L 3 U 51/16

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 1 U 125/15
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 51/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zur Anwendbarkeit der VO (EG) 883/2004 in Abgrenzung zur Anwendbarkeit der VO (EWG) 1408/71
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 23. Februar 2016 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Feststellung eines Ereignisses vom 30. August 2010 als Arbeitsunfall.

Der 1961 geborene Kläger ist polnischer Staatsangehöriger. Am 30. August 2010 traf der Kläger auf dem Hofgelände des Beigeladenen ein, um eine Saisonarbeit bei der Obsternte ab dem 31. August 2010 für 2 Monate aufzunehmen (amtliche Auskunft der D. - Kasse der landwirtschaftlichen Sozialversicherung - D. - vom 8. April 2015 auf der Grundlage der Angaben des Klägers vom 31. März 2015, Bl. 165 Verwaltungsakte - VA -, Unfallanzeige des Beigeladenen vom 17. Dezember 2010, Bl. 56 VA, und Angaben des Beigeladenen in den mündlichen Verhandlungen vom 23. Februar 2016 und 28. November 2017). Der Kläger gab gegenüber der D. an, am 30. August 2010 abends auf dem Gelände des Beigeladenen von einer Treppe ohne Treppengeländer gestürzt zu sein (amtliche Auskunft der D. a.a.O.). Zeugen, die den Unfallhergang beschreiben können, gibt es nach den Angaben des Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung vom 28. November 2017 und ausweislich des von ihm übermittelten polizeilichen Ermittlungsberichts nicht. Der Kläger wurde von dem Beigeladenen am 31. August 2010, dem geplanten Tag des Arbeitsbeginns, nach kurzer Suche auf dem Betriebsgelände im hinteren Bereich der Lagerhalle aufgefunden. Nach den Angaben des Beigeladenen war er ansprechbar und sagte, er sei müde und könne nicht arbeiten, weshalb er in den Schlafraum verbracht wurde. Da sich sein Zustand verschlechterte, wurde der Notarzt geholt. Nach dem ärztlichen Bericht des Ortenauklinikums Oberkirch vom 31. August 2010, Dr. E., und dessen Durchgangsarztbericht vom 1. September 2010 hatte der am 31. August 2010 um 12:35 Uhr aufgenommene Kläger ein Schädel-Hirntrauma mit schwerer intracerebraler Einblutung frontal sowie parieto-temporal links, eine Schädelbasisfraktur rechts und eine Calcaneusfraktur links erlitten. Am 29. September 2010 wurde er in die neurologische Anschlussheilbehandlung entlassen (ärztlicher Bericht des Universitätsklinikums Freiburg vom 29. September 2010, Prof. Dr. F. u. a.). Zur Arbeitsaufnahme bei dem Beigeladenen kam es nicht mehr. Die erforderliche Arbeitsgenehmigung konnte infolge des Unfalls beim Arbeitsamt nicht mehr eingeholt werden. Die Einstellungszusage/Arbeitsvertrag vom 25. Juli 2010 (Bl. 58 VA) hatte der Beigeladene bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingereicht, die am 2. August 2010 die Voraussetzungen für eine Ersatzvermittlung bestätigte (Gültigkeit bis 31. Dezember 2010). Als Arbeitsbeginn ist der 1. September 2010 angegeben. Des Weiteren ist angekreuzt: "oder ab dem Tag der Anreise" "oder auf Abruf". Die Einstellungszusage ist nicht vom Kläger unterschrieben.

Mit Bescheid vom 10. Dezember 2014 lehnte die Beklagte die Feststellung des Ereignisses vom 30. August 2010 als Arbeitsunfall ab und führte aus, Entschädigungsleistungen aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung (Heilbehandlung, Verletztengeld, Verletztenrente) seien nicht zu erbringen. Nach Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 unterliege eine Person, die in einem Mitgliedsstaat eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausübe, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedsstaates. Aufgrund des fehlenden Arbeitsverhältnisses zum Unfallzeitpunkt habe der Kläger nicht dem deutschen Sozialversicherungsrecht unterlegen. Das Arbeitsverhältnis habe laut der von der Agentur für Arbeit bestätigten Einstellungszusage erst am 1. September 2010 beginnen sollen. Darüber hinaus sei das Unfallereignis nicht während einer dem landwirtschaftlichen Unternehmen dienlichen Tätigkeit eingetreten. Der Kläger habe aufgrund der selbständigen Tätigkeit in Polen zum Unfallzeitpunkt allein polnischen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit unterlegen. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger über seinen Prozessbevollmächtigten am 18. Dezember 2014 Widerspruch ein.

