S 22 R 1119/16

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
22
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 22 R 1119/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. Der Streitwert wird auf 481.270,36 Euro festgesetzt.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen und Umlagen für den Zeitraum vom 01.01.2011 bis zum 31.12.2012 aufgrund einer Betriebsprüfung nach § 28p Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) streitig. Die Klägerin macht insbesondere geltend, der Nachforderung stehe die Bestandskraft eines Bescheides aufgrund einer vorangegangenen Betriebsprüfung entgegen.

Die Klägerin betreibt ein Bäckereiunternehmen und unterhält eine Vielzahl von Filialgeschäften.

Mit Bescheid vom 26.09.2013 forderte die Beklagte von der Klägerin nach einer vom 16.09.2013 bis 18.09.2013 durchgeführten Betriebsprüfung Sozialversicherungsbeiträge und Umlagen sowie Säumniszuschläge in Höhe von insgesamt 1.623,47 Euro nach. Gründe waren die unzutreffende versicherungsrechtliche Beurteilung zweier geringfügig Beschäftigter, dreier befristet Beschäftigter, eines Studenten und die Nichtberücksichtigung der Beitragspflicht von Geschenken.

Vom 30.03.2015 bis zum 31.03.2015 führte die Beklagte erneut eine Betriebsprüfung bei der Klägerin durch. Nach Anhörung der Klägerin mit Schreiben vom 21.12.2015, auf welche die Klägerin sich dahingehend äußerte, der beabsichtigten Nachforderung stehe für die Jahre 2011 und 2012 der Bescheid vom 26.09.2013 aufgrund der zuvor durchgeführten Betriebsprüfung entgegen, forderte die Beklagte von der Klägerin mit Bescheid vom 04.04.2016 für den Zeitraum vom 01.01.2011 bis zum 30.06.2015 Sozialversicherungsbeiträge und Umlagen in Höhe von insgesamt 832.241,48 Euro nach. Zur Begründung führte die Beklagte aus, in diversen Fällen seien Urlaubsentgelt und Lohnfortzahlung fehlerhaft ermittelt worden. In Zeiten des Erholungsurlaubes, der Arbeitsunfähigkeit und an Feiertagen bemesse sich das Arbeitsentgelt der Arbeitnehmer nach dem Lohnausfallprinzip. Zum Arbeitsentgelt gehörten insoweit auch Zuschläge und Zulagen. Solche habe die Klägerin nicht gezahlt. Da aber ein Anspruch der Arbeitnehmer hierauf bestehe, gehörten sie unabhängig von der tatsächlichen Zahlung zum beitragspflichtigen Arbeitsentgelt. Die bei der Klägerin beschäftigten Arbeitnehmer hätten in den Jahren 2011 bis 2015 durchschnittlich 20 Tage Erholungsurlaub gehabt. Es gelte eine 5-Tage-Woche. Der durchschnittliche Krankenstand werde nach Zahlen des Bundesministeriums für Gesundheit auf 3,67 % geschätzt. Die zusätzlich zu verbeitragenden Zuschläge würden daher durch Multiplikation der Summe der in den Jahren 2011 bis 2015 gezahlten Zuschläge mit dem Prozentsatz der Gesamtfehlzeiten ermittelt. Da die personenbezogenen Krankheits-, Feiertags- und Urlaubszeiten mangels entsprechender Aufzeichnungen im Prüfzeitraum nicht festgestellt werden könnten, könne die Beitragsberechnung nur im Rahmen eines Summenbescheides erfolgen. Eine Verjährung der Beitragsansprüche sei nicht eingetreten; die Verjährung sei für die Dauer der Prüfung gehemmt gewesen. Eine Bindungswirkung des Bescheides vom 26.09.2013 aufgrund der vorangegangenen Betriebsprüfung bestehe schon deshalb nicht, weil dort keine Beiträge für den nunmehr beanstandeten Sachverhalt nachgefordert worden seien.

Hiergegen erhob die Klägerin am 26.04.2016 Widerspruch. Zur Begründung wiederholte und vertiefte sie ihre bisherigen Ausführungen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 03.11.2016 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück und führte aus, eine materielle Bindungswirkung aus Vorprüfungen könne sich nur dann und soweit ergeben, als Versicherungspflicht bzw. -freiheit personenbezogen für bestimmte Zeiträume durch gesonderten Verwaltungsakt festgestellt worden seien, was vorliegend nicht der Fall gewesen sei.

Zur Begründung ihrer hiergegen am 05.12.2016 erhobenen Klage wiederholt und vertieft die Klägerin wiederum im Wesentlichen ihre bisherigen Ausführungen.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 04.04.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.11.2016 insoweit aufzuheben, als darin Beiträge für die Zeit vom 01.01.2011 bis zum 31.12.2012 nachgefordert werden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich auf die Begründung in den angefochtenen Bescheiden.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorganges der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 04.04.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.11.2016 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Beklagte fordert zu Recht Beiträge zur Sozialversicherung und Umlagen für die Zeit vom 01.01.2011 bis zum 31.12.2012 nach.

