L 7 Ka 226/77

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
7
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 Ka 226/77
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehungsanordnung in der Zulassungssache des Antragstellers wird zurückgewiesen.

Diese Entscheidung ist gemäß § 177 SGG mit keinem weiteren Rechtsmittel anfechtbar.

Gründe:

Der Antragsteller war seit Dezember 1972 als Kassenarzt zugelassen. Mit Beschluss vom 9. März 1976 wurde ihm die Zulassung entzogen, weil er bei der Abrechnung erbrachter ärztlicher Leistungen gröblich gegen seine kassenärztlichen Pflichten verstossen habe. Der Berufungsausschuss hat mit Beschluss vom 18. Dezember 1976 den Bescheid des Zulassungsausschusses bestätigt und die sofortige Vollziehung des Zulassungsentzugs mit Wirkung vom 1. Januar 1977 angeordnet. Den Vorsitz im Berufungsausschuss führte der Vizepräsident a.D. Dr. D., der auch schon den Vorsitz im Disziplinarausschuss innegehabt hat. Dieser Ausschuss hatte eine Disziplinarmassnahme gegen den Antragsteller verhängt.

Die Klage des Antragstellers hat das Sozialgericht Frankfurt am Main durch Urteil vom 23. Februar 1977 mit der Massgabe abgewiesen, dass die Entziehung der Zulassung mit dem 31. März 1977 wirksam werde.

Der Antragsteller hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt und mit Schriftsatz vom 29. Februar 1977 die Aussetzung der Vollziehungsanordnung gemäss § 97 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beantragt. Auf die eingehende Begründung des Antrags in den Schriftsätzen vom 25. Februar 1977, 4. März 1977, 5. und 25. März 1977 wird Bezug genommen.

Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Beschlusses des Berufungsausschusses vom 19. Dezember 1976 – in der durch Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 23. Februar 1977 geänderten Fassung – ist nach § 97 Abs. 3 SGG zulässig, aber nicht begründet.

In Zulassungssachen kann das Berufungsgericht gemäss § 97 Abs. 3 SGG eine durch die Zulassungsinstanz oder das Sozialgericht angeordnete Vollziehung aussetzen. Eine solche kommt in Betracht, wenn nach der Anordnung der Vollziehung eine Änderung der Sach- und Rechtslage eingetreten ist. Eine derartige Änderung ist in der Zeit ab 18. Dezember 1976 weder behauptet worden noch in sonstiger Weise ersichtlich. Auch ohne eine Änderung der Sach- und Rechtslage ist indessen eine Aussetzung der Vollziehung eines Beschlusses in Zulassungssachen statthaft, jedoch nach Ansicht des Senats nur, wenn ein ausreichender Grund vorliegt, zumal eine Entscheidung in diesem Punkt praktisch zum Teil die Entscheidung der Hauptsache vorwegnimmt. Die vom Antragsteller vorgetragenen Gründe rechtfertigen eine Aussetzung der Vollziehung nicht.

