L 8 Kn 999/92 R

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 6 Kn 481/91
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 Kn 999/92 R
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Bei der Prüfung zumutbarer Verweisungsberufe für vermindert bergmännisch berufsfähige Versicherte sind die örtlich und zeitlich zum Zeitpunkt des Versicherungsfalles geltenden Tarifverträge heranzuziehen.
2. Sind zum Zeitpunkt des Versicherungsfalles keine örtlich geltenden Tarifverträge vorhanden, weil der Versicherte zuletzt in der DDR kurz vor deren Beitritt zur Bundesrepublik gearbeitet hat, so ist im einzelnen zu prüfen, ob gleichzeitig geltende Tarifverträge der Alt-Bundesrepublik oder örtlich geltende, aber später abgeschlossene Tarifverträge im Beitrittsgebiet die Verhältnisse der Arbeitswelt, insbesondere der beruflichen Qualifikation besser wiedergeben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 15. September 1992 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der 1947 geborene Kläger ist am 12. Februar 1990 aus der früheren DDR in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt. Er hat von September 1964 bis Februar 1967 eine Lehre als Elektriker durchlaufen. In diesem Beruf hat er, unterbrochen durch den Wehrdienst vom September 1967 bis April 1970, bis August 1970, gearbeitet. Danach war er als Lagerist und Katastrophenschutzbeauftragter tätig. Seit 1. September 1975 arbeitete er im Erzbergbau bei der SDAG W., Jugendbergbaubetrieb "Ernst Thälmann”. Bis 14. Mai 1984 war er dort im wesentlichen als Arbeiter im geophysikalischen Dienst tätig. Insbesondere wegen eines zweimaligen Spontanpneumothorax wurde er ab diesem Zeitpunkt für Arbeiten unter Tage untauglich befunden und erhielt Bergmannsrente. Er arbeitete dann bis zu seiner Übersiedlung im gleichen Betrieb über Tage als Kollektor, Fördermaschinist, Schlosser und Anlagenfahrer. In Bebra ist er seit dem 18. April 1990 als Chemiehilfsarbeiter beschäftigt.

Am 10. April 1990 beantragte er Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit bei der Beklagten. Diese veranlaßte ein Rentengutachten bei , Bad Hersfeld, vom 30. Mai 1990, in dem ausgeführt ist, daß der Kläger noch mittelschwere Arbeiten vollschichtig ohne überwiegend einseitige Körperhaltung und ohne häufiges Heben, Tragen und Bewegen von Lasten ohne mechanische Hilfsmittel verrichten könne. Als Diagnosen sind genannt: Ein Zustand nach zweimaligen Spontanpneumothorax, Zustand nach Cholecystektomie wegen Gallensteine, Rundrücken, supraventriculäre Extrasystolie bei Bradycardie des Herzens und leichter Sinusarrhythmie. Der beratende Arzt Medizinaldirektor Homberg, bestätigte am 21. Juni 1990 das Rentengutachten und führte aus, der Kläger könne unter Tage keine Arbeiten mehr verrichten, über Tage aber die meisten Anlerntätigkeiten, insbesondere könne er als bahnamtlicher Verwieger tätig sein (Verweisungsgruppe 14 b), nicht nur einfache Apparaturen oder Apparategruppen bedienen (Verweisungsgruppe 14 a), Verladearbeiten ausführen und Lader und Raupen fahren (Verweisungsgruppe 9).

Mit Bescheid vom 10. Oktober 1990 wies die Beklagte unter Hinweis auf ihre medizinischen Ermittlungen den Rentenantrag ab, weil der Kläger noch Tätigkeiten ausüben könne, die eine verminderte bergmännische Berufstätigkeit ausschlössen.

Den dagegen am 19. Oktober 1990 erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 8. April 1991 zurück.

Dagegen hat der Kläger am 25. April 1991 Klage vor dem Sozialgericht in Gießen erhoben, die er im wesentlichen damit begründet, daß er in der früheren DDR Bergmannsrente erhalten habe und er durch die Wiedervereinigung keine Nachteile erleiden dürfe.

