L 6 AL 385/99

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 5 AL 53/98
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AL 385/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zusätzlich zu der besonderen Anwartschaft (3 Jahre Vollzeitbeschäftigung in den letzten 5 Jahren) ist erforderlich, dass der ältere Arbeitnehmer die Arbeitszeit einer Vollzeitbeschäftigung auf die Hälfte vermindert.
Eine geringfügige Unterschreitung der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit liegt jedenfalls dann nicht mehr vor, wenn sie sich im Bereich der Arbeitszeit eines halben Tages bzw. von 10 % bewegt.
Es kann dahingestellt bleiben, ob die von der Beklagten angewandte Grenze von 2 ½ Stunden rechtmäßig ist.
I. Auf die Berufung der Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 9. Februar 1999 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Es geht in dem Rechtsstreit um Ansprüche nach dem Altersteilzeitgesetz vom 23. Juli 1996 (ATG) ab 1. März 1997 und dabei um die Frage der vorhergehenden Vollzeittätigkeit der in Altersteilzeit beschäftigten Arbeitnehmerin (ältere Arbeitnehmerin = äAn), geboren am 13. August 1940. Am 17. März 1997 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Anerkennung der Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach § 4 ATG bei Wiederbesetzung mit einem Ausgebildeten. Die Klägerin gab an, dass der Wiederbesetzer (Wb), geboren am 14. März 1973, am 14. Januar 1997 seine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann beendet habe. Die Wiederbesetzung sei erfolgt am 15. Januar 1997 als Vollzeitkraft mit einer regelmäßigen betrieblichen wöchentlichen Arbeitszeit von 37,5 Stunden. Die äAn habe Anspruch auf Altersrente ab 1. September 2000, habe in den letzten 5 Jahren vor Beginn der Altersteilzeit in einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung gestanden (als Verkäuferin) bei einer vereinbarten wöchentlichen Arbeitszeit von 33,58 Stunden (seit 1. November 1995) und arbeite seit 1. März 1997 18,75 Stunden wöchentlich. Mit Bescheid vom 29. April 1997 lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, dass die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Nr. 2 ATG nicht erfüllt seien, da der Arbeitnehmer die Arbeitszeit nicht auf die Hälfte der tariflichen regelmäßigen Arbeitszeit reduziert habe. Hiergegen hat die Klägerin am 2. Juni 1997 Widerspruch eingelegt im wesentlichen mit der Begründung, bis zum 31. Oktober 1995 sei die äAn mit 163 Arbeitsstunden im Monat entsprechend der tariflichen Arbeitszeit und vom 1. November 1995 bis 28. Februar 1996 in Teilzeit (146 Stunden) beschäftigt gewesen. Es werde nicht verlangt, dass der in Altersteilzeit gehende Arbeitnehmer noch unmittelbar vor der Altersteilzeit vollbeschäftigt gewesen sein müsse. Mit Widerspruchsbescheid vom 3. Dezember 1997 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück mit der Begründung, dass die Beschäftigung unmittelbar vor der Altersteilzeit immer eine auf Dauer angelegte Vollzeitbeschäftigung gewesen sein müsse.

Die äAn habe jedoch unmittelbar vor der Altersteilzeit wöchentlich nur 33,58 Stunden gearbeitet und damit nicht in Vollzeit mit 37,5 Stunden.

Gegen den am 8. Dezember 1997 zur Post gegebenen Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am Montag, dem 12. Januar 1998 Klage erhoben.

Mit Urteil vom 9. Februar 1999 hat das Sozialgericht Gießen der Klage mit der Begründung stattgegeben, die Unterschreitung der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 37,5 Stunden um 3,92 Stunden stelle eine geringfügige Unterschreitung i.S. § 2 Abs. 1 Nr. 3 ATG dar und sei deshalb unbeachtlich. Als unbeachtlich werde jede Unterschreitung bis zu 15 % der regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit angesehen. Eine feste "Geringfügigkeitsgrenze” von 2 ½ Stunden werde dem Umstand nicht gerecht, dass sich nach den gängigen Tarifverträgen die tariflichen Arbeitszeiten zwischen 35 und 40 Stunden bewegten. Gegen das ihr am 26. Februar 1999 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 25. März 1999 Berufung eingelegt. Die Beklagte trägt vor, das ATG sehe die Einbeziehung von Teilzeitbeschäftigten nicht vor. Eine vom Gesetzgeber akzeptierte geringfügige Unterschreitung der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit werde von der Beklagten bis zu 2 ½ Stunden gesehen. Die vom Sozialgericht vorgeschlagene prozentuale Betrachtung sei nicht praktikabel und der Unterschied bei einer Abweichung von 2 ½ Stunden (ausgehend von 40 bzw. 35 Wochenstunden) nur marginal, nämlich 6,25 % zu 7,1 %.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichtes Gießen vom 9. Februar 1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Die Klägerin hat sich schriftlich nicht geäußert.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung, § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG), ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des Sozialgerichtes Gießen vom 9. Februar 1999 ist rechtsfehlerhaft und war deshalb aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 29. April 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 1997 ist zu Recht ergangen.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Leistungen nach § 4 ATG. Denn die äAn gehört nicht zu dem begünstigten Personenkreis nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 ATG. Die äAn hatte zwar bei Antragstellung das 55. Lebensjahr vollendet und nach dem 14. Februar 1996 auf Grund einer Vereinbarung mit der Klägerin ihre Arbeitszeit auf die Hälfte der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitzeit (von 37,5 Stunden) vermindert (auf 18,75 Stunden), war weiterhin versicherungspflichtig beschäftigt und stand auch innerhalb der letzten 5 Jahre vor Beginn der Altersteilzeit (1. März 1997) mindestens 1.080 Kalendertage in einer Versicherungspflichtigen Beschäftigung, jedoch entsprach die vereinbarte Arbeitszeit vor Beginn der Altersteilzeit (33,58 Stunden) nicht der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 37,5 Stunden. Nach der gesetzlichen Vorgeschichte des Altersteilzeitgesetzes vom 20. Dezember 1988 (= AltTZG = BGBl. S. 2343) und den Gesetzesmaterialien wurde als Voraussetzung angesehen, dass der äAn eine Vollzeitstelle (wenigstens) zuletzt innehatte (vgl. Entscheidung des BSG vom 23. Juli 1992 – 7 RAr 74/91 = SozR 3–4170 § 2 Nr. 1). In § 2 Abs. 1 Nr. 3 AltTZG war geregelt, dass der äAn die tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit erbracht haben musste. Das BSG hat in dem Urteil vom 23. Juli 1992 (s.o.) dazu ausgeführt, dass es sich um eine besondere Anwartschaftszeit des in die Altersteilzeit tretenden Arbeitnehmers handele. Es solle nicht gefördert werden, wenn der in Teilzeitarbeit übergehende Arbeitnehmer nur kurzfristig eine Vollzeittätigkeit ausgeübt habe. Es ließ jedoch unentschieden, ob die Auffassung der Beklagten zutreffe, dass der zur Altersteilzeitarbeit übergehende Arbeitnehmer unmittelbar zuvor wenigstens sechs Monate vollbeschäftigt gewesen sein müsse. Nach damaliger und heutiger Rechtslage war und ist Voraussetzung eine dreijährige Vollzeittätigkeit (bzw. gleichgestellte Zeit) innerhalb einer 5-jährigen Rahmenfrist vor Beginn der Altersteilzeit. Im vorliegenden Fall reicht die Rahmenfrist vom 1. März 1992 bis zum 28. Februar 1997. In dieser Rahmenfrist hat die äAn vom 1. März 1992 bis zum 31. Oktober 1995 eine Vollzeittätigkeit ausgeübt und damit die besondere Anwartschaft erfüllt. Die äAn hat jedoch ihre bisherige Arbeitszeit nicht in dem erforderlichen Umfang vermindert. Nach Auffassung des erkennenden Senats muss zu der besonderen Anwartschaft der dreijährigen Vollzeittätigkeit hinzukommen, dass zuletzt vor dem Übergang in die Altersteilzeit eine Vollzeitbeschäftigung ausgeübt wurde. Dies ergibt sich aus dem Zusammenhang zwischen der Regelung des § 2 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 ATG. Denn eine Verminderung der Arbeitszeit auf die tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit setzt notwenig eine vorausgehende längere Arbeitszeit voraus. Als mögliche Dauer der vorhergehenden Arbeitszeit kommt nur die tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit in Betracht. Dies entspricht dem Willen des Gesetzgebers, wie er in der Gegenäußerung der Bundesregierung (BT-Drucksache 13/4719 zu Nr. 6) gegenüber weitergehenden Forderungen des Bundesrates in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf (BT-Drucksache 13/4719 6.) zum Ausdruck gekommen ist. Danach könne eine Arbeitszeitverminderung in diesem Umfang von Arbeitnehmern, deren bisherige Arbeitszeit deutlich unterhalb der Vollzeitarbeit gelegen habe, nicht erbracht werden. Es sei gerechtfertigt, die Förderung grundsätzlich auf Arbeitnehmer zu konzentrieren, die von einer Vollzeit- in eine hälftige Teilzeitbeschäftigung überwechseln. Dem entspricht das Ergebnisprotokoll des Präsidenten der Beklagten über die gemeinsame Besprechung mit den Landesarbeitsämtern am 24. Oktober 1996, Top 2, 2.5.

