S 30 R 150/13

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
30
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 30 R 150/13
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 14 R 1114/14
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 31.10.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2013 wird abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig zwischen den Beteiligten ist eine Rente wegen Erwerbsminderung. Der Kläger ist geboren in der Türkei am XX.XX.1955. Er arbeitete lange Zeit im Motorenbau bei A-Firma. Seinen ersten Rentenantrag stellte er am 10.09.2012. Die Beklagte lehnte eine Rentenzahlung ab, weil der Kläger zu Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im Umfang von täglich bis zu sechs Stunden fähig sei, obwohl er unter folgen-den Gesundheitsstörungen leide: - lumbales Wurzelreizsyndrom, - Protrusionscoxarthrose beidseits.

Nach Erhebung der Klage wurde zunächst das bislang versäumte Widerspruchsverfahren nachgeholt. Sodann eröffnete das Gericht die Beweiserhebung mit der Anforderung von Befundberichten der behandelnden Ärzte C. und Dr. D ... Im Hinblick auf die Breite der dokumentierten Beschwerdebilder ernannte das Gericht den Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. E. zum medizinischen Sachverständigen und beauftragte ihn mit der Fertigung eines Gutachtens über Gesundheitszustand und berufliches Leistungsvermögen des Klägers. Am 23.07.2013 wurde das Gutachten erstellt. Es zitiert den Kläger mit einer Lebensgeschichte, in der als besonders tragisches Ereignis der Unfalltod eines von vier Söhnen des Klägers 2001 hervorgehoben wird. Die Beschwerdeschilderung legte besondere Akzente auf einen hohen Blutdruck, einen Hörsturz 2011, Kopfschmerzen sowie Schmerzen in der rechten Schulter, im Rücken und im rechten Knie. Dr. E. gelangt nach Auswertung des Aktenmaterials, Beschwerde- und Anamneseerhebung und fachbezogener Untersuchung des Klägers zu folgenden Diagnosen:
- arterieller Hypertonus, - Diabetes mellitus, - ACE-Hemmer-Unverträglichkeit, - Pollinosis, - Zustand nach Hörsturz Juni 2011 linksseitig mit Hörminderung links, - Chondropathia patellae rechts, - Protrusionscoxarthrose beidseits, - degenerative Veränderung der LWS, - Teilblockade Iliosacralgelenk links, - muskuläre Dysbalance, - Zustand nach Oberarm- und Schulterverletzung (Wegeunfall) rechtsseitig mit ein-geschränkter Bewegungsfähigkeit im rechten Schultergelenk, - Zustand nach Oberarmfraktur, - Migränoide Cephalgie, - Anpassungsstörungen mit depressiver Komponente.

Dennoch erkannte der Sachverständige eine Befähigung des Klägers zu täglich sechs-stündigen Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes überwiegend in geschlossenen Räumen unter Ausschluss von körperlicher Sonderanforderungen und besonderen geistig-seelischen Belastungen. Zur Verbesserung der Lebensqualität empfahl er eine stationäre Heilmaßnahme. Außerdem empfahl er eine neurologische-psychiatrische Begutachtung des Klägers. Damit konfrontiert ordnete das Gericht die Einholung eines Gutachtens von der Neurologin und Psychiaterin Frau Dr. F. zu den bereits für Dr. E. gültigen Fragestellungen an. In ihrem Gutachten vom 06.02.2014 zitiert die Sachverständige eine Beschwerdeschilderung weiterhin mit einer erschwerten Verarbeitung des Unfalltodes des Sohnes 2001. Der Kläger sei hierauf fixiert, habe insoweit aber nie eine psychiatrische Behandlung in Anspruch genommen. Der Kläger berichtete von ständiger Unruhe, sieht sich nicht in der Lage, schwer zu heben, leidet einmal pro Monat an Kopfschmerz und ansonsten über Lendenwirbelsäulenbeschwerden bei längerem Sitzen. In einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Gutachten von Dr. E. schließt die Nervenärztin eine tiefergehende Depression aus. Sie begründete insoweit einen Widerspruch zu Dr. E., der allerdings insoweit auch nicht mehr als eine depressive Komponente mitgeteilt hatte. Die Gutachterin diagnostizierte:
1. Leichtes Carpaltunnelsyndrom rechts,
2. Lumbale Radiculopathie links,
3. Ausschluss einer krankheitswertigen psychischen Symptomatik.

Das Leistungsvermögen des Klägers begrenzte sie in zeitlicher Hinsicht nicht und in qualitativer Hinsicht nur mit dem schon von Dr. E. definierten Ausschluss erhöhter Anforderungen an Stressbelastung und Konfliktfähigkeit. Daraufhin beantragte der Kläger die Einholung eines selbst vorfinanzierten Gutachtens im Verfahren nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den selbst benannten Psychiater und Psychotherapeuten Prof. Dr. H ... Das erbetene Gutachten wurde am 05.06.2014 verfasst. Die Beschwerdeschilderung des Klägers weicht von derjenigen in den Vorgutachten etwas ab. Die Kopfschmerzen werden jetzt mit drei- bis viermal in der Woche angegeben, allerdings mit einer Dauer von nur 10-15 Minuten. Schmerzen werden des Weiteren im Kreuz, in der rechten Schulter, im rechten Oberarm, im rechten Knie und in beiden Händen angegeben. Zu seiner psychischen Situation berichtete der Kläger über eine schwankende Stimmung, er sei "mal depressiv, mal ausgeglichen". Freude mache ihm die Fußballübertragung im Fernsehen insbesondere bei Spielen von "Bayern G-Stadt", der Besuch seiner Enkel und das Zusammensein mit seinen Freunden. An seinen gewohnten Interessen habe sich nichts geändert.

Die Energie und der Antrieb seien jedoch nicht mehr so wie früher. Auch berichtete er über Schlafstörungen. Immer wieder müsse er an seinen Sohn denken und grüble über das Unfallereignis nach. Lebensüberdruss oder Suizidgedanken wurden verneint. Der Kläger berichtete von einer Lebenssituation mit Frau und zwei Söhnen in einer Doppelhaushälfte, mit einem sehr strukturierten Alltag und wöchentlich bis zu vier Treffen mit etwa zwei dutzend türkischstämmigen Freunden im Zusammenhang mit Gebet und Moscheebesuch. Der Kläger verbringt jedes Jahr drei Monate in der Türkei. Das Gutachten gelangt nach Untersuchung des Klägers entsprechend den Erfordernissen des Fachgebiets und Auswertung des Akteninhalts zu den Diagnosen:
1. episodischer Spannungskopfschmerz leicht,
2. Karpaltunnelsyndrom beiderseits leicht,
3. Schulter-Arm-Syndrom rechts leicht,
4. Lendenwirbelsäulensyndrom leicht,
5. Hüftsyndrom beiderseits leicht,
6. Kniesyndrom leicht,
7. chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren mittelgradig,
8. Dysthymie leicht,
9. Hypertonie leicht,
10. Diabetes leicht,
11. Schwerhörigkeit links leicht.

Sodann tritt das Gutachten in eine intensive Auseinandersetzung mit den Diagnosen der Vorgutachter ein. In psychischer Hinsicht wird ein Konsens mit den Vorgutachten dahin-gehend bestätigt, dass es sich beim Kläger um keine schwerwiegende seelische Erkrankung handelt. Frau Dr. F. könne jedoch nicht zugestimmt werden, wenn sie den von Pro-banden mitgeteilten Befindlichkeitsstörungen jeden Krankheitswert abspreche. Richtig sei vielmehr, dass der Proband auch heute noch am Tod seines Sohnes und den daraus resultierenden psychischen Veränderungen leidet. Prof. Dr. H. liefert sodann folgende Hypothese über den Zusammenhang zwischen Krankheiten und zeitlichen Leistungseinschränkungen: "Während bei einer lediglich leicht ausgeprägten Störung mit keiner quantitativen Einschränkung der Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu rechnen ist, wird man bei einer bereits schwer ausgeprägten Gesundheitsstörung davon ausgehen müssen, dass das erwerbsbezogene Leistungsvermögen aufgehoben ist, das heißt, dass keine regelmäßige Erwerbstätigkeit von mindestens 3 Stunden mehr möglich ist. Bei einem mittleren Schweregrad der Gesundheitsstörung ist es gerechtfertigt, die Hypothese eines auf 3 bis unter 6 Stunden reduzierten Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu formulieren." Auf dieser Basis schätzte er das Leistungsvermögen des Klägers mit drei bis unter sechs Stunden ein. Die Beklagte sah sich nicht in der Lage, auf dieser Basis ein Vergleichsangebot abzugeben.

Der Kläger beantragt, Die Beklagte wird dazu verurteilt, die Bescheide vom 31.10.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2013 so wie den Bescheid vom 16.08.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.01.2013 dahingehend abzuändern, dass dem Kläger Rente nach den gesetzlichen Bestimmungen gewährt wird.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat die Akten der Beklagten beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte sowie auf den gesamten Akteninhalt verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsver-fahrens form- und fristgerecht beim zuständigen Gericht erhoben. Zulässig ist sie nur, weil das Gericht in wohlwollender sachgerechter Interpretation des Klageantrags zunächst den Bescheid vom 16.08.2012 und den Widerspruchsbescheid vom 02.01.2013 zur Thematik eines Eingliederungszuschusses aus dem Streitgegenstand ausgrenzt und sodann die Verpflichtungsklage gegen die Beklagte auf Abänderung angegriffener Bescheide als eine kombinierte Anfechtungsklage gegen diese Bescheide und Leistungsklage auf Zusprache der begehrten Rente interpretiert, wie sie von § 54 Abs. 4 SGG als kombinierte Anfechtungs-und Leistungsklage vorgesehen wird. Die Klage ist jedoch in der Sache nicht begründet. Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch VI (SGB VI) und der hierzu ergangenen Rechtsprechung kommt für den Kläger ein Rentenanspruch wegen teilweiser Erwerbsminderung nicht in Betracht, wenn er einen Restbestand auch leichter und einfacher Tätigkeiten im Bereich des allgemeinen Arbeitsmarktes täglich sechs Stunden ausüben kann. Diese Einsetzbarkeit ist für den Kläger von medizinischer Seite überdeutlich nachgewiesen.

Bereits das allgemeinärztliche Gutachten hat sehr anschaulich dargestellt, dass der bei Antragstellung fast 57jährige Kläger unter degenerativen Schäden seines Stütz- und Bewegungsapparates sowie unter einigen wenig dramatischen psychosomatischen Problemen leidet. Hierin sind Elemente einer Schmerzerkrankung erkennbar, die jedoch keine dramatischen Ausmaße oder Chronifizierungsgrade aufweist. Zutreffend hat Dr. E. die tiefernste mentale Beschäftigung des Klägers mit dem Unfalltod seines Sohnes nicht in eine schwer krankheitswertige Depression umgedeutet. Eine solche Diagnose ließe sich keinesfalls aus der Schwere des auslösenden Ereignisses ableiten, sondern nur aus einer vorliegend offenkundig fehlenden breiten aktuellen Symptomatik insbesondere mit Elementen des Antriebsverlustes, des sozialen Rückzuges, der mindestens tendenziellen Suizidalität, der Vernachlässigung eigener vitaler Belange und erkennbaren kommunikativen Defiziten. Die nervenärztliche Sachverständige Dr. F. hat noch deutlicher die Vorstellung einer tiefergehenden seelischen Erkrankung des Klägers infolge des tragischen Verlustes seines Sohnes widerlegt. Für die Rechtsfindung im Ergebnis unergiebig bleibt das Gutachten von Prof. Dr. H ... Seine überaus sorgfältige Erfassung und Bewertung des vom Kläger präsentierten Sachverhaltes steht im völligen Widerspruch zu seiner Beantwortung der zentralen Beweisfrage nach dem täglichen zeitlichen Leistungsvermögen des Klägers. Die von ihm erhobene Beschwerdeschilderung relativiert deutlich einen vorstellbaren höheren Schweregrad der Kopfschmerzen, wenn die entsprechenden Anfälle nur 10-15 Minuten dauern. Der ausführlich mitgeteilte sehr strukturierte Alltag des Klägers mit familiärer Integration, aktiver religiöser Orientierung und einem großen landsmännischen Freundeskreis widerlegt noch klarer deutlicher als von Dr. E. und Dr. F. herausgearbeitet den Verdacht einer Depression oder einer auch nur mittelgradigen Dysthymie. Bei nahezu allen Diagnosen bringt Prof. Dr. H. den Zusatz "leicht" an. Seine Hypothese einer linearen zeitlichen Absenkung des Leistungsvermögens nach dem Maßstab von leichter, mittlerer und schwerer Ausprägung von Krankheiten steht im Widerspruch zu sämtlichen anerkannten Maßstäben der rentenrechtlichen Sozialmedizin. Eine zeitliche Einschränkung des täglichen Leistungsvermögens ergibt sich niemals aus Diagnosen, sondern muss stets mit Funktionseinschränkungen belegt werden, die sich aus den diagnostizierten Krankheiten oder Behinderungen ergeben. Dies gilt sogar für so schwere Krankheiten wie einer chronische entzündliche Darmerkrankung, einer rheumathoiden Arthritis, einem schwer einstellbaren Diabetes mellitus, einer deutliche Herzleistungsminderung oder einem fortgeschrittenen Nierenversagen, die allesamt im Einzelfall eine Leistungserbringung an einem leidensgerechten Arbeitsplatz nicht grundsätzlich ausschließen.

Erst recht können Krankheiten, die vom Gutachter fast durchwegs als leicht und nur in einem Falle als mittelschwer eingeschätzt werden, nicht in ihrer Summierung zu einer zeitlichen Begrenzung des Arbeitstages führen. Eine solche Begrenzung muss immer mit dem sorgfältigen Nachweis begründet werden, welche Schmerzzunahme, Überanstrengung, Ermüdung oder Kreislaufdekompensation nach zwei oder vier Stunden die Leistungsfähigkeit erlöschen lässt (oder welche unüberwindbaren körperlichen oder seelischen Hindernisse bereits den morgendlichen Antritt zur Arbeit unmöglich machen). Der Kläger ist ein fleißiger und lebenskluger Mann mit gefestigter Orientierung auf berufliche Leistung, Familie und Religion. Die weitere Erzielung wirtschaftlichen Erfolges und persönlicher Selbstbestätigung durch den Beruf wird ihm nicht durch spezielle Krankheiten unmöglich gemacht, sondern durch alterstypische degenerative Entwicklungen, die der schweren Fabrikarbeit nicht nur bei ihm im sechsten Lebensjahrzehnt Grenzen setzen. Hinsichtlich der fortdauernden Trauer um den verunglückten Sohn täte man dem Kläger keinen Gefallen, wenn man ihn mit lediglich taktischen Vorteilen im Rentenprozess in eine krankheitswertige Depression hineindefinieren wollte. Die Trauer des Klägers ist verständlich und zeigt weder Elemente von Theatralik noch von krankheitswertiger Fehlverarbeitung. Nach alledem muss die Problematik des Klägers auf eine solche des Arbeitsmarktes zurückgeführt werden, der für ältere ungelernte Kräfte mit mangelnder sprachlicher Integration seit jeher nur noch schlechte Chancen bietet. Da für den Kläger ein sechsstündiges Leistungsvermögen nachgewiesen und damit die Zusprache einer teilweisen Erwerbsminderung ausgeschlossen ist, kommt die Anerkennung einer vollen Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI wegen Absinkens der regelmäßigen täglichen Einsetzbarkeit auf weniger als drei Stunden erst recht nicht in Betracht. Weil der Kläger keinen Facharbeiterberuf gelernt und ausgeübt hat, scheidet die Anerkennung einer Berufsunfähigkeit wegen entfallener Einsetzbarkeit in ausreichend qualifizierten Berufsfeldern und der nach § 240 Abs. 1 und 2 SGB VI hieraus resultierende Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung aus. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Rechtskraft
Aus
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