Die Beklagte holte eine amtliche Auskunft der D. vom 8. April 2015 ein. Danach war der Kläger in Polen als Landwirt vom 3. Februar 1998 bis 2. Mai 2004, vom 21. Juni 2004 bis 16. Mai 2005 und vom 16. Juli 2005 bis 4. Dezember 2012 landwirtschaftlich sozialversichert. Seit dem 5. Dezember 2012 unterliegt der Kläger nach der Auskunft der D. nicht mehr der landwirtschaftlichen Sozialversicherung, weil er einen Anspruch auf Rentenleistung aus der Kasse der D. erworben hat. Laut Auskunft der D. wurde nach dem durchgeführten Prüfverfahren festgestellt, dass der Kläger kein Dokument besitzt, das seine Beschäftigung außerhalb Polens ab dem 31. August 2010 - Saisonarbeit auf dem Bauernhof des Beigeladenen - bestätigt. Von der D. wurde u. a. festgelegt: "Aufgrund der fehlenden Unterlagen, die eine andere Versicherung bestätigen würden, hat der Landwirt weiterhin der landwirtschaftlichen Sozialversicherung unterlegen."

Mit Widerspruchsbescheid vom 6. August 2015 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 18. August 2015 Klage bei dem Sozialgericht Kassel (Sozialgericht) erhoben. Zur Begründung hat er über seinen Prozessbevollmächtigten ausgeführt, gemäß der Einstellungszusage/Arbeitsvertrag vom 25. Juli 2010 sei er mit dem Beigeladenen übereingekommen, ab dem 30. August 2010 befristet für ca. 2 Monate als Obsterntehelfer bei diesem tätig zu sein. Er sei am 29. August 2010 zu dem Betrieb des Beigeladenen angereist und habe einen Schlafplatz auf dem Betriebsgelände bezogen. Der Unfall habe sich in den frühen Morgenstunden des 30. August 2010 ereignet, als er sich für die Arbeit habe vorbereiten und den Lagerraum aufsuchen wollen. Das Treppenhaus sei ungesichert gewesen, so dass er in den Lagerraum gestürzt sei und sich schwere Verletzungen zugezogen habe. Er sei mit dem Beigeladenen ein abhängiges und sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis eingegangen. Ein Arbeitsverhältnis habe vorgelegen. Hierfür sei unerheblich, dass er seine Arbeitsleistung als Erntehelfer noch nicht aufgenommen habe. Vor dem Hintergrund, dass er bereits auf dem Weg gewesen sei, um seine Arbeit in Deutschland aufzunehmen, sei der Rückgriff auf die von der Beklagten in Bezug genommen EG-Verordnung nicht zutreffend. Er könne nicht in Deutschland als Arbeitnehmer tätig sein und gleichzeitig eine selbständige Tätigkeit als Landwirt in Polen ausüben. Faktisch übe er seit längerer Zeit keine Tätigkeit als Landwirt mehr aus. Er beziehe in Polen keine Einkünfte aus selbständiger landwirtschaftlicher Tätigkeit, so dass gemäß Art. 11 Abs. 2 der EG-Verordnung davon auszugehen sei, dass er einer abhängigen Beschäftigung in Deutschland nachgegangen sei. Er habe sich bereits auf der deutschen Betriebsstätte befunden und sei auf dem Weg zur Arbeit verunfallt. Es sei unerheblich, dass er sich aus Unwissenheit nicht bei der D. abgemeldet habe.

Die Beklagte hat eingewandt, in der Bescheinigung der D. sei bindend festgestellt worden, dass der Kläger in der Zeit vom 30. August 2010 bis 31. Oktober 2010 den polnischen Vorschriften im Bereich der Sozialversicherung unterlegen habe. Nach der Rechtsprechung des EuGH sei die Feststellung des anwendbaren Rechts für die Träger anderer Mitgliedstaaten bindend (EuGH, Urteil vom 10. Februar 2000, Az.: C-202/97). Dies gelte nicht nur für die Versicherungsträger, sondern auch für die Gerichte des Gaststaates.

