L 7 B 1/70

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
7
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 B 1/70
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt (Main) vom 7. Juli 1970 wird zurückgewiesen.

Gründe:

Der Beschwerdeführer (BF) ist als Facharzt für innere Krankheiten auch zur kassenärztlichen Versorgung Anspruchsberechtigter von RVO-Kassen zugelassen. Wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise kürzte der Prüfungsausschuß der Beschwerdegegnerin (BG) bei der Bezirksstelle Wiesbaden, dessen Honorarabrechnungen für das 3. Quartal 1968 um 1.607,50 DM, insbesondere infolge überhöhten Ansatzes intravenöser Injektionen und Elektrokardiogramme (Bescheid vom 20. Januar 1969), sowie für das 4. Quartal 1968 um 3.176,50 DM vor allem infolge zu aufwendiger Sonder- und Laborleistungen (Bescheid vom 5. Mai 1969). Den Widersprüchen des BF half die Widerspruchsstelle des Prüfungsausschusses am 14. Juli 1969 nicht ab und gab die Vorgänge an den Beschwerdeausschuß der BG weiter. Dieser faßte in seiner Sitzung vom 10. September 1969 in Anwesenheit des BF den Beschluss, den Widerspruch gegen die streitigen Bescheide als unbegründet zurückzuweisen. Der am 25. November 1969 ausgefertigte Beschluss wurde ausweislich der Postzustellungsurkunde am 26. November 1969 der ärztlichen Helferin des BF, L. H., übergeben, da der Postzusteller nach seinem Vermerk den Empfänger in der Praxis nicht antraf.

Gleichzeitig mit der am 18. Februar 1970 beim Sozialgericht Frankfurt (Main) eingegangenen Klage hat der BF wegen Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Zur Begründung hat er ausgeführt, er habe von dem Beschluss vom 25. November 1969, den die erst seit 1. Oktober 1969 in seiner Praxis tätigen Assistentin ohne Mitteilung an ihn in dem Aktenhefter über Kürzungsangelegenheiten abgelegt habe, zufällig am 28. Januar 1970 Kenntnis erlangt. Da in einem vorangegangenen Fall zwischen Verhandlung vor dem Beschwerdeausschuß und Übersendung des schriftlichen Beschlusses ein viel längerer Zeitraum gelegen habe, habe er hier mit einer Zustellung im November 1969 nicht gerechnet. Seine Helferin besitze keine Postvollmacht, so daß diese Zustellung nicht an sie hätte erfolgen dürfen. Ein Fall der Ersatzzustellung nach § 183 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) liege nicht vor, da dort nur Gewerbetreibende angesprochen würden. Selbst wenn diese Vorschrift aber auch auf Ärzte angewandt werden dürfe, wäre eine wirksame Zustellung immer noch nicht erfolgt, weil er in deren Zeitpunkt, anwesend gewesen sei und angetroffen hätte werden können.

Die BG hat in der Tatsache, daß die Arzthelferin erst cirka acht Wochen bei dem BF tätig war, keinen ausreichenden Wiedereinsetzungsgrund gesehen. Ihn treffe schon deshalb ein Verschulden, weil er trotz Anwesenheit die ordnungsgemäße Postabwicklung am 26. November 1969 nicht selbst überwacht habe.

Nachdem der BF Fragen des Sozialgerichts bezüglich der bei ihm üblichen Postabwicklung innerhalb der gesetzten Frist unbeantwortet gelassen hatte, hat dieses durch den Kammervorsitzenden am 7. Juli 1970 beschlossen, den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abzulehnen. In den Gründen hat es ausgeführt, der BF sei nicht ohne Verschulden gehindert gewesen, während der durch die Zustellung am 26. November 1969 in Lauf gesetzten Klagefrist von dem Beschluss des Beschwerdeausschusses Kenntnis zu erhalten und Klage zu erheben. Insoweit müsse er sich das Verschulden seiner Arzthelferin anrechnen lassen. Er habe auch keine Erklärung dafür abgegeben, welche Maßnahmen er in bezug auf die Vorlage eingehender Post getroffen habe.