Rechtsgrundlage für den Erlass des angefochtenen Bescheides ist § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV. Danach erlassen die Träger der Rentenversicherung im Rahmen der Prüfung bei den Arbeitgebern Verwaltungsakte zur Versicherungspflicht und Beitragshöhe in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung. Nach § 28p Abs. 1 Satz 1 SGB IV erfolgt mindestens alle vier Jahre - bei Vorliegen besonderer Gründe auch - dieses Turnus - eine Prüfung, ob die Arbeitgeber ihre Pflichten, die im Zusammenhang mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag (§ 28d SGB IV) stehen, ordnungsgemäß erfüllen. Nach § 28e Abs. 1 Satz 1 SGB IV hat der Arbeitgeber den Gesamtsozialversicherungsbeitrag zu zahlen. Bei kraft Gesetzes versicherten Beschäftigten wird der Beitragsbemessung in den Zweigen der Sozialversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung insbesondere das Arbeitsentgelt aus der versicherungspflichtigen Beschäftigung zugrunde gelegt (§ 226 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch [SGB V], § 57 Abs. 1 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch [SGB XI], § 162 Nr. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VI] und § 342 Drittes Buch Sozialgesetzbuch [SGB III]). Die Mittel zur Durchführung des Ausgleichs der Arbeitgeberaufwendungen im Rahmen der Lohnfortzahlung werden durch Umlagen, die jeweils in einem Prozentsatz des Entgelts (Umlagesatz) festzusetzen sind, von den am Ausgleich beteiligten Arbeitgebern aufgebracht (§ 7 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 AAG). Die Mittel für die Zahlung des Insolvenzgeldes werden durch eine monatliche Umlage, die nach einem Prozentsatz des Arbeitsentgelts (Umlagesatz) zu erheben ist, von den Arbeitgebern aufgebracht (§ 358 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 SGB III). Arbeitsentgelt sind nach § 14 SGB IV alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden.

Hiernach hat die Beklagte zurecht Beiträge auch für die Jahre 2011 und 2012 nachgefordert. Die Kammer sieht im Wesentlichen gemäß § 136 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von einer Darstellung der Entscheidungsgründe ab und verweist auf die Ausführungen der Beklagten in den angefochtenen Bescheiden, die sie sich zu eigen macht. Lediglich ergänzend ist Folgendes auszuführen.

Der Beitragsnachforderung stehen insbesondere keine Vertrauensschutzgesichtspunkte entgegen.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat sich bereits mehrfach mit den Rechts¬folgen von Betrieb¬sprü¬fungen ausein¬an¬der¬ge¬setzt, bei denen es zunächst keine Beanstan¬dungen gab, sich jedoch später heraus¬stellte, dass die Versi¬che¬rungs- und Beitrags¬pflicht von Beschäf¬tigten vom Arbeit¬geber bereits im Prüfzeitraum unzutreffend beurteilt wurden, aber dies im Rahmen der Betrieb¬sprüfung nicht aufge¬fallen war. Diese Sachver¬halte begründen allein betrachtet keinen Vertrau¬en¬stat¬be¬stand. Sowohl Arbeit¬geber wie Arbeit-nehmer können aus vergan¬genen Betrieb¬sprü¬fungen grund¬sätzlich keine Rechte herleiten. Die Prüfbe¬hörden sind bei Arbeit¬ge¬ber¬prü¬fungen nach § 28p SGB IV selbst in kleinen Betrieben zu einer vollstän¬digen Überprüfung der versi¬che¬rungs¬recht¬lichen Verhält¬nisse aller Versi¬cherten nicht verpflichtet. Betrieb¬sprü¬fungen haben unmit¬telbar im Interesse der Versi¬che¬rungs¬träger und mittelbar im Interesse der Versi¬cherten den Zweck, die Beitrag-sen¬t¬richtung zu den einzelnen Zweigen der Sozial¬ver¬si¬cherung zu sichern. Sie sollen einer¬seits Beitrags¬aus¬fälle verhindern helfen, anderer¬seits die Versi¬che¬rungs¬träger in der Renten¬ver¬si¬cherung davor bewahren, dass aus der Annahme von Beiträgen für nicht versi¬che¬rungs¬pflichtige Personen Leistungs¬an¬sprüche entstehen. Eine über diese Kontroll-funktion hinaus¬ge¬hende Bedeutung kommt den Betrieb¬sprü¬fungen nicht zu. Sie bezwecken insbe¬sondere nicht, den Arbeit¬geber als Beitrags¬schuldner zu schützen oder ihm "Entlastung" zu erteilen (vgl. BSG, Urteil vom 18.11.2015, Az. B 12 R 7/14 R m.w.N.).

Der nachträglichen Beitragserhebung durch die Beklagte steht schließlich auch nicht das Rechtsinstitut der Verwirkung entgegen. Dieses Rechtsinstitut ist als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]) auch für das Sozialversicherungsrecht und insbesondere für die Nachforderung von Beiträgen zur Sozialversicherung für zurückliegende Zeiten anerkannt. Die Verwirkung setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung jedoch voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraumes unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalles und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen. Solche die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (BSG, Urteil vom 30.11.1978, Az. 12 RK 6/76 m.w.N.). Vorliegend fehlt es bereits an einem Verwirkungsverhalten der Beklagten.

Die Höhe der bestehenden streitigen Beitragsforderung ist von der Klägerin nicht beanstandet worden. Rechts- und Berechnungsfehler sind nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Der Streitwert richtet sich nach der streitigen Beitragsforderung für die Jahre 2011 und 2012.
Rechtskraft
Aus
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