S 3 KR 604/15

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 3 KR 604/15
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 11 KR 270/17
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Kostenerstattung für eine Behandlung mittels Liposuktion.

Die 1978 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gegen Krankheit versichert. Am 07.05.2015 beantragte sie unter Vorlage von Bescheinigungen von Dr. N und Dr. N1 bei der Beklagten die Kostenübernahme für eine Liposuktionsbehandlung an Armen und Beinen. Beide Ärzte bestätigten das Vorliegen einer Lipödemerkrankung Stadium II.

Die Beklagte schaltete den Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ein.

Dr. I (MDK) kam in der gutachterlichen Stellungnahme nach Aktenlage vom 12.05.2015 zu der Einschätzung, eine Kostenübernahme für eine Liposuktionsbehandlung könne nicht befürwortet werden.

Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 19.05.2015 ab.

Hiergegen hat die Klägerin Widerspruch eingelegt. Sie macht geltend, die medizinische Notwendigkeit der beantragten stationären Liposuktion sei erwiesen. Die komplexe physikalische Entstauungstherapie bringe eine nur kurzfristige Beschwerdelinderung.

Dr. I (MDK) kam in der Stellungnahme vom 02.07.2015 zu der Einschätzung, die von der Klägerin begehrte stationäre Behandlung sei nicht zu empfehlen. Zur Behandlung des Lipödems kämen physikalische Maßnahmen in Form einer komplexen bzw. kombinierten physikalischen Entstauungstherapie in Betracht.

Die Beklagte wies daraufhin den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 02.10.2015 als unbegründet zurück. Sie führt ergänzend aus, bei der ambulanten Liposuktion handele es sich um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode, die vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) bisher nicht positiv bewertet worden sei. Darüber hinaus stünden ausreichende konservative Behandlungsmethoden zur Verfügung. Auch für die stationäre Liposuktion könnten die Kosten mangels Wirksamkeitsnachweis nicht übernommen werden.

Am 02.11.2015 hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt. Sie führt zur Begründung aus, der GBA habe sich bisher pflichtwidrig nicht mit der Liposuktion beschäftigt, so dass ein Systemversagen anzunehmen sei.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19.05.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.10.2015 zu verurteilen, die Kosten für die beantragten Liposuktionsbehandlungen zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Sie wiederholt zur Begründung im Wesentlichen ihre Ausführungen aus dem Vorverfahren.

Das Gericht hat einen Befundbericht von Dr. N eingeholt. Er befürwortete die Durchführung einer ambulanten Liposuktionsbehandlung.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte verwiesen. Die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben.

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 19.05.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.10.2015 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG in ihren Rechten.

Der Klägerin steht kein Sachleistungsanspruch für Liposuktionsbehandlungen gegenüber der Beklagten zu.

Gemäß §§ 11 Abs. 1, 27 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) haben gesetzlich Versicherte Anspruch auf Behandlung einer Krankheit. Nach § 12 Abs. 1 SGB V muss die Behandlung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Das bei der Klägerin diagnostizierte Lipödem stellt eine behandlungsbedürftige Erkrankung dar. Eine Krankheit im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V ist ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht.

Einen Anspruch auf eine stationäre Liposuktion besteht vorliegend nicht. Nach § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V i.V.m. § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 5 SGB V haben Versicherte Anspruch auf vollstationäre Krankenhausbehandlung in einem zugelassenen Krankenhaus, wenn die Aufnahme nach einer Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann. Der Anspruch auf Krankenhausbehandlung besteht, wenn die Behandlung notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern (§ 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Qualität und Wirksamkeit der Leistung haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V). Diesen Qualitätskriterien entspricht eine Behandlung, wenn die "große Mehrheit der einschlägigen Fachleute (Ärzte, Wissenschaftler)" die Behandlungsmethode befürwortet und von einzelnen, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, über die Zweckmäßigkeit der Therapie Konsens besteht. Dies setzt im Regelfall voraus, dass über Qualität und Wirksamkeit der Methode zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden können. Der Erfolg muss sich aus wissenschaftlich einwandfrei durchgeführten Studien über die Zahl der behandelnden Fälle und die Wirksamkeit der Methode ablesen lassen. Die Therapie muss in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen erfolgreich gewesen sein. Als Basis für die Herausbildung eines Konsenses können alle international zugänglichen einschlägigen Studien dienen; in ihrer Gesamtheit kennzeichnen diese den Stand der medizinischen Erkenntnisse (vgl. BSG, Urteil vom 21.03.2013, B 3 KR 2/12 R; SozR 4-2500 § 137c Nr. 6).