Gegen diesen am 22. Juli 1970 zugestellten Beschluss richtet sich die am 19. August 1970 beim Sozialgericht Frankfurt (Main) eingegangene Beschwerde, welcher dieses nicht abgeholfen hat.

Zur Begründung bestreitet der BF, sich ein Verschulden der Arzthelferin anrechnen lassen zu müssen, weil nur seine Ehefrau und Tochter Postvollmacht besäßen. Sämtliche Post werde täglich von diesen oder von ihm aus dem Postfach geholt und unter gelegentlichen Kontrollen durch ihn in der Weise aufgeteilt, daß die erste Assistentin unterschriftsbedürftige Praxispost und andere wichtige Dokumente vorlege, Arztberichte aus Kliniken und Patienten betreffende Unterlagen würden weisungsgemäß ohne Vorlage sofort in die Karteien geordnet. Ein Posteingangsbuch existiere nicht. Warum die Helferin den Brief mit dem inliegenden Beschluss des Beschwerdeausschusses geöffnet und ihn ohne Vorlage abgeheftet habe, sei ihm nicht bekannt.

Auf Veranlassung des Senats hat die Arzthelferin L. H. am 1. Oktober 1970 versichert, keine Postvollmacht besessen, den bewußten Brief am 26. November 1969 in Empfang genommen und abgeheftet zu haben, ohne ihn dem BF zur Kenntnis zu bringen.

Der BF beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt (Main) vom 7. Juli 1970 aufzuheben und ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Die BG beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Arzthelferin L. H. als Zeugin. Wegen deren Bekundungen im einzelnen wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 8. März 1972 verwiesen.

Zum Ergebnis der Beweisaufnahme hat der BF ausgeführt, es sei nicht erwiesen, daß die Zeugin die Postsache mit dem inliegenden Beschluss tatsächlich entgegengenommen habe.

Die Verwaltungsakten der BG haben vorgelegen. Auf ihren Inhalt und den der Gerichtsakten wird zur weiteren Ergänzung des Tatbestandes Bezug genommen.

Die gemäß § 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) frist- und formgerecht eingelegte Beschwerde ist nach § 172 Abs. 1 in Verbindung mit 174 SGG auch im Übrigen zulässig. Die Frist des § 67 Abs. 2 SGG ist ebenfalls als gewahrt anzusehen, da der BF dargetan hat, erst am 28. Januar 1970 von der Zustellung des Beschlusses vom 25. November 1969 Kenntnis erlangt zu haben und am 18. Februar 1970 bei dem Sozialgericht Frankfurt (Main) die versäumte Rechtshandlung in Form der Klageerhebung dagegen nachgeholt hat. In der Sache konnte die Beschwerde aber keinen Erfolg haben.

Rechtsgrundlage ist § 67 Abs. 1 SGG, wonach auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten.