Mit Urteil vom 23. Februar 2016 hat das Sozialgericht die Klage nach Anhörung des Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass für den vorliegenden Fall die Verordnung - VO -(EWG) 1408/71 vom 14. Juni 1971 in der konsolidierten Fassung - Abl. Nr. L 28 - vom 30. Januar 1997 von Bedeutung sei. Der Kläger gehöre gemäß Art. 2 VO (EWG) 1408/71 zu dem von der Verordnung betroffenen Personenkreis. Da es sich vorliegend um Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten handele, sei auch der sachliche Geltungsbereich der Verordnung gegeben. Aus den Artikeln 13 und 14a VO (EWG) 1408/71 folge, dass die Anwendbarkeit deutschen Rechts nicht gegeben sei. Der Kläger sei nach Auskunft der D. vom 8. April 2015 im Zeitpunkt des Unfalls landwirtschaftlich sozialversichert gewesen. Aus Art. 13 Abs. 1 VO (EWG) 1408/71 ergebe sich, dass Personen, für die diese Verordnung gelte, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedsstaates unterliegen. Abs. 2 Buchst. a des Art. 13 VO (EWG) 1408/71 bestimme zudem, dass eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedsstaates abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staates unterliege. Vorliegend sei ein Arbeitsvertrag mit dem Beigeladenen nicht zustande gekommen, es habe die erforderliche Arbeitsgenehmigung gefehlt. Überdies habe der Kläger in Polen eine selbständige Tätigkeit ausgeübt. Nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. b VO (EWG) 1408/71 unterliege eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedsstaates eine selbständige Tätigkeit ausübe, den Rechtsvorschriften dieses Staates. Aus Art. 14 a VO (EWG) 1408/71 ergebe sich keine Ausnahme von diesem Grundsatz. Nach Abs. 1 Buchst. a dieser Vorschrift unterliege eine Person, die eine selbständige Tätigkeit gewöhnlich im Gebiet eines Mitgliedsstaates ausübe und die eine Arbeit im Gebiet eines anderen Mitgliedsstaates ausführe, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedsstaates, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit 12 Monate nicht überschreite. Vorliegend habe die Tätigkeit des Klägers die Dauer von 2 Monaten nicht überstiegen. Daher finde ausschließlich polnisches Sozialversicherungsrecht Anwendung, was auch die D. zugrunde lege. Diese Auffassung finde ihre Bestätigung in Art. 13 Abs. 2 Buchst a VO (EWG) 1408/71. Nur für den Fall, dass eine abhängige Beschäftigung vorgelegen hätte, wäre überhaupt die Zuständigkeit der deutschen Sozialversicherung möglich gewesen. Der Beigeladene habe in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass die erforderliche Arbeitsgenehmigung zum Zeitpunkt des streitigen Vorfalls noch nicht erteilt gewesen sei. Vor diesem Hintergrund habe nicht die Zuständigkeit der deutschen Sozialversicherung begründet werden können. Überdies verbleibe es bei Art. 14a Abs. 1 Buchst a VO (EWG) 1408/71, wonach der damals in Polen als selbständiger Landwirt tätige Kläger lediglich beabsichtigt habe, eine Tätigkeit über einen Zeitraum von 2 Monaten aufzunehmen. In derartigen Fällen unterliege er weiterhin dem Recht des Landes, in dem er seine selbständige Tätigkeit ausübe. Dass er diese damals nicht mehr gewinnbringend ausgeübt haben wolle, rechtfertige keine andere Entscheidung. Merkmal der Selbständigkeit sei lediglich die Absicht, damit auch einen Gewinn zu erzielen und nicht nur ein Hobby zu betreiben, nicht aber, dass ein Gewinn auch tatsächlich verbleibe (Hinweis auf FG Düsseldorf, Urteil vom 7. Juli 2015 - 10 K 546/12 E - juris).

Gegen das ihm am 3. März 2016 zugestellte Urteil hat der Kläger am 4. März 2016 Berufung bei dem Hessischen Landessozialgericht eingelegt. Zur Begründung hat er im Wesentlichen vorgetragen, dass er mit dem Beigeladenen spätestens bei seiner Ankunft, als die Einstellungszusage verwirklicht und angenommen worden sei, ein Arbeitsverhältnis begründet habe. Dass der Arbeitsbeginn zu einem späteren Zeitpunkt datiere, sei hierfür unschädlich. Eine fehlende erforderliche Genehmigung führe nicht zur Nichtigkeit des Arbeitsverhältnisses, sondern allenfalls zu einem Beschäftigungsverbot gemäß § 284 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - SGB III. Es sei jedoch zumindest von einem faktischen Arbeitsverhältnis auszugehen. Eine illegale Beschäftigung führe nicht zum Verlust des Unfallversicherungsschutzes (Hinweis auf Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 30. September 2011 - L 9 U 46/10). Es sei unschädlich, dass er zum Unfallzeitpunkt in Polen versichert gewesen sei. Er habe seit Jahren keine Landwirtschaft mehr betrieben und nicht einmal eine Gewinnerzielungsabsicht verfolgt. Er sei lediglich im Besitz eines brachliegenden Feldes gewesen.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 23. Februar 2016 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10. Dezember 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. August 2015 aufzuheben und festzustellen, dass das Ereignis vom 30. August 2010 ein Arbeitsunfall gewesen ist.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für rechtmäßig.

Der Beigeladene stellt keinen Antrag.

Der Beigeladene hat einen polizeilichen Ermittlungsbericht zu dem Geschehen am 30. und 31. August 2010 zu den Akten gereicht. Hinsichtlich der Anhörung des Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung vom 28. November 2017 wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Wegen weiterer Einzelheiten sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Das Urteil des Sozialgerichts vom 23. Februar 2016 sowie der Bescheid der Beklagten vom 10. Dezember 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. August 2015 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung des Ereignisses vom 30. August 2010 als Arbeitsunfall.

Im vorliegenden Fall ist deutsches Unfallversicherungsrecht nicht anwendbar. Als Kollisionsrecht bei Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts sind die Vorschriften der VO (EG) 883/2004 in der Fassung vom 29. April 2004 (gültig vom 1. Mai 2010 bis 27. Juni 2012) maßgeblich. Entgegen erstinstanzlicher Auffassung sind nicht die Vorschriften VO (EWG) 1408/71 anzuwenden. Diese wären nur bei abgeschlossenen Sachverhalten vor dem Inkrafttreten der VO (EG) 883/2004 einschlägig (Art. 87 Abs. 1 VO (EG) 883/2004; EuGH, Urteil vom 19. Juli 2012 - C-522/10 - "Reichel-Albert" - EuGHE I 2012, 518, Rdnr. 26; BSG, Urteil vom 23. Februar 2017 - B 11 AL 1/16 R m. w. N.). Die VO (EG) 883/2004 ist zum 1. Mai 2010 in Kraft getreten (mit dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Durchführungsversordnung VO (EG) 987/2009). Vorliegend hat sich der streitgegenständliche Sachverhalt jedoch nach dem Inkrafttreten der VO (EG) 883/2004 ereignet, sowohl hinsichtlich des geltend gemachten Arbeitsunfalls am 30. August 2010 als auch des geltend gemachten Beschäftigungsverhältnisses vom 31. August bzw. 1. September 2010 bis 31. Oktober 2010.

Der Kläger fällt gemäß Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 als Staatsangehöriger eines Mitgliedsstaats der EU unter den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung, deren sachlicher Geltungsbereich gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. f VO (EG) 883/2004 Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten erfasst.

Gemäß Art. 11 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 kann der Kläger nur den Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates unterliegen. Nach Art. 11 Abs. 3 Buchst. a VO (EG) 883/2004 unterliegt der Kläger - vorbehaltlich der Art. 12 bis 16 - dem Recht des Mitgliedsstaats, in dem er eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat.

Der Kläger war zum Unfallzeitpunkt weder in Deutschland beschäftigt noch selbständig tätig.

Im Falle des Klägers spricht alles gegen die Annahme eines Beschäftigungsverhältnisses in Deutschland.

Das Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses in Deutschland lässt sich nicht bereits mit dem Hinweis auf die Bindungswirkung der Bescheinigung der D. verneinen, worauf sich die Beklagte bezieht. Nach Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 987/2009 sind vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der Grundverordnung und der Durchführungsverordnung bescheinigt wird, sowie Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, für die Träger der anderen Mitliedstaaten so lange verbindlich, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt wurden. Nach ihrem objektiven Erklärungsgehalt bescheinigt die amtliche Auskunft der D. vom 8. April 2015 den Sachverhalt, dass der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum als Landwirt der polnischen landwirtschaftlichen Sozialversicherung unterlag. Mangels anderweitiger Erkenntnisse über eine Beschäftigung ab 31. August 2010 außerhalb Polens ging die D. davon aus, dass sich am sozialversicherungsrechtlichen Status des Klägers nichts geändert hat. Der amtlichen Auskunft der D. sind jedoch keine Feststellungen über den Sachverhalt einer Beschäftigung in Deutschland zu entnehmen, so dass diesbezüglich auch keine Bindungswirkung abgeleitet werden kann. Vorliegend handelt es sich auch nicht um eine Entsendung oder vergleichbaren Fall mit Ausstrahlungswirkung des polnischen Rechts.