Soweit das BSG im Urteil vom 23. Juli 1993 (s.o.) es dahingestellt sein ließ, ob der zur Altersteilzeit übergehende Arbeitnehmer unmittelbar zuvor wenigstens 6 Monate vollzeitbeschäftigt gewesen sein müsse, führt das im vorliegenden Fall zu keinem abweichenden Ergebnis, da die äAn hier bereits 16 Monate lang (1. November 1995 bis 28. Februar 1997) vor dem Übergang in die Altersteilzeit keine Vollzeittätigkeit mehr ausgeübt hat. Eine solche Zeitdauer fällt jedenfalls nicht mehr in den Bereich der diskutierten Nahtlosigkeit oder einer evtl. Ausnahme hiervon.

Bei der im vorliegenden Fall gegebenen Verkürzung der Arbeitszeit der äAn von 37,5 auf 33,58 Stunden, also um 3,92 Stunden, handelt es sich auch nicht um eine nur geringfügige Unterschreitung der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit i.S. § 2 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 ATG. Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob die von der Beklagten als akzeptable Unterschreitung vorgegebene feste Stundenzahl bis 2 ½ Stunden wöchentlich mit der gesetzlichen Regelung in Einklang steht. Nach Auffassung des erkennenden Senats kann von einer geringfügigen Unterschreitung jedenfalls dann nicht mehr ausgegangen werden, wenn sie sich im Bereich der Arbeitszeit eines halben Tages (pro Woche) bzw. von 10 % der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit (bei 5 Arbeitstagen pro Woche, entsprechend 10 halben Arbeitstagen pro Woche) bewegt. Eine Ausdehnung bis auf 15 %, wie es das Sozialgericht für angemessen hält, würde der als Ausnahmeregelung während des Gesetzgebungsverfahrens erst eingefügten Vorschrift sowie dem Begriff der Geringfügigkeit nicht gerecht. Im Gesetzesentwurf der Bundesregierung (BT-Drucksache 13/4336, § 2 Abs. 1 Nr. 3) war die Unschädlichkeit der geringfügigen Unterschreitung der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit noch nicht enthalten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist vom Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen worden, § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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