Hierzu war vorab festzustellen, daß die Auffassung des BF, der Beschluss des Beschwerdeausschusses sei nicht ordnungsgemäß zugestellt worden, unrichtig ist. Denn gemäß § 63 Abs. 2 SGG wird nach §§ 2 bis 15 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) vom 3. Juli 1952 zugestellt. Da die BG die Zustellung durch die Post mit Zustellungsurkunde gewählt hat, wozu sie nach § 23 ihres autonomen Satzungsrechts verpflichtet war, gelten nach § 3 Abs. 3 VwZG die §§ 180 bis 186 sowie § 195 Abs. 2 ZPO. Nach der Postzustellungsurkunde hat der Zusteller den BF in dessen "Geschäftslokal” i.S. des § 183 ZPO nicht angetroffen (vgl. hierzu BSGE 15, 216). Er hat deshalb die Sendung der Zeugin H. übergeben. Das war nicht fehlerhaft. Als Geschäftsraum eines Arztes ist entgegen der Auffassung des BF das Zimmer anzusehen, in dem sich die Arzthelferin zur Erfüllung ihrer dienstlichen Aufgaben aufhält. Bei einem Arzt wird in der Regel das Vorzimmer als Geschäftsraum anzusehen sein (s. Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 6 zu § 63; Baumbach-Lauterbach, Komm. zur ZPO, 29. Aufl., § 294 Anm. 3 und §§ 181, 183 Anm. 1 A). Bezüglich der Entgegennahme der Zustellung gilt mithin die Ersatzperson – Zeugin H. – als gesetzliche Vertreterin des Adressaten (s. Rosenberg, Die Stellvertretung im Prozeß, S. 544, 553). Der BF muß die Zustellung mit den sich daraus ergebenden Folgen hiernach gegen sich gelten lassen. In bezug auf deren Rechtsfolgen wird er so angesehen, als ob das Schriftstück ihm selbst übergeben worden wäre, wenn auch § 163 Abs. 1 ZPO nur von Gewerbetreibenden spricht. Hierunter fallen in ausweitender Auslegung nach der Rechtsprechung auch Angehörige freier Berufe, u.a. die freipraktizierenden Ärzte (s. Baumbach-Lauterbach a.a.O.). Auf den weiteren Einwand des BF, er sei in der Praxis anwesend gewesen, weshalb der Postzusteller das Schriftstück ihm hätte übergeben können und müssen, kommt es deshalb ebenfalls nicht an. An der Tatsache, daß die Zustellung ordnungsgemäß erfolgt ist, ist nicht vorbeizugehen, auch wenn die Zeugin H. keine Postvollmacht besessen hat. Dieser Umstand ist im Rahmen des § 185 ZPO rechtlich unbeachtlich.

Die zweite vom Senat zu beantwortende und hiervon zu trennende Frage war indessen, ob und inwiefern das Wissen der Zeugin um die Zustellung, die Bedeutung des zugestellten Schriftstückes und ihr Verhalten danach dem BF zuzurechnen ist. Da die Zustellung die Kenntnis vom Inhalt der Postsache nicht ersetzt oder einschließt, steht bei der Ersatzzustellung der Beweis offen, daß sie als Ersatzperson das Schriftstück nicht ausgehändigt und er deshalb hiervon rechtzeitig keine Kenntnis erlangt hat (s. Baumbach-Lauterbach, Vorbemerkung 2 vor § 181 ZPO).

Grundsätzlich kann die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur aus Gründen abgelehnt werden, die in der Person des BF selbst liegen. Ein vorwerfbares Verhalten der Ersatzperson ist jedoch dann von Bedeutung, wenn der Adressat mit einem Verschulden rechnen mußte und vorbeugende Maßnahmen zum Ausschluß desselben unterlassen hat. Ein Verschulden des BF würde also gegeben sein, wenn er diejenige Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die einen gewissenhaften Prozeßführenden nach den gesamten Umständen zuzumuten gewesen ist (BSGE 1, 232). Das ist vorliegend der Fall. Bei dem hier anzulegenden strengen Maßstab war von dem BF zu fordern, daß er alle normalerweise denkbaren Möglichkeiten des tatsächlichen Ablaufs von Postzugängen und deren ordnungsgemäßen Weitergabe in seine Überlegungen einbezog und seine Maßnahmen hierauf einstellte (vgl. Stein/Jonas/Schönke, Komm. zur ZPO, Vorbemerkung V, 5 vor § 128). Er hatte schon deshalb besondere Sorgfalt walten zu lassen, weil vor dem Beschwerdeausschuß in seiner Anwesenheit mündlich verhandelt worden und ihm bewußt war, daß mit der Zustellung der Entscheidung in absehbarer Zeit zu rechnen war (vgl. hierzu Urteil des BSG vom 21. Mai 1963; Az.: § RV 294/60). So betrachtet kann er sich nicht exkulpieren, wenn er auf den bedeutend längeren zeitlichen Abstand zwischen Verhandlung und Zustellung eines früheren Bescheides verweist. Immerhin hatte hier die Sitzung des Beschwerdeausschusses auch schon am 10. September 1969 stattgefunden und der Beschluss ist erst am 25. November 1969 ausgefertigt worden. Nach Ablauf von mehr als zwei Monaten mußte der BF als gewissenhafter Rechtsmittelführender die alsbaldige Zustellung der Entscheidung in seine Überlegung einbeziehen und sich den Postsachen mit erhöhter Aufmerksamkeit widmen. Wenn er meint, insoweit keinen Anlaß zur Besorgnis oder Nachfrage gehabt zu haben, ist das objektiv unrichtig und subjektiv vorwerfbar. Er hätte die Pflicht gehabt, der Zeugin H. mitzuteilen, daß er einen Brief der BG erwarte, der ihm, sei es in geöffnetem Zustand oder nicht, unverzüglich vorzulegen sei, zumal die Zeugin erst wenige Wochen bei ihm beschäftigt war und er deshalb besonderen Anlaß hatte, für die Bearbeitung der Post durch sie Anweisungen zu erteilen und deren Ausführung zu überwachen. Das ist aber nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht geschehen. Gelegentliche Kontrollen, von denen er gesprochen hat, waren auf alle Fälle zu wenig, insbesondere deshalb, weil kein Posteingangsbuch geführt wurde. Er hätte sich gerade wegen der zu erwartenden Zustellung des Beschwerdebeschlusses mehr als allenfalls stichprobenweise die Gewißheit verschaffen müssen, ob die neue Assistentin imstande war, Post nach Art und Wichtigkeit zu unterscheiden. Da sie auch beauftragt war, Eingänge in Karteien zu ordnen, ohne sie vorher vorzulegen war die Gefahr der Verwechselung oder Verkennung des wahren Inhalts von Briefen von vornherein evident.

