L 6 AS 256/15

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 6 AS 810/14
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 256/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 14 AS 192/16 B
Datum
Kategorie
Beschluss
Bemerkung
Beschl. mit ZVW, L 6 AS 293/17 ZVW
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 11. Februar 2015 wird als unzulässig verworfen.

II. Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der vorläufig bewilligten Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) im Zeitraum Januar bis Sepetmber 2013 in Streit.

Die seit dem Jahr 2012 im Leistungsbezug nach dem SGB II stehende Klägerin hat am 24. Oktober 2015 eine Klage beim Sozialgericht Kassel gegen einen Bescheid des Beklagten vom 2. April 2014, in der Gestalt der Änderungsbescheide vom 23. September 2014 und 24. September 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. September 2015 erhoben mit dem Ziel, höhere Leistungen für den Zeitraum 1. Januar bis 30. September 2014 zu erstreiten.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 11. Februar 2015 als unbegründet abgewiesen. Das Urteil ist der Klägerin am 28. März 2015 mit Postzustellungsurkunde (Gerichtsakte Blatt 65) zugestellt worden.

Am 27. April 2015 hat die Klägerin beim Hessischen Landessozialgericht Berufung u.a. gegen ein Urteil im Verfahren S 6 AS 810/14 erhoben. Dieser Schriftsatz ist per EGVP ohne qualifizierte elektronische Signatur im Format xsl und xml bei Gericht eingegangen (Gerichtsakte Blatt 68 f.). Am 6. Mai 2015 hat die Klägerin erneut mit Schriftsatz vom 5. Mai 2015 Berufung gegen ein Urteil im Verfahren S 6 AS 810/14 eingelegt. Auch dieser Schriftsatz ist per EGVP ohne qualifizierte elektronische Signatur bei Gericht eingegangen (Gerichtsakte Blatt 71 - 78).

Am 11. Mai 2015 ist der Schriftsatz der Klägerin vom 5. Mai 2015 erneut beim Hessischen Landessozialgericht eingegangen, dieses Mal mit eigenhändiger Unterschrift in Kopie (Gerichtsakte Blatt 82 - 84).

Die Berichterstatterin hat mit Schreiben vom 18. Februar 2016 darauf hingewiesen, dass gemäß § 158 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beabsichtigt sei, durch Beschluss zu entscheiden und Frist zur Stellungnahme binnen zwei Wochen gesetzt. Der Beklagte hat sich mit Schreiben vom 22. Februar 2016, die Klägerin hat sich mit Schreiben vom 3. März 2016 und weiteren Schreiben hierzu erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, der Grundlage dieser Entscheidung ist.

Entscheidungsgründe:

Der Senat kann nach § 158 S. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entscheiden.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 11. Februar 2015 im Verfahren S 6 AS 810/14 ist unzulässig.

Die Klägerin hat keine fristgerechte Berufung zum Hessischen Landessozialgericht binnen Monatsfrist eingelegt.

Das angegriffene Urteil ist der Klägerin am 28. März 2015 zugestellt worden. Die Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils ist fehlerfrei, so dass die Berufung formgerecht binnen Monatsfrist zu erheben gewesen wäre (§ 151 Abs. 1, § 64 SGG). Die Frist zur Einlegung der Berufung lief damit bis Dienstag, den 28. April 2015. Bis zu diesem Tag ist kein von der Klägerin unterschriebener Berufungsschriftsatz und auch kein Berufungsschriftsatz mit qualifizierter elektronischer Signatur beim Hessischen Landessozialgericht eingegangen.

Zwar übersandte die Klägerin am 27. April 2015 und 6. Mai 2015 nicht qualifiziert elektronisch signierte EGVP-Nachrichten an das Hessische Landessozialgericht. Diese EGVP-Nachrichten konnten aber keine formwirksame Berufungseinlegung darstellen. § 151 Abs. 1 SGG ordnet zwingend an, dass die Berufungseinlegung schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu erfolgen hat. Daneben eröffnet § 65a Abs. 1 Satz 1 SGG die Möglichkeit, elektronische Dokumente an das Gericht zu übermitteln, soweit dies für den jeweiligen Zuständigkeitsbereich durch Rechtsverordnung der Bundesregierung oder der Landesregierungen zugelassen worden ist. Die elektronische Form stellt keinen Unterfall bzw. keine Sonderform der Schriftform dar. Vielmehr handelt es sich um eine eigenständige Form, die der Gesetzgeber als zusätzliche Option neben der bisherigen schriftlichen Form eingeführt hat (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 4. Juni 2013 - L 6 AS 194/13 B – juris, Rn. 10; Müller, JurPC Web-Dok. 183/2013, Abs. 15; vgl. auch BSG, Urteil vom 14. März 2013 - B 13 R 19/12 R - juris, die eigenständige Form hervorhebend, aber eine entsprechende Belehrungspflicht verneinend). Nach § 65a Abs. 1 Satz 3 SGG ist für Dokumente, die einem schriftlich zu unterzeichnenden Schriftstück gleichstehen, eine qualifizierte elektronische Signatur nach § 2 Nr. 3 des Signaturgesetzes vorzuschreiben. In diesem Sinne ist die Berufungsschrift schriftlich zu unterzeichnen (Jung, in: Roos/Wahrendorf, SGG § 65a, Rn.12; Müller, NZS 2015, 896, 897; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 9. Januar 2015, L 6 AS 639/14 B ER, juris), da nach allgemeiner Lehre zur Schriftform grundsätzlich die eigenhändige Unterschrift gehört. Jedenfalls beim Begriff des "schriftlich zu unterzeichnenden Schriftstücks" i.S.d. § 65a Abs. 1 Satz 3 SGG spielt es keine Rolle, im welchem Fall vom Erfordernis einer eigenhändigen Unterschrift eine Ausnahme gemacht werden muss (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 4. Juli 2002 2 BvR 2168/00).

Das Land Hessen hat mit der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr bei hessischen Gerichten und Staatsanwaltschaften vom 26. Oktober 2007 (ElRVerkV HE, GVBl. S. 699), zuletzt geändert durch Artikel 1 der Verordnung vom 4. Dezember 2014 (GVBl. S. 274), von der Ermächtigung Gebrauch gemacht. Nach § 2 Satz 1 ElRVerkV HE muss die Einreichung elektronischer Dokumente in einer aus der Anlage 2 zu dieser Verordnung ersichtlichen Form erfolgen. In Anlage 2 zu § 2 wird zur erforderlichen Signatur ausgeführt: "2. Signatur der Dokumente Die qualifizierte elektronische Signatur - soweit erforderlich - muss dem Profil ISISMTT entsprechen und das ihr zugrunde liegende Zertifikat muss durch das Gericht oder die Staatsanwaltschaft, welche mit einer automatisierten Überprüfung andere Stellen beauftragen können, prüfbar sein. Auf der Internetseite http://www.justiz.hessen.de sind beispielhaft Zertifizierungsdiensteanbieter bekannt gegeben, die von den Gerichten und Staatsanwaltschaften prüfbare Zertifikate herausgeben. 3. Dateiformate Das elektronische Dokument muss eines der folgenden Formate aufweisen, die durch die Gerichte und Staatsanwaltschaften bearbeitbar sind: a) ASCII (American Standard Code for Information Interchange) als reiner Text ohne Formatierungscodes und ohne Sonderzeichen, b) Unicode (als reiner Text, ohne Formatierungscodes), c) RTF (Rich Text Format), soweit es mit Microsoft Office darstellbar ist, d) Adobe PDF (Portable Document Format), e) Microsoft Word, soweit keine aktiven Komponenten (z.B. Makros) verwendet werden, f) XML (Extensible Markup Language) – eine zum Dokument gehörige DTD (Document Type Definition) muss zugeordnet sein, g) TIFF ("Tag Image File Format") 6.0, CCITT/TTS Gruppe 4, sofern Grafik-Daten übermittelt werden (z. B. Fax, eingescannte Unterlagen als Anlage). Das Risiko der Übermittlung trägt der Absender, insbesondere, wenn andere Formate oder ältere Formatversionen genutzt werden. Die zulässigen Versionen der genannten Formate und weitere Konventionen, insbesondere Angaben zu geeigneten Datenträgern, Dokumentenanzahlen und Volumengrenzen, werden auf der Internetseite http://www.justiz.hessen.de bekannt gegeben."

Die am 27. April und 6. Mai 2015 eingereichten Nachrichten der Klägerin erfüllten nicht den Formerfordernissen, weil sie zwar im EGVP des Gerichts in den zugelassenen Formaten xml und xsl eingegangen sind, aber nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen waren. Die zusätzliche Visitenkarte im xml- und xsl-Format, auf die die Klägerin sich beruft, ersetzt nicht die elektronische Signatur

Die nicht qualifiziert elektronisch signierten Dokumente der Klägerin sind auch nicht aus anderen Rechtsgründen als formwirksam anzusehen. Es ist bereits zweifelhaft, ob bei einem über das EGVP eingegangenen elektronischen Dokument überhaupt auf die allgemeinen Schriftformvoraussetzungen zurückgegriffen werden kann, wenn die Form des § 65a SGG nicht gewahrt wird (dagegen i. Erg. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31. Juli 2014 – L 29 AS 1052/14 NZB – juris Rn. 34). Die elektronische Form ist nämlich, wie bereits oben erwähnt, ein aliud zur Schriftform. Weiterhin spricht der Wortlaut des § 65a Abs. 1 Satz 3 SGG dafür, dass ein elektronisches Dokument nur dann einem unterschriebenen Dokument gleich steht, wenn es qualifiziert elektronisch signiert ist, und nicht, wenn schriftformwahrende Voraussetzungen analog angewendet werden können. Damit hängt bereits die Gleichstellung mit der Schriftform von der Formwahrung ab, was einer Anwendung von schriftformbezogenen Grundsätzen bei fehlender Formwahrung entgegenstehen dürfte. Auch der Gesetzeszweck des § 65a SGG, klare Anforderungen zur Sicherung der klassischen Urkundenfunktion auch bei einem nicht verkörperten Dokument zu regeln (vgl. Jung, in: Roos/Wahrendorf, SGG § 65a, Rn.13 ff.) und die besonderen Risiken der digitalen Form hinsichtlich Veränderbarkeit und Urheberfeststellung zu minimieren (vgl. Müller ASR 2013, 252, 252; Müller NZS 2015, 896, 897), verlangt eine abschließende Regelung.

Aus verfassungsrechtlichen Gründen (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 4. Juli 2002 2 BvR 2168/00) sind im vorliegenden Fall keine Schriftformerleichterungen anzuerkennen, da die Klägerin sehenden Auges – trotz Hinweises in der Rechtsmittelbelehrung des Sozialgerichts – den elektronischen Weg ohne Signatur gewählt hat.

Erst am 11. Mai 2015 ist ein von der Klägerin eigenhändig unterschriebener Schriftsatz beim Hessischen Landessozialgericht eingegangen, mit dem Berufung gegen das Urteil im Verfahren S 6 AS 701/14 eingelegt wird. Dieser Schriftsatz ist nicht innerhalb der Berufungsfrist beim Hessischen Landessozialgericht eingegangen.

Soweit die Klägerin mit Schreiben vom 3. März 2015 sinngemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 Abs. 1 SGG) geltend macht, sind Wiedereinsetzungsgründe nicht vorgetragen und nicht ersichtlich. Hinderungsgründe, einen unterschriebenen Berufungsschriftsatz per Post oder per Fax oder einen qualifiziert elektronisch signierten Berufungsschriftsatz fristgerecht bis zum 28. April 2015 beim Hessischen Landessozialgericht einzureichen, sind nicht vorgetragen und nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache.

Die Revision war nicht nach § 160 SGG zuzulassen, weil Revisionszulassungsgründe nicht ersichtlich sind.
Rechtskraft
Aus
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