Mit Urteil vom 15. September 1992 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger könne zwar nicht mehr unter Tage arbeiten, er sei aber noch fähig, Lader oder Raupen zu fahren, mehrstufige Fabrikationsprozesse selbständig zu überwachen und zu steuern, nicht nur einfache Apparaturen oder Apparategruppen zu bedienen sowie als Hochdruckkesselwärter oder bahnamtlicher Verwieger tätig zu sein. Diese Tätigkeiten seien der Hauptberufstätigkeit des Klägers als Anlagefahrer im wesentlichen wirtschaftlich und qualitativ gleichwertig. Damit seien die Voraussetzungen für eine Rentengewährung nach den zum Zeitpunkt der Übersiedlung in der Bundesrepublik Deutschland gültigen Gesetzen nicht möglich.

Gegen das ihm am 13. Oktober 1992 zugestellte Urteil hat der Kläger am 11. November 1992 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.

Der weder im Termin zur mündlichen Verhandlung vertretene noch erschienene Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 15. September 1992 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10. Oktober 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. April 1991 aufzuheben und diese zu verurteilen, ihm Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit ab 1. Mai 1990 zu gewähren.

Die Beklagte, die das erstinstanzliche Urteil für zutreffend hält, beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den übrigen Akteninhalt, insbesondere den Inhalt der beigezogenen Akten des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte auch in Abwesenheit des Klägers und seines Prozeßbevollmächtigten verhandeln und entscheiden, denn der Kläger war in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Folge seines Ausbleibens hingewiesen worden (§ 110 SGG).

Die zulässige Berufung (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –) ist sachlich unbegründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist im Ergebnis zu Recht ergangen, die angefochtenen Bescheide sind nicht aufzuheben. Der Kläger ist nicht vermindert bergmännisch berufsfähig.

Der Kläger ist vor der deutschen Wiedervereinigung in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt. Sein Rentenanspruch richtet sich allein nach den hier geltenden Gesetzen, die Gewährung einer Bergmannsrente nach dem Recht der früheren DDR hat keine vorgreifliche Wirkung.

Nach § 45 Abs. 2 Reichsknappschaftsgesetz (RKG), das nach § 300 des 6. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 6) noch anzuwenden ist, ist vermindert bergmännisch berufsfähig, wer infolge von Krankheit oder anderer Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte weder im Stande ist, die von ihm bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit auszuüben, noch im Stande ist, andere im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Arbeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in knappschaftlich versicherten Betrieben auszuüben. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.

Nach den medizinischen Feststellungen ist der Kläger zwar nicht mehr fähig, unter Tage zu arbeiten, im übrigen ist sein Leistungsvermögen aber nicht wesentlich gemindert. Dies ergibt sich aus den medizinischen Ermittlungen der Beklagten. Der Kläger hat diesen begründet nicht widersprochen, er hat keine Krankheiten oder Gebrechen genannt, die bei den bisherigen medizinischen Feststellungen nicht oder nicht ausreichend gewürdigt sind. Aus dem vorgelegten Attest der behandelnden Ärzte , Rotenburg vom 5. Februar 1991 ist lediglich zu entnehmen, daß der Kläger nicht unter Tage arbeiten kann, weitere Befunde sind nicht genannt. Er kann deshalb vollschichtig mittelschwere Arbeiten bei nur geringen Einschränkungen, wie sie im Gutachten des bezeichnet sind, verrichten und ist noch in der Lage, Verweisungstätigkeiten in knappschaftlichen Betrieben auszuüben, die seinem knappschaftlichen Hauptberuf im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig sind.

Hauptberuf ist entgegen der Ansicht der Beklagten und des Sozialgerichtes nicht die zuletzt ausgeübte knappschaftliche Tätigkeit eines Anlagenfahrers, sondern die eines Arbeiters im geophysikalischen Dienst. Der Kläger hat diese Tätigkeit vom 20. September 1982 bis zum 14. Mai 1984 ausgeübt und mußte sie aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Dies ergibt sich aus dem bei den Akten befindlichen Gutachten der Ärztekommission zur Feststellung der Berufsunfähigkeit vom 22. Mai 1984. Der Kläger hat sich nicht freiwillig von diesem Beruf gelöst, so daß diese und nicht die danach verrichtete Tätigkeit als Hauptberuf anzusehen ist.