Zu Recht hat das Sozialgericht den ergangenen Verwaltungsakt des Berufungsausschusses nicht deswegen für rechtswidrig gehalten, weil der Vorsitzende des Berufungsausschusses vorher schon den Vorsitz im Disziplinarausschuss geführt hat. Hierzu ist festzustellen, dass die Satzung der Kassenärztlichen Vereinigung gemäss § 368 m Abs. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) entsprechende Bestimmungen über die Verhängung einer Disziplinarmassnahme enthalten muss. Demzufolge überträgt § 20 der Satzung die Verhängung einer Disziplinarmassnahme einem Disziplinarausschuss. Er besteht aus einem Vorsitzenden, der die Befähigung zum Richteramt haben muss, und zwei Mitgliedern. Der Vorsitzende und die Mitglieder dürfen dem Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung nicht angehören. Das Verfahren vor dem Disziplinarausschuss ist ein Verfahren eigener Art, das getrennt von dem Verfahren über die Entziehung der Zulassung, das in § 368 a Abs. 5 RVO in Verbindung mit §§ 34 ff. der Zulassungsordnung (ZO) seine Rechtsgrundlage hat, durchzuführen ist. Insoweit schreibt § 35 ZO lediglich vor, dass der Vorsitzende des Berufungsausschusses ebenfalls die Befähigung zum Richteramt haben muss. Ausser ihm wirken im Berufungsausschuss je drei Vertreter der Krankenkassen und der Ärzte mit. Der § 35 Abs. 3 ZO bestimmt ferner, dass die Mitglieder des Zulassungsausschusses nicht gleichzeitig Mitglied des Berufungsausschusses sein können. Weitere Ordnungsvorschriften hinsichtlich der Besetzung des Berufungsausschusses bestehen nicht. Insbesondere ist nirgends geregelt, dass der Vorsitzende des Disziplinarausschusses nicht gleichzeitig den Vorsitz im Berufungsausschuss führen darf und umgekehrt. Wenn Vorschriften über die Ablehnung von Mitgliedern wegen Befangenheit fehlen, hält Sievers (ZO § 36 Anm. 2) eine entsprechende Anwendung des § 24 der Strafprozessordnung (StPO) nicht für zulässig. Dem ist zuzustimmen, da das Verfahren vor dem Berufungsausschuss ein reines Verwaltungsverfahren ist, das über weitergehende Massnahmen, wie sie der Disziplinarausschuss treffen kann, zu befinden hat. Die Ausführungen von Prof. Dr. Sch. in dem Gutachten vom 15. Dezember 1976, wonach das Verfahren vor dem Berufungsausschuss einem Verfahren vor einem ärztlichen Berufsgericht gleichstehe, sind abwegig. Das Verfahren vor einem ärztlichen Berufsgericht ist allerdings ein Gerichtsverfahren eigener Art, auf das Art. 101 des Grundgesetzes (GG) Anwendung findet (vgl. BVerfG 18, 254). Das Verfahren vor dem Berufungsausschuss darf jedoch mit einem Gerichtsverfahren nicht verwechselt werden. Die Ansicht von Haueisen, DÖV 1973, S. 653 ff., der auf BSG 26/177; 27/158 verweist, steht dem nicht entgegen. Danach besitzt zwar das Verfahrensrecht gleichen Rang wie materielles Recht, so dass Verfahrensfehler zur Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts führen können, die zwar keine Nichtigkeit, wohl aber Anfechtbarkeit zur Folge hat. Wenn aber besondere Verfahrensvorschriften über die Ablehnung wegen Befangenheit fehlen, kann insoweit ein Verfahrensfehler überhaupt nicht vorliegen.

Es gibt auch keinen allgemeinen Rechtssatz des Inhalts, dass ein Mitglied einer Verwaltung wegen Mitwirkung in einem früheren Verfahren wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden kann. Schon der Umstand, dass im Zivil- und Strafrecht die Befangenheitsvorschriften ausdrücklich normiert sind und insoweit ebenfalls keine Regelung enthalten, spricht hiergegen (BVerwG 29/70). Mit Recht betont Wolff, Verwaltungsrecht III § 156 Ziff. 3, dass ein subjektives Recht zur Ablehnung wegen Befangenheit nur bestehe, wenn es ausdrücklich gesetzlich vorgesehen sei. Ein allgemeiner Grundsatz hinsichtlich der Ablehnung wegen Befangenheit ist nur insoweit anerkannt, als ein Verwaltungsorgan sich nur bei einem eigenen persönlichen Interesse an der Entscheidung der Mitwirkung enthalten muss. So sind auch nach Ansicht des Senats die Ausführungen von Dagtoglou zu verstehen, der ausdrücklich darauf hinweist, dass niemand Richter in eigener Sache sein dürfe. Darüber hinaus ist in den normierten Befangenheitsregelungen nirgends festgelegt, dass ein Richter bei Identität der rechtsschutzbegehrenden Person deshalb ausgeschlossen sei, weil er in einem früheren Verfahren mitgewirkt habe.