Diesem Erfordernis steht auch nicht die Regelung in § 137c SGB V entgegen. Hinsichtlich der Liposuktion hat der GBA (noch) keine positive oder negative Empfehlung abgegeben. Gleichwohl folgt daraus nicht, dass für den stationären Bereich ein umfassender Leistungsanspruch entsteht. Der Anspruch auf Krankenhausbehandlung erfordert auch dann, wenn der GBA nicht über die Zulässigkeit der Behandlungsmethode im Krankenhaus entschieden hat, dass die angewandte Methode zur Zeit der Behandlung dem Qualitätsgebot des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse oder den Voraussetzungen grundrechtsorientierter Leistungsauslegung genügt. Nur insoweit entspricht der Vergütungsanspruch des Krankenhauses dem Anspruch der Versicherten auf stationäre Behandlung. Sind die praktischen Möglichkeiten erzielbarer Evidenz eingeschränkt, können sich allerdings auch die Anforderungen an das Evidenzniveau des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse vermindern (vgl. BSG, Urteil vom 17.12.2013, B 1 KR 70/12 R; SozR 4-2500 § 2 Nr. 4). Die einzige Ausnahme bildet nach § 137c Abs. 2 Satz 2 SGB V die - hier nicht einschlägige - Durchführung klinischer Studien. Behandlungen im Rahmen solcher Studien waren und sind daher zur Förderung des medizinischen Fortschritts stets zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung abrechenbar.

Zur Überzeugung der Kammer können zur Qualität und Wirksamkeit der Liposuktion im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V keine zuverlässigen, wissenschaftlich nachprüfbaren Aussagen gemacht werden. Es fehlen wissenschaftlich einwandfrei durchgeführte Studien über die Zahl der behandelten Frauen und die Wirksamkeit der Methode. Dies ergibt sich insbesondere aus dem "Gutachten Liposuktion bei Lip- und Lymphödemen" der Sozialmedizinischen Expertengruppe 7 des MDK vom 06.10.2011. Nach eingehender Recherche der einschlägigen Publikationen (unter Einschluss sowohl randomisiert kontrollierter als auch nicht randomisiert kontrollierter Studien) ist die Expertengruppe zu dem zusammenfassenden Ergebnis gelangt, dass die Methode der Liposuktion zur Therapie des Lipödems derzeit noch Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion ist und weitere randomisierte Studien erforderlich sind, um sie zu einer den Kriterien der evidenzbasierten Medizin entsprechenden Behandlungsmethode qualifizieren zu können. Evidenzbelege aus klinisch kontrollierten Studien liegen nicht vor. Dieses Grundsatzgutachten wurde zwischenzeitlich durch die Expertengruppe im Rahmen einer Recherche und Evidenzbewertung vom 15.04.2014 aktualisiert. Danach sind für die Liposuktion weiterhin die in §§ 2 und 12 SGB V definierten Anforderungen an Qualität und Wirtschaftlichkeit nicht erfüllt. Eine Liposuktion im stationären Bereich gehört damit nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (so auch: Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 27.04.2012, L 4 KR 595/11; Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 16.01.2014, L 1 KR 229/10; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16.01.2014, L 16 KR 558/13, Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 05.02.2015, L 5 KR 228/13, Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 30.08.2016, L 16/1 KR 303/15; anderer Ansicht: Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 05.02.2013, L 1 KR 391/12; alle zitiert nach www.juris.de).

Anspruch auf eine ambulant durchzuführende Liposuktion besteht ebenfalls nicht. Bei der Liposuktion handelt es sich um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode im Sinne des § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V, für die es derzeit an einer positiven Empfehlung des GBA fehlt. Eine solche positive Empfehlung ist jedoch Voraussetzung, dass neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen werden.