Die qualitative und wirtschaftliche Bewertung dieses Hauptberufes und die Ermittlung von Verweisungsberufen stößt auf Schwierigkeiten, weil zum Zeitpunkt der Übersiedlung des Klägers die beruflichen, wirtschaftlichen und technischen Verhältnisse des thüringischen Erzbergbaus keinen Vergleich zum Bergbau in der (Alt-) Bundesrepublik zulassen. Dies ist bestätigt durch eine Auskunft der Kali und Salz AG, Werk Wintershall, in der ausgeführt ist, daß der ehemalige Aufgabenbereich des Klägers hier so nicht vorliege.

Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes fordert einerseits, daß zur Ermittlung des Haupt- und Verweisungsberufes grundsätzlich die Tarifverträge zugrunde gelegt werden müssen, die für das Bergbaugebiet maßgebend sind, in dem der Versicherte gearbeitet hat (Urteil vom 31. Januar 1969 –5 RKn 30/68), andererseits muß der zum Zeitpunkt des Versicherungsfalles geltende Tarifvertrag herangezogen werden (vgl. BSG, SozR 3-2200 § 1246 Nrn. 22, 29, 32; Urteil vom 23. Mai 1995 – 13 RJ 65/94). Beide Forderungen zugleich können hier nicht erfüllt werden. Es muß deshalb der Tarifvertrag gewählt werden, der am ehesten Gewähr dafür bietet, daß seine Indizwirkung für den qualitativen Wert der ausgeübten Tätigkeit und der Verweisungstätigkeit der Arbeitswirklichkeit entspricht. Es ist sachgemäß, bei der Beurteilung die Verhältnisse zugrunde zulegen, die im thüringischen Bergbau unmittelbar nach der Vereinigung herrschten, denn es kann davon ausgegangen werden, daß in die dort zunächst abgeschlossenen Tarifverträge die bis dahin geltenden beruflichen und wirtschaftlichen Bewertungen der bergmännischen Arbeit im Erzbergbau eingeflossen sind. Dies ist daraus zu ersehen, daß in Diktion und Systematik die frühen Tarifverträge noch den "Qualifikationsgruppen” aus der Zeit der DDR entsprechen, erst später gleichen sie sich den hier üblichen Tarifverträgen an. Dies zeigt ein Vergleich der sich bei den Verwaltungsakten befindlichen "Charakteristiken” mit den neuen und alten Tarifverträgen. Die aus der Zeit nach dem 3. Oktober 1990 stammenden Verträge bieten somit trotz ihres erst nach der Übersiedlung des Klägers stattgefundenen Abschlusses eine zuverlässigere Entscheidungsgrundlage als die vergleichsweise Heranziehung fremder Tarifverträge – etwa des Hessischen Salz und Kaliabbaues –, die zum Zeitpunkt des Versicherungsfalles galten.

Nach dem bis zum 31. Dezember 1992 geltenden Tarifvertrag für die W. GmbH i.A. wurden gewerbliche Tätigkeiten in die Lohngruppen 3 bis 9 eingestuft. Arbeiter im geophysikalischen Dienst wurden nach Lohngruppe 5 bis Lohngruppe 7 entlohnt. Lohngruppe 5 umfaßt Jungfacharbeiter, Lohngruppe 6 Facharbeiter, die mit der selbständigen Durchführung qualifizierter Facharbeiter betraut sind, Lohngruppe 7 Facharbeiter, an die hohe Anforderungen an Fachkenntnisse und Erfahrungen gestellt werden. Der Kläger hat ca. zwei Jahre als Arbeiter des geophysikalischen Dienstes und zuvor sieben Jahre in vergleichbaren Tätigkeiten als Radiometrist und Geophysiker gearbeitet. Zu seinen Gunsten kann unterstellt werden, daß er in Lohngruppe 7 einzustufen wäre. Der Stundenlohn in dieser Lohngruppe betrug 13,56 DM in der höchsten Stufe.