Nach Art. 1 Buchst. a VO (EG) 883/2004 - Begriffsbestimmungen - bezeichnet der Ausdruck "Beschäftigung" für diese Verordnung jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedsstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird oder die gleichgestellte Situation vorliegt, als solche gilt. Nach Art. 11 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 wird bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung eine Geldleistung beziehen, davon ausgegangen, dass sie diese Beschäftigung ausüben.

In der Berufungsbegründung wurde hierzu unter Hinweis auf das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 30. September 2011 - L 9 U 46/10 u. a. vorgetragen, entgegen der erstinstanzlichen Entscheidung habe ein wirksames Arbeitsverhältnis vorgelegen, eine Genehmigung sei hierfür nicht erforderlich. § 284 Abs. 3 SGB III führe allenfalls zu einem Beschäftigungsverbot. Im Rahmen von Schwarzarbeit reiche ein faktisches Arbeitsverhältnis aus.

Vorliegend unterlag die Beschäftigung des Klägers der Genehmigungspflicht des § 284 Abs. 1 bis 3 SGB III in der von 1. Januar 2007 bis 30. April 2011 geltenden Fassung. Für die der EU beigetretenen mittel- und osteuropäischen Staaten wie u. a. Polen sind die Übergangsfristen erst zum 30. April 2011 abgelaufen. Im Arbeitsrecht wird die Erteilung der Genehmigung teilweise als aufschiebende Bedingung für das Wirksamwerden des Arbeitsvertrags verstanden, nach anderer Auffassung ist die Nichtigkeit des Arbeitsvertrags anzunehmen, die teilweise auf § 138 BGB, teilweise auf § 134 BGB gestützt wird (vgl. Janda in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 1. Aufl. 2014, Rdnr. 123 zu § 284 m. w. N.). Das BAG nimmt die rechtliche Unmöglichkeit der Erfüllung des Arbeitsvertrags an (vgl. BAG vom 13. Januar 1977 – 2 AZR 423/75BAGE 29, 1, 4).

Für die Annahme eines Beschäftigungsverhältnisses im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung SGB IV - genügte nach der Rechtsprechung, worauf seitens des Klägers zutreffend hingewiesen wurde, auch ein sog. faktisches Arbeitsverhältnis. Legte man die Vorschriften der VO (EG) 883/2004 entsprechend aus, käme es für das Vorliegen einer Beschäftigung nicht auf den Abschluss eines wirksamen Arbeitsvertrages, sondern den Augenblick der Aufnahme der Tätigkeit und die Herstellung der Verfügungsgewalt des Unternehmers über die Arbeitskraft des Beschäftigten an (vgl. Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 30. September 2011 - L 9 U 46/10 juris Rdnr. 30 mit zahlreichen Nachweisen zur BSG-Rechtsprechung). Es müsste ein wirksam gewordenes Beschäftigungsverhältnis durch Antritt der Arbeit vorliegen (vgl. Hessisches Landessozialgericht a.a.O., juris Rdnr. 40). In ähnlicher Weise ging der EuGH in einer Entscheidung zu dem Begriff des "Arbeitnehmers" im Sinne der Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit davon aus, dass es auf die tatsächliche Erbringung einer Arbeitsleistung ankomme, nicht auf die rechtliche Einordnung des Beschäftigungsverhältnisses nach nationalem Recht (EuGH, Urteil vom 17. November 2016 - C-216/15 - juris).