Ein Ausnahmefall, in dem es keiner Empfehlung des GBA bedarf, liegt im Falle der Klägerin nicht vor.

Die Erkrankung an einem Lipödem ist kein sogenannter Seltenheitsfall, bei dem eine Ausnahme von diesem Erfordernis erwogen werden könnte. Ein Seltenheitsfall liegt nach der Rechtsprechung nur dann vor, wenn es sich um eine sehr seltene Erkrankung handelt, die sich wegen ihrer Seltenheit der systematischen-wissenschaftlichen Untersuchung entzieht und für die deshalb keine wissenschaftlich auf ihre Wirkung überprüfbare Behandlungsmethode zur Verfügung steht (vgl. BSG, Urteil vom 19.10.2004, B 1 KR 27/02 R; SozR 4-2500 § 27 Nr. 1).

Ein Leistungsanspruch ergibt sich auch nicht aus einem sogenannten Systemversagen. Ungeachtet des in § 135 Abs. 1 SGB V statuierten Verbots mit Erlaubnisvorbehalt kann nach der Rechtsprechung des BSG eine Leistungspflicht der Krankenkasse ausnahmsweise dann angenommen werden, wenn die fehlende Anerkennung einer neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode darauf zurückzuführen ist, dass das Verfahren vor dem GBA trotz Erfüllung der für die Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wurde (Systemversagen). Diese Durchbrechung beruht darauf, dass in solchen Fällen die vorausgesetzte Aktualisierung der Richtlinien des GBA rechtswidrig unterblieben ist und deshalb die Möglichkeit bestehen muss, das Anwendungsverbot erforderlichenfalls auf andere Weise zu überwinden (vgl. BSG, Urteil vom 16.09.1997, 1 RK 28/95; SozR 3-2500 § 135 Nr. 4). Ein solcher Systemmangel liegt dann vor, wenn das Verfahren vor dem GBA von den antragsberechtigten Stellen bzw. dem GBA überhaupt nicht, nicht zeitgerecht oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde. Die Liposuktion wird gerade vom GBA beraten. Mit einer Entscheidung soll noch im 1. Halbjahr 2017 gerechnet werden können. Anhaltspunkte dafür, dass die Beratung verspätet erfolgte, liegen nicht vor. Insbesondere aus den Stellungnahmen der Expertengruppe 7 des MDK ergibt sich, dass (bisher) gerade noch kein Konsens unter den behandelnden Ärzten über die Wirksamkeit der Liposuktion besteht.

Ein Leistungsanspruch ergibt sich auch nicht aus § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V. Nach dieser Vorschrift können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Nach der Gesetzesbegründung (Bundesratsdrucksache 456/11, Seite 83) stellt diese Norm eine Klarstellung zum Geltungsbereich des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98; SozR 4-2500 § 27 Nr. 5) für das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung dar. Das BVerfG hat in dieser Entscheidung eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass aus dem Grundgesetz keine konkreteren krankenversicherungsrechtlichen Leistungsansprüche hergeleitet werden können, nur für lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankungen gemacht, für die eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht. Einen solchen Schweregrad erreicht die – zweifellos schmerzhafte und die Lebensqualität erheblich einschränkende- Erkrankung der Klägerin jedoch nicht. Es besteht vorliegend kein Anlass, die Rechtsgedanken der Entscheidung des BVerfG auf weitläufigere Bereiche auszudehnen, in denen der Gesetzgeber den Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung durch Schaffung besonderer Verfahren und mit besonderem Sachverstand ausgestatteter Institutionen bewusst begrenzt hat.

Die Liposuktion entspricht - jedenfalls derzeit - nicht dem Qualitäts- und Wissenschaftsgebot des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V. Daran ändert der Beschluss des GBA vom 22.05.2014 nichts, mit dem ein Beratungsverfahren zur Bewertung dieser Methode einführt wurde (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 08.04.2015, L 5 KR 81/14; zitiert nach www.juris.de).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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