Als zumutbarer Verweisungsberuf kommt für den Kläger zunächst die Tätigkeit eines Elektrikers in Betracht, denn er hat für diese Tätigkeit eine abgeschlossene Berufsausbildung. Für Elektriker über Tage sind in dem Tarifvertrag die Lohngruppen 5 bis 7 vorgesehen. Da der Kläger nur eine geringe berufliche Erfahrung hat, die zudem schon weit in der Vergangenheit liegt, könnte er lediglich in die Lohngruppe 5 eingestuft werden. Diese Lohngruppe umfaßt auch Facharbeiter, die unter fachlicher Anleitung tätig sind oder Facharbeiter, die nicht alle Arbeiten der Lohngruppe 6 ausführen. Der Stundenlohn für diese Lohngruppe betrug 12,06 DM.

Die Tätigkeit eines Elektrikers ist dem Kläger nicht nur im Hinblick auf seine Kenntnisse und Fähigkeiten, sondern auch gesundheitlich zuzumuten. Nach dem "Grundwerk ausbildungs- und berufskundlicher Informationen – gabi –, herausgegeben von der Bundesanstalt für Arbeit” werden an Elektriker (Elektroinstallateure, -monteure, Einheiten 311 a, 311 b) in der Regel keine gesundheitlichen Anforderungen gestellt, denen der Kläger nicht gewachsen ist. Insbesondere ist die Tätigkeit nicht mit schwerem Heben und Tragen oder dauernden Zwangshaltungen verbunden.

Als weiterer Verweisungsberuf kommt der des Anlagenfahrers in Betracht. Der Kläger hat diese Tätigkeit zuletzt in Thüringen ausgeübt, es ist deshalb davon auszugehen, daß er ihr gesundheitlich gewachsen ist (BSG, Urteil vom 24. Februar 1966 – 12 RJ 92/62). Anlagefahrer werden in den Lohngruppen 5 (Durchlaufstrahlanlage) oder 6 (Wasseraufbereitung, Farbaufbereitung, Schnittholztrocknung) eingestuft.

Die Tätigkeit eines Arbeiters im geophysikalischen Dienst der Lohngruppe 7 ist zu der eines Elektrikers oder eines Anlagenfahrers in der Lohngruppe 5 wirtschaftlich gleichwertig. Von einer im wesentlichen wirtschaftlichen Gleichwertigkeit kann nur dann nicht mehr ausgegangen werden, wenn die Differenz zwischen der tariflichen Einordnung des Hauptberufes zu der tariflichen Einstufung des Verweisungsberufes größer als 12,5 % ist (BSG, Urteil vom 30. März 1977 – 5 RKn 13/76). Dieser Grenzwert wird hier nicht überschritten, der Lohnunterschied beträgt ca. 11 %.

Für die Zeit zwischen der Übersiedlung und dem 3. Oktober 1990 war für den Kläger der thüringische Erzbergbau nicht erreichbar. Während dieser Übergangszeit besteht jedoch ebenso kein Rentenanspruch. Da auf einen thüringischen Tarifvertrag nicht zurückgegriffen werden kann, muß insoweit Ausgangsberuf- und Verweisungsberuf den westdeutschen Tarifverträgen entnommen werden. Als vergleichbare Tätigkeiten im Hauptberuf kommen Vermessungsarbeiten (mögliche Verweisungsgruppen über Tage 1 a – 14 e, u.a.) im Kali und Salzbergbau in Hessen in Betracht, für die in der fraglichen Zeit die von der Beklagten im Bescheid vom 10. Oktober 1990 genannten und im Tatbestand im einzelnen bezeichneten Tätigkeiten zumutbare Verweisungsberufe sind, denn sie gehören in die wirtschaftlich und qualitativ gleichwertigen Verweisungsgruppen.

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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