Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
2
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 15 AS 284/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 2 B 62/06 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende entscheidet, erstreckt sich nicht auf Bescheide über die Aufhebung einer Leistungsbewilligung für die Vergangenheit und die Festsetzung der daraus resultierenden Erstattung
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Klägerin bezieht seit dem 1. Januar 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II).
Mit einem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 25. Oktober 2005 hob die Antragsgegnerin die vorangegangenen Leistungsbewilligungen für den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 30. Juni 2005 teilweise auf und forderte einen Betrag in Höhe von 1.290,71 EUR zurück. Zur Begründung gab sie an, das Unterhaltszahlungen für den Sohn der Antragstellerin und erzieltes Nebeneinkommen hätten angerechnet werden müssen. In einem am 14. November 2005 bei der Beklagten eingegangenen Widerspruch berief sich die Antragstellerin auf formelle Fehler im Verwaltungsverfahren und auf Vertrauensschutz. Die Antragsgegnerin wies den Widerspruch mit Widerspruchbescheid vom 17. Januar 2006 zurück und führte zur Begründung u. a. aus, die Antragstellerin könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen; sie habe die Rechtswidrigkeit der zu hohen Leistungsbewilligung erkennen müssen. Die Rechtsgrundlage für die Aufhebung ergebe sich aus § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X). Gegen diesen Widerspruchsbescheid erhob die Antragstellerin am 31. Januar 2006 beim Sozialgericht Halle Klage (Aktenzeichen S 15 AS 174/06).
Mit einem am 16. Februar 2006 beim Sozialgericht eingegangenen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hat sich die Antragstellerin gegen eine sofortige Vollziehung des angefochtenen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides gewandt. Das Sozialgericht Halle hat dem Antrag mit Beschluss vom 23. Februar 2006 stattgegeben und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 25. Oktober 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Januar 2006 festgestellt, "soweit sie die Erstattung in Höhe von 1.290,71 EUR betrifft". In den Gründen hat das Sozialgericht ausgeführt: Der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage im § 39 SGB II beziehe sich nur auf Entscheidungen über laufenden Leistungen. Die Entscheidung über eine Erstattung sei keine Entscheidung über eine Leistung im Sinne dieser Norm.
Gegen diesen ihr am 27. Februar 2006 zugestellten Beschluss hat die Antragsgegnerin am 24. März 2006 Beschwerde eingelegt. Sie meint, § 39 SGB II gelte für sämtliche Verwaltungsakte, mit denen über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entschieden werde. Dazu gehörten auch Rückforderungsbescheide.
Die Antragsgegnerin beantragt, den Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 23. Februar 2006 aufzuheben.
Die Antragstellerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für richtig.
Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt.
II.
Die Beschwerde ist zulässig und form- und fristgerecht beim Sozialgericht Halle eingelegt worden (§§ 172, 173 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG). Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und diese dem Landessozialgericht Sachsen-Anhalt zur Entscheidung vorgelegt (§ 174 SGG).
Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist aber nicht begründet.
Das Sozialgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Anfechtungsklage der Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 25. Oktober 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Januar 2006 mit der darin enthaltenen Festsetzung eines Erstattungsbetrages von 1.290,71 EUR aufschiebende Wirkung hat.
Die Feststellung der aufschiebenden Wirkung erfolgt analog § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG. Die direkte Anwendung der Vorschrift regelt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage durch das Gericht in den Fällen, in denen die Rechtsbehelfe eine solche Wirkung nicht haben. Hat aber ein Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung und wird diese von der Verwaltung nicht beachtet oder gibt diese zu erkennen, dass sie die aufschiebende Wirkung nicht beachten will, findet die Vorschrift analoge Anwendung (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage 2005, § 86b Rdnr. 15). Eine solcher Fall liegt hier vor. Die Antragsgegnerin hat zu erkennen gegeben, dass nach ihrer Auffassung die Anfechtungsklage der Antragstellerin keine aufschiebende Wirkung hat. Deshalb ist auch zu erwarten, dass die Antragsgegnerin Schritte zur Durchsetzung der Erstattungsforderung, etwa durch Aufrechnung mit laufenden Leistungen, einleiten wird. Es besteht somit auch ein Rechtsschutzbedürfnis der Antragstellerin für die vom Sozialgericht getroffene Feststellung.
Das Sozialgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass im konkreten Fall der von der Antragstellerin erhobenen Anfechtungsklage eine aufschiebende Wirkung zukommt. Widerspruch und Anfechtungsklage haben nach § 86a Abs. 1 SGG grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Einer der Fälle des Abs. 2 der Vorschrift, in denen die aufschiebende Wirkung entfällt, liegt nicht vor. In Betracht kommt hier nur § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 SGB II. Nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung dann, wenn ein Bundesgesetz dies ausdrücklich vorschreibt. Gemäß § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende entscheidet keine aufschiebende Wirkung.
Bei der angefochtenen Entscheidung der Antragsgegnerin handelt es sich um einen Bescheid über die Aufhebung einer Leistungsbewilligung für die Vergangenheit nach § 48 SGB X und die Festsetzung einer Erstattung nach § 50 SGB X. Solche Bescheide werden nach der Auffassung des Senats von der Regelung im § 39 SGB II nicht erfasst. Daher kommt hier die grundsätzliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86a Abs. 1 SGG zum Tragen.
Die Anwendbarkeit des § 39 SGB II auf Aufhebungs- und Erstattungsbescheide bei rückwirkender Aufhebung der Leistungsbewilligung nach § 45 ff. SGB X ist umstritten. Teile der Literatur sprechen sich für die Anwendbarkeit aus, bzw. gehen, ohne dies weiter zu problematisieren, von der Anwendbarkeit aus (vgl. Eicher in Eicher/Spellbrink, SGB II, Komm., 2005, § 39 Rdnr. 3 und 12, der dies aber unter Gleichheitsgesichtspunkten für problematisch hält; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, Komm., 2004, § 39 Rdnr. 11 und 44; Gröschel-Gundermann in Linhart/Adolph, SGB II, Komm., 2004, § 39 Rdnr. 2). Andere Stimmen in der Literatur und erste Gerichtsentscheidungen sind der Auffassung, § 39 SGB II sei auf rückwirkende Aufhebungen von Leistungsbewilligungen und Erstattungsbescheide nicht anwendbar (SG Dresden, Beschluss vom 23. Januar 2006 – S 6 AS 1393/05 ER; SG Hamburg, Beschluss vom 15. November 2005 – S 55 AS 1397/05 ER; Conradis in LPK-SGB II, Komm., 2004, § 39 Rdnr. 7; Pilz in Gagel, SGB III mit SGB II, Komm., Stand: Oktober 2005, § 39 Rdnr. 9).
Der Wortlaut des § 39 SGB II ist insofern nicht eindeutig; er lässt beide Interpretationen zu. Nach § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der "über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende entscheidet" keine aufschiebende Wirkung. Die Vorschrift kann so verstanden werden, dass alle Entscheidungen gemeint sind, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende betreffen. Dazu gehören dann auch Bescheide über eine rückwirkende Leistungsaufhebung und die Festsetzung der Erstattungssumme. Möglich ist es auch, den Wortlaut so zu verstehen, dass die Aufhebung einer Leistung für die Vergangenheit und Festsetzung einer Erstattung nicht gemeint sind, weil sprachlich und auch in der Sache zwischen einer Leistung und einer "Rückleistung" zu unterscheiden sind (so SG Dresden, a. a. O.). Für die letztere engere Auslegung spricht, dass der Gesetzgeber in § 39 Nr. 2 SGB II die gesonderte Regelung aufgenommen hat, dass die Vorschrift auch Verwaltungsakte betrifft, die den Übergang eines Anspruchs bewirken. Bei Zugrundelegung der weiteren Auslegung wäre eine solche besondere Regelung wohl überflüssig, weil schon von der Nr. 1 der Vorschrift mitumfasst. Denn auch bei einem Verwaltungsakt, der den Übergang eines Anspruchs regelt (und damit bestimmt, an wen in welchem Umfang zu leisten ist), handelt es sich um eine Entscheidung über die Leistung im weiteren Sinne (so Conradis a. a. O.). Der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage bei der Herabsetzung und dem Entzug laufender Leistungen ist auch im Arbeitsförderungsrecht geregelt (vgl. § 336a Satz 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – SGB III). Eine entsprechende Regelung für Rechtsbehelfe gegen Rückforderungsbescheide ist aber weder im Arbeitsförderungsrecht noch im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe (SGB XII) zu finden. Vor diesem Hintergrund ist die sprachlich unklare Regelung im § 39 Nr. 1 SGB II keine geeignete Grundlage für eine Ausnahme von der allgemeinen Regelung im § 86a Abs. 1 SGG, wonach Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung haben. Auch aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber auch die Fälle der Leistungsaufhebung für die Vergangenheit und die Erstattungsbescheide mit erfassen wollte. Die Gesetzesbegründung gibt keine über den eigentlichen Wortlaut der Vorschrift hinausgehenden Hinweise (vgl. BT-Drucks. 15/1516 zu § 39, S. 63). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus einer an Sinn und Zweck der Vorschrift orientierten Auslegung. Bei der zukunftsgerichteten Entscheidung über laufende Leistungen liegt es im Hinblick auf ggf. schwierig oder überhaupt nicht durchzusetzende Rückforderungen im öffentlichen Interesse, Änderungs- und Aufhebungsbescheide umsetzten zu können, ohne im Regelfall die Entscheidung über Widerspruch und Klage abwarten zu müssen. Die Interessenlage bei den Rückforderungsfällen ist anders zu beurteilen. In der Regel wird der betroffene Personenkreis der Leistungsempfänger nach dem SGB II nicht über Vermögenswerte verfügen, die eine sofortige Zahlung oder die Durchsetzung eines Erstattungsanspruchs in einer Summe ermöglichen. Es ist somit im Regelfall davon auszugehen, dass kein Interesse besteht, die Rückforderung im Hinblick auf die Gefahr einer Verschlechterung der Vermögenslage schnell zu realisieren. In Einzelfällen, in denen dies anders liegt, hat die Behörde die Möglichkeit, die sofortige Vollziehung mit besonderer Begründung im öffentlichen Interesse nach § 86b Abs. 2 Nr. 5 SGG anzuordnen (so auch SG Dresden a. a. O.).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Der Beschluss ist nach § 177 SGG unanfechtbar. Auf § 178 a SGG wird hingewiesen.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Klägerin bezieht seit dem 1. Januar 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II).
Mit einem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 25. Oktober 2005 hob die Antragsgegnerin die vorangegangenen Leistungsbewilligungen für den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 30. Juni 2005 teilweise auf und forderte einen Betrag in Höhe von 1.290,71 EUR zurück. Zur Begründung gab sie an, das Unterhaltszahlungen für den Sohn der Antragstellerin und erzieltes Nebeneinkommen hätten angerechnet werden müssen. In einem am 14. November 2005 bei der Beklagten eingegangenen Widerspruch berief sich die Antragstellerin auf formelle Fehler im Verwaltungsverfahren und auf Vertrauensschutz. Die Antragsgegnerin wies den Widerspruch mit Widerspruchbescheid vom 17. Januar 2006 zurück und führte zur Begründung u. a. aus, die Antragstellerin könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen; sie habe die Rechtswidrigkeit der zu hohen Leistungsbewilligung erkennen müssen. Die Rechtsgrundlage für die Aufhebung ergebe sich aus § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X). Gegen diesen Widerspruchsbescheid erhob die Antragstellerin am 31. Januar 2006 beim Sozialgericht Halle Klage (Aktenzeichen S 15 AS 174/06).
Mit einem am 16. Februar 2006 beim Sozialgericht eingegangenen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hat sich die Antragstellerin gegen eine sofortige Vollziehung des angefochtenen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides gewandt. Das Sozialgericht Halle hat dem Antrag mit Beschluss vom 23. Februar 2006 stattgegeben und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 25. Oktober 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Januar 2006 festgestellt, "soweit sie die Erstattung in Höhe von 1.290,71 EUR betrifft". In den Gründen hat das Sozialgericht ausgeführt: Der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage im § 39 SGB II beziehe sich nur auf Entscheidungen über laufenden Leistungen. Die Entscheidung über eine Erstattung sei keine Entscheidung über eine Leistung im Sinne dieser Norm.
Gegen diesen ihr am 27. Februar 2006 zugestellten Beschluss hat die Antragsgegnerin am 24. März 2006 Beschwerde eingelegt. Sie meint, § 39 SGB II gelte für sämtliche Verwaltungsakte, mit denen über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entschieden werde. Dazu gehörten auch Rückforderungsbescheide.
Die Antragsgegnerin beantragt, den Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 23. Februar 2006 aufzuheben.
Die Antragstellerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für richtig.
Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt.
II.
Die Beschwerde ist zulässig und form- und fristgerecht beim Sozialgericht Halle eingelegt worden (§§ 172, 173 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG). Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und diese dem Landessozialgericht Sachsen-Anhalt zur Entscheidung vorgelegt (§ 174 SGG).
Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist aber nicht begründet.
Das Sozialgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Anfechtungsklage der Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 25. Oktober 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Januar 2006 mit der darin enthaltenen Festsetzung eines Erstattungsbetrages von 1.290,71 EUR aufschiebende Wirkung hat.
Die Feststellung der aufschiebenden Wirkung erfolgt analog § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG. Die direkte Anwendung der Vorschrift regelt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage durch das Gericht in den Fällen, in denen die Rechtsbehelfe eine solche Wirkung nicht haben. Hat aber ein Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung und wird diese von der Verwaltung nicht beachtet oder gibt diese zu erkennen, dass sie die aufschiebende Wirkung nicht beachten will, findet die Vorschrift analoge Anwendung (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage 2005, § 86b Rdnr. 15). Eine solcher Fall liegt hier vor. Die Antragsgegnerin hat zu erkennen gegeben, dass nach ihrer Auffassung die Anfechtungsklage der Antragstellerin keine aufschiebende Wirkung hat. Deshalb ist auch zu erwarten, dass die Antragsgegnerin Schritte zur Durchsetzung der Erstattungsforderung, etwa durch Aufrechnung mit laufenden Leistungen, einleiten wird. Es besteht somit auch ein Rechtsschutzbedürfnis der Antragstellerin für die vom Sozialgericht getroffene Feststellung.
Das Sozialgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass im konkreten Fall der von der Antragstellerin erhobenen Anfechtungsklage eine aufschiebende Wirkung zukommt. Widerspruch und Anfechtungsklage haben nach § 86a Abs. 1 SGG grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Einer der Fälle des Abs. 2 der Vorschrift, in denen die aufschiebende Wirkung entfällt, liegt nicht vor. In Betracht kommt hier nur § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 SGB II. Nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung dann, wenn ein Bundesgesetz dies ausdrücklich vorschreibt. Gemäß § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende entscheidet keine aufschiebende Wirkung.
Bei der angefochtenen Entscheidung der Antragsgegnerin handelt es sich um einen Bescheid über die Aufhebung einer Leistungsbewilligung für die Vergangenheit nach § 48 SGB X und die Festsetzung einer Erstattung nach § 50 SGB X. Solche Bescheide werden nach der Auffassung des Senats von der Regelung im § 39 SGB II nicht erfasst. Daher kommt hier die grundsätzliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86a Abs. 1 SGG zum Tragen.
Die Anwendbarkeit des § 39 SGB II auf Aufhebungs- und Erstattungsbescheide bei rückwirkender Aufhebung der Leistungsbewilligung nach § 45 ff. SGB X ist umstritten. Teile der Literatur sprechen sich für die Anwendbarkeit aus, bzw. gehen, ohne dies weiter zu problematisieren, von der Anwendbarkeit aus (vgl. Eicher in Eicher/Spellbrink, SGB II, Komm., 2005, § 39 Rdnr. 3 und 12, der dies aber unter Gleichheitsgesichtspunkten für problematisch hält; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, Komm., 2004, § 39 Rdnr. 11 und 44; Gröschel-Gundermann in Linhart/Adolph, SGB II, Komm., 2004, § 39 Rdnr. 2). Andere Stimmen in der Literatur und erste Gerichtsentscheidungen sind der Auffassung, § 39 SGB II sei auf rückwirkende Aufhebungen von Leistungsbewilligungen und Erstattungsbescheide nicht anwendbar (SG Dresden, Beschluss vom 23. Januar 2006 – S 6 AS 1393/05 ER; SG Hamburg, Beschluss vom 15. November 2005 – S 55 AS 1397/05 ER; Conradis in LPK-SGB II, Komm., 2004, § 39 Rdnr. 7; Pilz in Gagel, SGB III mit SGB II, Komm., Stand: Oktober 2005, § 39 Rdnr. 9).
Der Wortlaut des § 39 SGB II ist insofern nicht eindeutig; er lässt beide Interpretationen zu. Nach § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der "über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende entscheidet" keine aufschiebende Wirkung. Die Vorschrift kann so verstanden werden, dass alle Entscheidungen gemeint sind, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende betreffen. Dazu gehören dann auch Bescheide über eine rückwirkende Leistungsaufhebung und die Festsetzung der Erstattungssumme. Möglich ist es auch, den Wortlaut so zu verstehen, dass die Aufhebung einer Leistung für die Vergangenheit und Festsetzung einer Erstattung nicht gemeint sind, weil sprachlich und auch in der Sache zwischen einer Leistung und einer "Rückleistung" zu unterscheiden sind (so SG Dresden, a. a. O.). Für die letztere engere Auslegung spricht, dass der Gesetzgeber in § 39 Nr. 2 SGB II die gesonderte Regelung aufgenommen hat, dass die Vorschrift auch Verwaltungsakte betrifft, die den Übergang eines Anspruchs bewirken. Bei Zugrundelegung der weiteren Auslegung wäre eine solche besondere Regelung wohl überflüssig, weil schon von der Nr. 1 der Vorschrift mitumfasst. Denn auch bei einem Verwaltungsakt, der den Übergang eines Anspruchs regelt (und damit bestimmt, an wen in welchem Umfang zu leisten ist), handelt es sich um eine Entscheidung über die Leistung im weiteren Sinne (so Conradis a. a. O.). Der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage bei der Herabsetzung und dem Entzug laufender Leistungen ist auch im Arbeitsförderungsrecht geregelt (vgl. § 336a Satz 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – SGB III). Eine entsprechende Regelung für Rechtsbehelfe gegen Rückforderungsbescheide ist aber weder im Arbeitsförderungsrecht noch im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe (SGB XII) zu finden. Vor diesem Hintergrund ist die sprachlich unklare Regelung im § 39 Nr. 1 SGB II keine geeignete Grundlage für eine Ausnahme von der allgemeinen Regelung im § 86a Abs. 1 SGG, wonach Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung haben. Auch aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber auch die Fälle der Leistungsaufhebung für die Vergangenheit und die Erstattungsbescheide mit erfassen wollte. Die Gesetzesbegründung gibt keine über den eigentlichen Wortlaut der Vorschrift hinausgehenden Hinweise (vgl. BT-Drucks. 15/1516 zu § 39, S. 63). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus einer an Sinn und Zweck der Vorschrift orientierten Auslegung. Bei der zukunftsgerichteten Entscheidung über laufende Leistungen liegt es im Hinblick auf ggf. schwierig oder überhaupt nicht durchzusetzende Rückforderungen im öffentlichen Interesse, Änderungs- und Aufhebungsbescheide umsetzten zu können, ohne im Regelfall die Entscheidung über Widerspruch und Klage abwarten zu müssen. Die Interessenlage bei den Rückforderungsfällen ist anders zu beurteilen. In der Regel wird der betroffene Personenkreis der Leistungsempfänger nach dem SGB II nicht über Vermögenswerte verfügen, die eine sofortige Zahlung oder die Durchsetzung eines Erstattungsanspruchs in einer Summe ermöglichen. Es ist somit im Regelfall davon auszugehen, dass kein Interesse besteht, die Rückforderung im Hinblick auf die Gefahr einer Verschlechterung der Vermögenslage schnell zu realisieren. In Einzelfällen, in denen dies anders liegt, hat die Behörde die Möglichkeit, die sofortige Vollziehung mit besonderer Begründung im öffentlichen Interesse nach § 86b Abs. 2 Nr. 5 SGG anzuordnen (so auch SG Dresden a. a. O.).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Der Beschluss ist nach § 177 SGG unanfechtbar. Auf § 178 a SGG wird hingewiesen.
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