Arbeitslosengeldes nicht verlangen kann.

Bei dem Garten-, Landschafts- und Sportplatzbaubetrieb des Klägers handelt es sich um einen sog. Kleinbetrieb, der 1982 nicht mehr als 15 Arbeitnehmer gehabt hat. Nach der Neufassung des § 128 AFG (n.F. in der Fassung des Gesetzes vom 13. April 1984 BGBl. I S. 610, in Kraft ab 1. Mai 1984) wurde die Erstattungsforderung bei Betrieben von nicht mehr als 20 Arbeitnehmern auf 1/4 verringert. Dies spricht ebenfalls dafür, die vollständige Erstattungsforderung nach altem Recht als unzumutbare Härte anzusehen. Die Verminderung der Erstattungsforderung in analoger Anwendung der Neufassung auf 1/4 war jedoch nicht erforderlich, da die Erstattungsforderung aus den folgenden Gründen in vollem Umfang aufzuheben war.

Die wirtschaftliche Entwicklung des Betriebes des Klägers, insbesondere die Gewinnentwicklung war seit 1979 negativ. Nach der Auskunft des Steuerberaters Sch. vom 12. September 1983 wurde 1979 noch ein Gewinn von DM 125.921,– erzielt, 1980 vom 79.490,–, 1981 von 63.369,– und 1982 nur noch von 31.372. Nach den Gewinn- und Verlustrechnungen 1983 und 1984 entstanden in diesen Jahren bereits Verluste von DM 10.471,66 bzw. von DM 77.848,– Der Wert des Anlagevermögens betrug am 1. Januar 1981 noch DM 287.543,36 und verringerte sich bis zum 31. Dezember 1983 um nahezu die Hälfte auf DM 149.334,36. Betrug etwa der Wert der Maschinen am 1. Januar 1981 noch ca. DM 169.000,–, so war dieser Wert bis 31. Dezember 1983 auf ca. DM 36.000,– und bis 31. Dezember 1984 auf DM 21.415,– zurückgegangen. Dem entspricht der Hinweis des Steuerberaters Sch. vom 12. September 1983, daß notwendige Investitionen hätten zurückgestellt werden müssen, um die Liquidität des Unternehmens nicht noch mehr zu gefährden.

Als weiteren Grund für die Unzumutbarkeit der Erstattungsforderung sieht es der erkennende Senat an, daß der Kläger während der erst am 31. Oktober 1982 beendeten Kurzarbeit ausweislich der Kug-Akten 2 Arbeitnehmern bereits zum 22.09.1982, 3 Arbeitnehmer zum 06.10.1982 sowie dem Kläger und den übrigen Arbeitnehmern wegen fehlender Anschlußaufträge zum Jahresende gekündigt hat und dem Kläger spätestens Anfang Januar die Weiterbeschäftigung angeboten hat, wie auch der Zeuge S. bestätigt hat, wobei sich die Aussagen des Klägers und des Zeugen nur hinsichtlich des Zeitpunktes des Angebotes unterscheiden, nicht jedoch, daß die Weiterarbeit überhaupt angeboten wurde. Daß der Zeuge S. die Arbeit nicht mehr aufnehmen wollte, lag nicht in der Einflußsphäre des Klägers. Zusammenfassend gehört der Kläger nach Auffassung des erkennenden Senats nicht zu denjenigen Arbeitgebern, die eine besondere Verantwortung für den Eintritt der Arbeitslosigkeit des älteren, langjährig beschäftigten Arbeitnehmers trifft und der durch die Zahlungspflicht nicht über Gebühr belastet wird (vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Januar 1990 s.o.). Die Kündigung war vielmehr eine Folge der sehr schlechten wirtschaftlichen Lage, was ebenfalls dazu beiträgt, daß die Erstattungsforderung der Beklagten eine unzumutbare Härte bedeutet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist vom Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen worden, § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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