Diese Gedanken gelten, wenn nur von der Einlassung des BF allein ausgegangen würde. Erschwerend in bezug auf die Verschuldensfrage kommt aber noch dazu, daß die Zeugin nach ihrer glaubhaften Aussage die am 26. November 1969 zugestellte Postsache nicht geöffnet und schon gar nicht eigenmächtig abgeheftet hat. Diese Fakten sind ihr unter anderem in der vorgefertigten Erklärung vom 1. Oktober 1970 in den Mund gelegt worden. Wer den Beschluss in die Akten gebracht hat, ist offengeblieben. Da der BF ihn dort vorgefunden hat, muß es zwangsläufig eine andere Person als die Zeugin gewesen sein. Dafür, daß diese Person schuldlos gehandelt hat oder der BF sich seinerseits ein doch vorliegendes Verschulden nicht zuzurechnen lassen braucht, ist jedoch nichts vorgetragen worden, geschweige dann, daß eine Glaubhaftmachung erfolgt ist.

Hinzu kommt weiter, daß die Regelung des Postabholens, so wie der BF sie angegeben hat, nicht alle tatsächlich denkbaren und üblichen Arten des Zugangs von Post insichschloß. Denn die Methode des Postfachmietens ließ die konkret gewordenen Möglichkeiten der Zustellung nach den Bestimmungen des Verwaltungszustellungsgesetzes außer Acht. In diesem Punkt hätte der BF Vorkehrungen treffen müssen und auch können, zumal er selbst von vorangegangenen Zustellungen in Beschwerdesachen spricht. Daß er das nicht getan hat, muß er sich jedenfalls zurechnen lassen, gerade deshalb, weil nicht geklärt werden konnte, wer den zugestellten Brief geöffnet und abgeheftet hat. Seine Überwachungspflicht hätte sich auf die anderen in der Praxis tätigen oder mit Postsachen befaßten Personen ebenfalls erstrecken müssen. Dieser Gedanke gilt, insbesondere, wenn sein nach der Beweisaufnahme gemachter Einwand in die Betrachtung einbezogen wird. Unterstellt man, daß die Zeugin die Bewußte Zustellung gar nicht entgegengenommen hat – obwohl die Postzustellungsurkunde klar dagegen spricht – könnte es nur eine andere in der Praxis anwesende Person gewesen sein. Diese wäre dann aber schuldhaft ebenso wenig überwacht worden wie die Zeugin H.

Alles in allem hat der BF gegen die Pflichten eines gewissenhaften Prozeßführenden verstoßen, so daß sein Verschulden im Sinne des § 67 Abs. 1 SGG nicht auszuschließen war. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war deshalb nicht möglich, der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt (Main) vom 7. Juli 1970 vielmehr zu bestätigen.

Diese Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved