S 30 LW 49/11

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
30
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 30 LW 49/11
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Der Bescheid vom 22.06.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.11.2011 wird aufgehoben.

II. Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig zwischen den Beteiligten sind das Ruhen und die Rückforderung der Altersrente des Klägers. Der Kläger ist am XX.XX. 1940 geboren. Nach Verpachtung seines landwirtschaftlichen Unternehmens an die am XX.XX. 1952 geborene C. sprach die Beklagte ihm mit Bescheid vom 16.06.2005 eine am 01.04.2005 beginnende Altersrente mit monatlich netto EUR 361,71 zu. Bei der Antragstellung am 11.02.2005 hatte der Kläger seine Kenntnisnahme von einer Vielzahl von Mitteilungspflichten unterschriftlich bestätigt. Zu melden waren hiernach u. a. die Übernahme oder Wiederübernahme land- und forstwirtschaftlich genutzter Flächen, die Aufhebung von Pachtverträgen, die Begründung einer landwirtschaftlichen Mitunternehmerstellung und eine Eheschließung. Am 10.03.2011 erhielt die Beklagte Kenntnis von der am 05.06.2007 erfolgten Eheschließung des Klägers mit der Pächterin C ... Behördenintern gelangte man im Rahmen einer nicht ganz einfachen Prüfung zu der Auffassung, dass hierdurch der Rentenanspruch ab 01.07.2007 materiellrechtlich ruhte. Am 29.03.2011 hörte die Beklagte den Kläger zu ihrer Absicht an, seine Rente ab 01.07.2007 zum Ruhen zu bringen und in einer Höhe von EUR 16.506,96 zurückzufordern. Zur materiellen Rechtslage wurde erläutert, dass die Abgabe des Unternehmens an den Ehegatten nur unschädlich sei, wenn dieser entweder unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert sei oder ein Lebensalter erreicht habe, ab dem er eine Altersrente vorzeitig in Anspruch nehmen kann bzw. (Rechtslage ab 01.03.2008) das 62. Lebensjahr vollendet hat. Beides sei bei der Ehefrau des Klägers nicht der Fall. Hierauf ließ der Kläger erwidern, er sei durch Bescheid vom 13.08.2007 mit einem führenden Leiden "Beeinträchtigung der Gehirnfunktion" (Einzel-GdB 70) als schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 mit den in den Ausweis einzutragenden Merkzeichen B und G anerkannt. Am 25.04.2011 nahm der Kläger eine erneute Abgabe seines Unternehmens vor. Am 22.06.2011 erließ die Beklagte den angekündigten Bescheid und stützte ihn auf § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 und 4 Sozialgesetzbuch X (SGB X). Der Kläger habe seine Pflicht zur Mitteilung der wesentlichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse in Gestalt der Eheschließung mit seiner Pächterin verletzt und Kenntnis von der Rentenschädlichkeit seiner Heirat gehabt. Für die Zeit vom 01.07.2007 bis 30.04.2011 wurde eine Überzahlung von EUR 15.633,88 zurückgefordert. Mit seinem Widerspruch hiergegen trug der Kläger vor, er sei durch seine Heirat Ehegatte einer Landwirtin geworden. Die Abgabe seines Unternehmens nach § 21 Abs. 9 S. 3 des Gesetzes über die Alterssicherung der Landwirte (ALG) sei weiterhin als erfüllt anzusehen. Er sei des weiteren unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert, so dass durch die Eheschließung kein Tatbestand eingetreten sei, der zu einem Ruhen der Altersrente führt. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 23.11.2011 zurückgewiesen. Der Widerspruchsbescheid erläuterte in materiellrechtlicher Hinsicht: Übernimmt ein Empfänger einer Rente ein oder mehrere Unternehmen der Landwirtschaft oder Unternehmensteile, deren Wirtschaftwert allein oder zusammen mit demjenigen nicht abgegebener Unternehmensteils die Grenzwerte nach § 21 Abs. 7 überschreitet, wird er Mitunternehmer eines Unternehmens der Landwirtschaft, Gesellschafter einer Personen-handelsgesellschaft oder Mitglied einer juristischen Person, die ein Unternehmen der Landwirtschaft im Sinne des § 1 Abs. 2 betreibt, oder endet die Abgabe nach § 21 Abs. 2 und 4 vor Ablauf von neun Jahren, wobei Zeiten einer vorhergehenden Abgabe nach § 21 Abs. 2 oder 4 berücksichtigt werden, ruht der Anspruch auf die Rente vom Beginn des folgenden Kalendermonats an (§ 30 Abs. 2 ALG).

Darüber hinaus hat die Rechtsprechung den allgemeinen Grundsatz entwickelt, dass derjenige, der sein Unternehmen abgegeben hat keinen Anspruch auf Altersrente hat, wenn und solange sein früheres Unternehmen von seinem Ehegatten bewirtschaftet wird (Urteil des BSG vom 17.01.1973, Az: 11 RLw 1/72 und vom 24.08.1971, SozR Bd. 10 Nr. 7 zu § 2 GAL 1965).

Aus diesem Grund ist es schädlich, wenn ein Ehegatte den landwirtschaftlichen Betrieb des Abgebenden bewirtschaftet. Dieser Rechtsgedanke wurde zwar durch das ALG aufgeweicht, allerdings liegt, wie bereits im Bescheid vom 22.06.2011 ausgeführt, weder im Zeitpunkt der Eheschließung noch nach der Rechtsänderung zum 01.03.2008 eine zulässige Ehegattenabgabe i.S.d. § 21 Abs. 9 ALG vor.

Zum Zeitpunkt der Eheschließung Ihres Mandanten am 05.06.2007 hatte die Ehefrau Ihres Mandanten das 62. Lebensjahr noch nicht vollendet. Mit Rechtsänderung zum 01.03.2008 hätte die Ehefrau Ihres Mandanten das 55. Lebensjahr erreicht, jedoch war der Pachtvertrag zu diesem Zeitpunkt zu kurz abgeschlossen. Mit Pachtvertrag vom 25.04.2011 wurde die Pachtdauer mit der Laufzeit vom 01.03.2005 bis 30.04.2020 vereinbart. Somit sind die Voraussetzungen für die Gewährung der Altersrente ab dem 01.05.2011 wieder erfüllt.

Auf die Pflicht zur Mitteilung einer Eheschließung wurde Ihr Mandant in den Hinweisen des Rentenbescheides vom 16.06.2005 sowie bei allen Rentenanpassungsmitteilungen hingewiesen.

Hiergegen richtet sich die Klage. In einem Termin zur mündlichen Verhandlung am 08.03.2012 gab der Vorsitzende zu bedenken, dass abgesehen von einer materiell nicht ganz einfachen Lage zur Prüfung des § 48 SGB X noch die Handlungsfähigkeit und der Überblick des Klägers 2007 überprüft werden müssten. Entsprechend dem Einvernehmen zwischen Gericht und Beteiligten wurde der Rechtsstreit zwecks Ermittlungen in gesund-heitlicher Hinsicht vertagt. Die Beklagte gab dem Gericht noch die dem Rentenbescheid und den jährlichen Rentenanpassungsmitteilung beigefügten Hinweise über Mitwirkungs- und Meldepflichten zur Kenntnis. Dem Kläger habe ohne weitere Überlegungen klar sein müssen, dass er seine Eheschließung der Beklagten habe mitteilen müssen. Wenn er 2007 hierzu nicht in der Lage gewesen sein solle, stelle sich die Frage, wie er am 05.06.2007 eine rechtsgültige Ehe schließen konnte. Mit der bloßen Übersendung der Heiratsurkunde hätte er auch sei-ne Ehefrau beauftragen können. Das Gericht ernannte den Nervenarzt und Psychotherapeuten Dr. D ... zum Sachverständigen und ersuchte ihn um ein Gutachten zu der Frage, ob der Kläger zwischen Juni 2007 und März 2011 fähig war, in Erinnerung an den Schriftwechsel bei der Rentenantragstellung 2005 die Bedeutsamkeit seiner Eheschließung für seinen Rentenanspruch zu erkennen und die Beklagte zeitnah und sachgemäß zu informieren. Das Gutachten wurde am 18.10.2012 erstellt. Der Sachverständige rekapituliert die Krankheits- und Behandlungsgeschichte des Klägers nach einer am 12.12.2006 erlittenen bihemisphärischen Ischiämie kurz nach einer dreifach-aortocoronaren Bypassoperation vom 07.12.2006. Anamnestisch berichtete der Kläger über einen Schlaganfall mit anschließendem Koma über eine Woche. Er habe anschließend lange Zeit wirre Dinge geredet und allerlei Unfug gesprochen. Er berichtete über eine verminderte psychische Belastbarkeit. Die Alltagsgestaltung wurde als reduziert geschildert. An der Pflege des landwirtschaftlichen Betriebes 15 km vom Wohnort entfernt könne der Kläger sich nicht beteiligen. Soziale Außenkontakte seien auf gelegentliche Treffen mit Freunden beschränkt, gelegenheitsweise mit Kartenspielen. (In der mündlichen Verhandlung teilte der Kläger auf Frage des Beklagtenvertreters mit, dass es sich nicht um das intellektuell anspruchsvolle Schafkopfen handelt, sondern um Wat-ten.) Zur Frage seines Überblicks über rechtlich relevante Angelegenheiten bekundete der Kläger, er habe überhaupt nicht an verwaltungsmäßige oder gar juristische Belange denken können und verstünde auch die Vorgänge in den prozessualen Auseinandersetzungen nicht eigentlich. In der Beschreibung des psychopathologischen Befundes gelangt der Sachverständige zu einer sehr drastischen Schilderung: Im Hinblick auf die kognitiven Basisfunktionen erscheinen das Konzentrationsvermögen, die Aufmerksamkeitsfokussierung sowie das Durchhaltevermögen und die Viliganz deutlich beeinträchtigt. Die Behaltensleistungen sind in allen Zeitebenen brüchig, im Hinblick auf die exekutiven Funktionen ist der Patient bezüglich Handlungsplanung, Handlungsdurchführung oder Suche nach alternativen Lösungen deutlich beeinträchtigt, ebenso in der intellektuellen Flexibilität , insbesondere bei Gleichzeitigkeit von Anforderungen.

Im Weiteren bestehen vielfältige vegetative Krisen und deutliche biorhythmische Schwan-kungen. Die Kritikfunktionen sind im Hinblick auf Selbstkritik entlang brüchiger Selbsteinschätzung und Selbstwahrnehmung, ferner auch im Hinblick auf Situationskritik deutlich beeinträchtigt. Zu den bevorzugten Abwehrmechanismen gehören Verdrängen, Verneinen, Idealisieren, Somatisieren, und Isolieren. Im Weiteren bietet der Patient Zeichen für massives Insuffizienzerleben und Insuffizienzgefühle bei rascher Erschöpfbarkeit. Es finden sich keine Zeichen einer Übernachhaltigkeit der Symptomdarstellung, insbe-sondere keine Anzeichen der Dissimulation und Aggravation der Beschwerdebildung. Der Patient ist bei der Erarbeitung von Befunden und gesamter Anamnese sehr bemüht und detailorientiert, allerdings mit deutlicher Verlangsamung und Zeichen einer psychischen und physiologischen Überanstrengung.

Nach einer Diagnostik mit hirnorganischen Schwerpunkten und einer Zusammenfassung des Verlaufs liefert Dr. D. folgende Bilanz:

Umso dramatischer kippte der Lebensentwurf des Patienten entlang des lebensbedrohlichen Infarktsyndroms vom 05.12.2006 mit tragischer perioperativer Komplikation, mit bihemisphärischem Infarkt und den oben beschriebenen akuten und überdauernden an-haltenden Veränderungen. In der Folge bot der Patient nicht nur ein psychotisches Durchgangssyndrom, sondern wesentliche Störungen der Verarbeitung seines gesamten beeinträchtigenden polymorbiden Zustandsbildes entlang der organisch begründeten psychischen Veränderungen einerseits und psychoreaktiven Verarbeitungsfähigkeiten andererseits. Zu den typischen Veränderungen auf dieser Ebene gehören die mittlerweile zu verzeichnenden deutlichen Beeinträchtigungen in den zwischenmenschlichen, aber vor allem auch in den sozialen und familiären Beziehungen mit der Selbstentfremdung, der Einschränkung in der emotionalen und intentionalen Zielsetzung sowie der gesamten Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit sowohl im lebenspraktischen Alltag, aber auch in den Aspekten von Familie und Freizeit mit deutlicher Reduktion der Planungsfähigkeit, der Einschätzung von Folgen persönlichen und sozialen Handelns, der Selbst- und Situationskritik sowie des vorausschauenden Planens und Handelns insbesondere auch bei Überfrachtungen durch Gleichzeitigkeiten von Abläufen. Auf dem Hintergrund dieser komplexen Polymorbidität wird die Beweisfrage gemäß dem Antrag des Gerichtes vom 18.06.2012 in der Zusammenfassung beantwortet wie folgt:

Der Patient war zwischen Juni 2007 und März 2011 in Erinnerung an den Schrift-wechsel bei der Rentenantragstellung 2005 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage, die Bedeutsamkeit seiner Eheschließung für seinen Rechtsanspruch zu erkennen und die Beklagte zeitnah und sachgemäß zu informieren.

Die Beklagte gab hiergegen zu bedenken, dass der Kläger zeitnah nach der Eheschließung vom 05.06.2007 im Rahmen der Rentenanpassungsmitteilung vom 16.06.2007 über seine Mitwirkungs- und Meldepflichten informiert worden sei. Entsprechende Mitteilungen seien am 14.06.2008 und 19.06.2009 ergangen. Selbst wenn man Dr. D. dahingehend folge, dass in Erinnerung an den Schriftwechsel des Jahres 2005 der Kläger vermutlich nicht in der Lage war, die Bedeutsamkeit seiner Eheschließung für den Rentenanspruch zu erkennen, so habe der Kläger spätestens nach Zustellung der Rentenanpassungsmitteilung im Juni 2007 diese Bedeutsamkeit erkennen müssen. Die Beklagte regte an, die Frage, ob der Kläger fähig war, die Bedeutsamkeit der Eheschließung aufgrund der seitens der Beklagten unmittelbar nach der Eheschließung zugesandten Mitwirkungs- und Meldepflichten hätte erkennen müssen, über den Gutachter Dr. D. zu klären.

Der Kläger beantragt die Aufhebung des Bescheides vom 22.06.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.11.2011.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat die Akten der Beklagten und des Zentrums Bayern für Familie und Soziales (Schwerbehindertenakte) beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte sowie auf den gesamten Akteninhalt verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsver-fahrens form- und fristgerecht beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig. Die Klage ist in der Sache auch begründet. Diese Erkenntnis ergibt sich nicht aus der Würdigung der materiellen Rechtslage, die von der Beklagten zutreffend beurteilt wurde. Der Kläger wurde durch die Eheschließung mit der Pächterin seines landwirtschaftlichen Unternehmens Mitunternehmer im Sinne von § 1 Abs. 2 S. 1 ALG. Daher kommt es auf die beim Ehegatten eines Landwirts nach § 1 Abs. 3 ALG für den Ausschluss der Versi-cherungspflicht relevante Erwerbsminderung des Klägers nicht an. Von daher hat die Beklagte korrekt die Rechtsfolge aus § Abs. 2 S. 1 ALG festgestellt, wonach die Rente eines Versicherten vom Beginn des folgenden Kalendermonats an ruht, wenn er Mitunternehmer eines Unternehmens der Landwirtschaft wird. Der Kläger ist am 05.06.2007 wieder landwirtschaftlicher Unternehmer geworden, indem er die Pächterin seines landwirtschaftlichen Unternehmens heiratete. Bei gemeinsamer Unternehmereigenschaft kommt es nicht darauf an, ob und in welchem Umfange einzelne Miteigentümer oder Gesellschafter landwirtschaftliche Arbeiten etwa gar körperlicher Art ausüben und in welchem Maße sie auf unternehmerische Entscheidungen Einfluss nehmen. Als Beispiele seien erwähnt Erbengemeinschaften, bei denen selbstverständlich nicht unterstellt wird, dass sämtliche Mitglieder jeden Alters, Geschlechts und Gesundheitszustandes mit Traktor, Melkmaschine und Motorsäge aktiv werden und bei denen trotzdem eine gemeinsame Unternehmereigenschaft unabweisbar anzunehmen ist. Verfahrensrechtlich hat die Beklagte zutreffend die Anwendbarkeit von § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 und 4 SGB X geprüft. Tatbestandsmäßig hat der Kläger zweifellos die ihm zur Kenntnis gebrachten und auch aus dem Zusammenhang der Rentengewährung heraus ohnehin naheliegenden Mitteilungspflichten verletzt. Eine Eheschließung musste er auf jeden Fall mitteilen, gleichgültig ob seine Frau in irgendeiner Weise mit Eigentum oder Unternehmensführung in Land- oder Forstwirtschaft befasst war. Fraglich musste dem Gericht allerdings erscheinen, ob der Kläger subjektiv in der Lage war, seine Mitwirkungspflichten zu erkennen und zu erfüllen. Rechtsprechung und Literatur zu § 45 und § 48 SGB X haben sich bislang kaum je mit der Frage der persönlichen Schuld bei der Unterlassung notwendiger Mitteilungen beschäftigt. Anerkannt ist, dass im Gegensatz zum Strafrecht ein objektivierter Verschuldensmaßstab gilt. Maßgeblich kann nicht sein, ob der Empfänger eines Bescheides die oftmals sehr ausführlichen und unübersichtlichen Zusätze und Merkblätter gelesen hat und in welchem Maße er in Abhängigkeit von Bildungsgrad und beruflichen Gewohnheiten in der Rezeption von Texten routiniert ist. Zur Verletzung von Mitwirkungspflichten genügt es bereits, das "Kleingedruckte" nicht gelesen zu haben, auch wenn Einigkeit darüber besteht, dass die geforderte voll-ständige Lektüre sogar von der breiten Mehrheit aus Gründen der Bequemlichkeit vernachlässigt wird. Vorliegend war jedoch dem Verdacht nachzugehen, dass der Kläger mental in ganz spezieller Weise daran gehindert war, einen Zusammenhang zwischen seiner Eheschließung und seinen Pflichten gegenüber der Beklagten zu erkennen. Das zur Abklärung dieses Verdachts eingeholte Sachverständigengutachten hat mit einer sogar überraschenden Deutlichkeit belegt, dass der Kläger 2007 nicht in der Lage war, die Aktualität seiner Eheschließung mit der Erinnerung an die Mitteilungspflichten rational zu kombinieren. Der Ausschluss eines ausreichenden Überblicks wird nicht durch die Tatsache der Eheschließung an sich widerlegt. Die Heirat ist ein im formalen Ablauf einfacher Vorgang, der trotz seines Rechtscharakters weit mehr die emotionale Handlungs- und Erlebnisfähigkeit anspricht als die rationalen Kompetenzen. Unter den gesundheitlich gegebenen Umständen darf man annehmen, dass der Kläger seine Ehe nicht vor dem Hintergrund einer souveränen Lebensplanung unter Beachtung beispielsweise steuer- und erbrechtlicher Aspekte geschlossen hat, sondern ganz wesentlich mit dem Motiv einer hohen Schutzbe-dürftigkeit. Kein wesentlich abweichender Aspekt ergibt sich durch die von der Beklagten geforderte Berücksichtigung der Rentenanpassungsmitteilungen nach 2007. Dr. D. dokumentiert nämlich auch für die Zeit nach dem Juni 2007 keine signifikante Verbesserung der rationalen Kompetenzen des Klägers. Insofern war es entbehrlich, Dr. D. nochmals wegen einer Reaktionsfähigkeit des Klägers nach Erhalt der Rentenanpassungsmitteilungen zu befragen. Nach den Begutachtungsergebnissen und dem vom Kläger auch im Gericht präsentierten persönlichen Zustand kann eine Vorwerfbarkeit im Sinne von § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB X nicht mehr in dem Maße angenommen werden, das mit Blick auf den Sanktionscharakter der Vorschrift gefordert werden muss. Aus denselben Gründen resultiert auch, dass der Kläger im Juni 2007 und zu jedem Zeitpunkt danach nicht mehr eine abrufbare und in eine konkrete Reaktion überführbare Kenntnis von der Rentenschädlichkeit einer Heirat i.S.d. § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 hatte. Wegen seiner verwaltungsrechtlichen Schuldunfähigkeit kann ihm auch insoweit keine grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden. Das Gericht lässt keinen Zweifel daran, dass eine Verschonung vor den Konsequenzen der verfahrensrechtlichen Korrekturvorschriften §§ 45 und 48 SGB X aus Gründen der persönlichen Schuldfähigkeit eine Ausnahme bleibt. Das Gericht stützt sich auf die insoweit geradezu dramatischen Aussagen von Dr. D ... Schon bei auch nur etwas differenzierteren Begutachtungsergebnissen bezüglich Überblick und Handlungsfähigkeit des Klägers wäre allenfalls eine ihn finanziell teilweise entlastende Ermessensentscheidung wegen Annahme eines atypischen Falles einzuräumen gewesen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Rechtskraft
Aus
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