Im hier streitgegenständlichen Fall kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger in der Lagerhalle bereits seine Arbeit antrat bzw. sich dem Weisungsrecht des Beigeladenen unterwarf. Der Kläger selbst hat gegenüber der D. angegeben, bereits am Abend des 30. August 2010 auf dem Gelände des Beigeladenen von einer Treppe ohne Treppengeländer gestürzt zu sein (amtliche Auskunft vom 8. April 2015). Zur Überzeugung des Senats steht jedenfalls fest, dass der Beigeladene dem Kläger keine Weisung erteilt hatte, am 30. August 2010 seine Arbeit anzutreten. Nach dem Vorbringen des Beigeladenen sowohl in der Unfallanzeige vom 17. Dezember 2010 als auch in den mündlichen Verhandlungen vom 23. Februar 2016 und 28. November 2017 hatte die Tätigkeit des Klägers am 30. August 2010 noch nicht begonnen.

Geht man davon aus, dass der Kläger - entsprechend der amtlichen Auskunft der D. für den streitgegenständlichen Zeitraum - in Polen eine selbständige Tätigkeit als Landwirt ausgeübt hat, führen die Vorschriften der VO (EG) 883/2004 ebenso wenig zur Anwendbarkeit deutschen Unfallversicherungsrechts.

Nach der Sonderregelung des Art. 12 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 unterliegt eine Person, die gewöhnlich in einem Mitgliedstaat eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt und die eine ähnliche Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedsstaates, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Tätigkeit vierundzwanzig Monate nicht überschreitet. Art. 12 Abs. 2 erfasst regelmäßig eine vorübergehende selbständige Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat (vgl. Schweickardt in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Aufl. 2011, Art. 12 VO (EG) 883/2004, Rdnrn. 43 ff.), auch wenn es für den Begriff der "ähnlichen Tätigkeit" nicht darauf ankommt, ob dieser andere Mitgliedstaat diese Tätigkeit als Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit qualifiziert (Art. 14 Abs. 4 VO (EG) 987/2009). Die Anwendbarkeit deutschen Unfallversicherungsrechts nach dieser Vorschrift würde jedenfalls daran scheitern, dass die (voraussichtliche) Dauer der Tätigkeit vierundzwanzig Monate nicht überschritt.

Nach Art. 13 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 unterliegt eine Person, die gewöhnlich in verschiedenen Mitgliedstaaten eine Beschäftigung und eine selbständige Tätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften des Mitgliedsstaats, in dem sie eine Beschäftigung ausübt, oder, wenn sie eine solche Beschäftigung in zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausübt, den nach Abs. 1 bestimmten Rechtsvorschriften. Auch nach dieser Vorschrift käme man allenfalls bei Annahme einer Beschäftigung in Deutschland zur Anwendbarkeit deutschen Unfallversicherungsrechts. Dass im Falle des Klägers alles gegen die Annahme eines Beschäftigungsverhältnisses in Deutschland spricht, wurde oben bereits ausgeführt.

Selbst bei Unterstellung eines Beschäftigungsverhältnisses und Anwendbarkeit deutschen Unfallversicherungsrechts gelangte man jedoch nicht zu dem Ergebnis, dass das unfallbringende Verhalten des Klägers dem Unfallversicherungsschutz nach dem Sozialgesetzbuch Siebtes Buch - Gesetzliche Unfallversicherung - SGB VII - unterliegt.

Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls ist erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass sie zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität) (stRspr; vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 16/15 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 60 und juris m. w. N.). Die Tatsachen, die die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung", "Unfallereignis" sowie "Gesundheitserstschaden" erfüllen sollen, müssen im Vollbeweis, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen. Demgegenüber genügt für den Nachweis der naturphilosophischen Ursachenzusammenhänge zwischen diesen Voraussetzungen der Grad der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die Glaubhaftmachung und nicht die bloße Möglichkeit (vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 16/15 R - a. a. O.).

Der Kläger erlitt zwar auf dem Betriebsgelände des Beigeladenen einen Gesundheitsschaden in Form eines Schädelhirntraumas mit schwerer intracerebraler Einblutung frontal sowie parieto-temporal links, eine Schädelbasisfraktur rechts und eine Calcaneusfraktur links. Es fehlt jedoch bereits am Nachweis einer Verrichtung des Klägers zur Zeit des Unfalls, die der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang). Der Kläger hatte mit seiner Arbeit bei dem Beigeladenen noch nicht begonnen. Zeugen, die den konkreten Unfallhergang beschreiben können, gibt es nach den Angaben des Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung vom 28. November 2017 und ausweislich des von ihm übermittelten polizeilichen Ermittlungsberichts nicht. Der Kläger selbst hat gegenüber der D. lediglich angegeben, bereits am Abend des 30. August 2010 auf dem Gelände des Beigeladenen von einer Treppe ohne Treppengeländer gestürzt zu sein (amtliche Auskunft vom 8. April 2015).

Zwar unterliegen auch Vorbereitungshandlungen nach der Rechtsprechung des BSG unter engen Voraussetzungen dem Versicherungsschutz. Danach sind Vorbereitungshandlungen trotz ihrer Betriebsdienlichkeit grundsätzlich dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen und besteht Versicherungsschutz nur ausnahmsweise, wenn diese Tätigkeiten einen besonders engen sachlichen, örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der eigentlichen versicherten Tätigkeit aufweisen (vgl. BSG, Urteil vom 28. April 2004 - B 2 U 26/03 - juris Rdnr. 16 ff.). Hierfür müsste der Kläger jedoch den Vollbeweis für eine Vorbereitungshandlung mit einem besonders engen sachlichen, örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der eigentlichen versicherten Tätigkeit erbringen, der eher allgemein gehaltene Hinweis seines Prozessbevollmächtigten auf Vorbereitungen für die Arbeit genügt für den Nachweis einer versicherten Vorbereitungshandlung nicht.

Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass sich der streitgegenständliche Arbeitsunfall auf einem Betriebsweg im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII ereignet hat und deshalb unter Versicherungsschutz fällt. Betriebswege sind Wege, die in Ausübung der versicherten Tätigkeit zurückgelegt werden, Teil der versicherten Tätigkeit sind und damit der Betriebsarbeit gleichstehen. Sie werden im unmittelbaren Betriebsinteresse unternommen und unterscheiden sich von Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit im Sinne des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII dadurch, dass sie der versicherten Tätigkeit nicht lediglich vorausgehen oder sich ihr anschließen (vgl. BSG, Urteil vom 5. Juli 2016 - B 2 U 16/14 R - juris Rdnr. 13 m. w. N.). Vorliegend hatte die betriebliche Tätigkeit des Klägers noch nicht begonnen, er hatte sich zwar auf dem Betriebsgelände des Beigeladenen befunden, hier jedoch im unversicherten privatwirtschaftlichen Bereich der Schlafräume, von wo aus er nach seinen Angaben die Treppe betrat. Ein Betriebsweg kann schon deshalb nicht angenommen werden, weil der Weg des Klägers der versicherten Tätigkeit lediglich vorausging. Im Übrigen fehlt es am Vollbeweis einer betrieblichen Tätigkeit.

Ebenso wenig kommt die Annahme eines Wegeunfalls in Betracht. Zu den in der gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Tätigkeiten zählt gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII das Zurücklegen des mit der nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Zum Unfallzeitpunkt legte der Kläger keinen durch die Wegeunfallversicherung geschützten Weg zurück. Zum einen hat sich der geltend gemachte Unfall nicht auf dem Weg von Polen zum Betriebsgelände des Beigeladenen ereignet, vielmehr hatte der Kläger bereits seine Unterkunft bezogen, sich dort zum Schlafen hingelegt und sich damit in den unversicherten eigenwirtschaftlichen Lebensbereich begeben. Zum anderen ist auch nicht Vollbeweis nachgewiesen, dass der Kläger am 30. August 2010 bereits den Weg zur Arbeit am nächsten Morgen angetreten hatte. Wie bereits ausgeführt, gibt es keine Zeugen, die den konkreten Unfallhergang beschreiben können. Die Angaben des Klägers gegenüber der D., wonach er bereits am Abend des 30. August 2010 auf dem Gelände des Beigeladenen von einer Treppe ohne Treppengeländer gestürzt sei, sprechen gegen die Annahme eines Wegeunfalls und befinden sich im Widerspruch mit dem späteren Vortrag seines Prozessbevollmächtigten, wonach der Kläger auf dem Weg zur Arbeit verunfallt sei. Den Nachteil aus der sich hieraus ergebenden tatsächlichen Unaufklärbarkeit anspruchsbegründender Tatsachen hat nach den Regeln der objektiven Beweislast der sich auf deren Vorliegen berufende Kläger zu tragen (vgl. BSG, Urteil vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 16/15 R - juris Rdnr. 23).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz - SGG -. Danach sind auch keine außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, der keinen Antrag gestellt hat, zu erstatten.

Die Nichtzulassung der Revision beruht auf § 160 Abs. 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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