Davon abgesehen, hat der Antragsteller im Schriftsatz vom 9. September 1976 an den Berufungsausschuss selbst vorgetragen, dass gegen den Vorsitzenden Dr. D. grundsätzlich keine Bedenken bestünden. Wenn dieser mit Billigung der 6 Ausschussmitglieder sich nicht für befangen erklärt hat, liegen damit objektiv, zumal auch insoweit eine gesetzliche Regelung fehlt, keine Gründe vor, die geeignet wären, Misstrauen in seine Amtsführung zu setzen. Dies um so mehr, als es sich bei dem Verfahren vor dem Disziplinarausschuss und dem Berufungsausschuss um zwei völlig getrennte Verfahren handelt, die von der Sache her, mag auch der Tatbestand der gleiche sein, zu völlig verschiedenen Rechtsergebnissen führen. Schliesslich kann, da eine Verletzung normierten Verfahrensrechts nicht ersichtlich ist, dahinstehen, ob auch bei Ermessensentscheidungen die Grundsätze der §§ 170 Abs. 1, 159 SGG zum Tragen kommen (vgl. Haueisen a.a.O.), wonach eine Gesetzesverletzung unbeachtlich ist, wenn sich die Sachentscheidung aus anderen Gründen als richtig erweist und beispielsweise der Verfahrensfehler die Ermessensentscheidung nicht wesentlich beeinflusst hat.

Die Entziehung der Zulassung als Kassenarzt haben der Berufungsausschuss und das Sozialgericht damit begründet, dass wegen der festgestellten Mängel bei der Abrechnung für ärztliche Leistungen die Entziehung im öffentlichen Interesse liege. Dieses überwiege das private Interesse des Antragstellers an der Fortsetzung der kassenärztlichen Tätigkeit. Der Berufungsausschuss und das Sozialgericht haben hierzu festgestellt, dass sich der Antragsteller durch die aufgezeigten Abrechnungsmängel einer gröblichen Verletzung der kassenärztlichen Pflichten schuldig gemacht habe. Dadurch sei die erforderliche Vertrauensbasis zwischen dem Antragsteller einerseits und den Krankenkassen sowie der Kassenärztlichen Vereinigung andererseits, wie sie die kassenärztliche Versorgung voraussetze, zerstört worden. Der Antragsteller habe dadurch die Eignung als Kassenarzt im Sinne des § 368 a Abs. 6 RVO verloren. Diese Feststellung wurde aufgrund eingehender Ermittlungen in den beiden Verwaltungsverfahren und im Hinblick auf eine umfangreiche Beweisaufnahme der ersten sozialgerichtlichen Instanz getroffen. Das Abstreiten der zur Last gelegten Verfehlungen und entsprechende Gegenbehauptungen können die ergangene Vollziehungsanordnung zunächst nicht in Frage stellen. Ob insbesondere die vom Sozialgericht durchgeführte Beweisaufnahme fehlerhaft ist, kann erst im Hauptverfahren durch entsprechende Ermittlungen und gegebenenfalls eigene Beweisaufnahme des Senats festgestellt werden.

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18.7.1973 (NJW 74 S. 227) und die darin niedergelegte Rechtsauffassung lassen sich wegen des völlig anderen Sachverhalts nicht auf den Fall des Antragstellers übertragen. Insbesondere deshalb nicht, weil dort noch entsprechende Feststellungen über die Mitwirkung der beteiligten Ausländer in terroristischen Organisationen zu treffen waren. Hier haben entsprechende Ermittlungen in den beiden Verwaltungsverfahren und eine umfangreiche Beweisaufnahme der Vorinstanz hinreichende Gründe für die Ungeeignetheit des Antragstellers als Kassenarzt ergeben. Daß er einem Racheakt der Praxisangestellten B. zum Opfer gefallen sei, wurde nach den Urteilsgründen aufgrund der Beweisaufnahme gerade nicht angenommen. In Übereinstimmung mit dem Berufungsausschuss und dem Sozialgericht ist der Senat der Auffassung, dass ein öffentliches Interesse an der Entziehung der Zulassung besteht und diese daher zu Recht für vollziehbar erklärt worden ist. Eine Aussetzung dieser Vollziehung ist beim gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht gerechtfertigt. Hierbei stützt sich der Senat insbesondere darauf, daß der Antragsteller selbst einräumt, Leistungen in nicht unerheblichem Umfang abgerechnet zu haben, die er tatsächlich nicht erbracht hat. Eine Entziehung der Zulassung setzt nach § 368 a Abs. 6 RVO voraus, daß der Arzt – wenn gegebenenfalls auch nur vorübergehend – zur Fortführung der kassenärztlichen Tätigkeit nicht geeignet ist. Dabei kann die Nichteignung auch durch ein das Vertrauensverhältnis zu den Organen der kassenärztlichen Selbstverwaltung und zu den Krankenkassen grob störendes Verhalten begründet sein (BSG Bd. 15 S. 177 ff.). Dabei erfordert die "gröbliche Pflichtverletzung” i.S. des § 368 a Abs. 6 RVO kein individuelles Verschulden im Sinne eines vorwerfbaren Verhaltens (BSG in SozR Nr. 24 zu § 368 a RVO).

Bei dieser Sachlage erscheint die Entziehung der Zulassung und die Anordnung der sofortigen Vollziehung ausreichend begründet.

Das gilt insbesondere auch deshalb, weil es sich bei der Entziehung der Zulassung um eine Ermessensentscheidung der Zulassungsinstanz handelt, die der Senat lediglich im Rahmen des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG dahin überprüfen kann, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Der Senat kann also insbesondere nicht sein Ermessen an die Stelle dessen der Zulassungsbehörde setzen (BSG Bd. 11 S. 102, 117 ff; BSG in SozR Nr. 5 zu § 368 n RVO; BSG in SozR Nr. 119 zu § 54 SGG). Aufgrund der bisherigen Beweisaufnahme ist jedoch kein Fehlgebrauch des Ermessens zu erkennen.

Der Senat verkennt dabei keineswegs die menschliche Seite dieser Entscheidung, insbesondere im Hinblick auf die Patienten des Antragstellers. Doch kann er diese Gesichtspunkte nicht zur Grundlage seiner Entscheidung machen, da die Gerichte nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden sind.

Auch dass der Antragsteller inzwischen sein Abrechnungsverfahren umgestellt hat, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Hinsichtlich der Frage, ob Wohlverhalten nach Feststellung eines Verstosses gegen die kassenärztlichen Pflichten zu berücksichtigen ist, kann auf Heinemann-Liebold, Kassenarztrecht, § 368 a RVO, I 7 g und die dort angegebene Literatur verwiesen werden. Auch das BSG hat in Bd. 33 S. 161 ff. ausgeführt, daß ein solches Wohlverhalten während des Verfahrens weniger Gewicht hat als das vorwerfbare Verhalten vorher (vgl. auch BSG vom 28.5.1968, 6 RKa 22/67 und vom 18.8.1972, 6 RKa 28/71 sowie vom 16.3.1973, 6 RKa 17/71). Erst nach Abschluß des Prozesses kann beurteilt werden, ob der Betreffende die Eignung als Kassenarzt wieder erlangt hat. Diese Grundsätze müssen erst recht bei einem bereits vollzogenen Verwaltungsakt angewendet werden. Daher ist auch aus diesen Gründen eine Aussetzung der Vollziehungsanordnung vorerst nicht gerechtfertigt.

Bei dieser Sach- und Rechtslage konnte dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nicht stattgegeben werden.

Die Entscheidung ist gem. § 177 SGG mit keinem weiteren Rechtsmittel anfechtbar.

Sie konnte ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter erfolgen (vgl. Peters-Sautter-Wolff, § 97 Anm. 10).
Rechtskraft
Aus
Saved