Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Stendal (SAN)
Aktenzeichen
S 6 U 4/04
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 6 U 110/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Entscheidet ein Gericht durch Gerichtsbescheid, obwohl die dafür in § 105 Abs 1 SGG vorgeschriebenen Voraussetzungen nicht vorliegen, so liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz des gerichtlichen Richters im Sinne von Art 101 Abs 1 S 2 vor (vgl BSG, Urt v 16.03.2006 - B 4 RA 59/04 R). 2. Kündigt das Gericht eine weitere Beweisaufnahme an und ergeht dann eine Entscheidung, ohne dass die angekündigte Beweisaufnahme durchgeführt worden ist, so liegt in der Regel eine Überraschungsentscheidung vor, die den Grundsatz auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt.
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stendal vom 1. August 2006 wird aufgehoben und der Rechtsstreit an das Sozialgericht Stendal zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Sozialgericht vorbehalten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob Gesundheitsstörungen der Klägerin im rechten Kniegelenk Folgen eines am 25. November 1974 erlittenen Unfalls sind und dieser deshalb eine Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu zahlen ist.
Die am 1960 geborene Klägerin erlitt am 25. November 1974 während des Schulsports einen Unfall. Nach der Unfallschaden-Anzeige für die Staatliche Versicherung der DDR vom 29. November 1974 kam die Klägerin bei einer Hocke über das Pferd zunächst sicher zum Stand. Beim Bewegen der Knie habe es dann im rechten Knie gekracht und sie habe Schmerzen im Knie gespürt. Es sei zu "Verrenkungen im rechten Kniegelenk" gekommen. Die Klägerin habe sich am 28. November 1974 bei Frau Dr. A. in K. in ärztliche Behandlung begeben.
Dieser Vorfall wurde der Beklagten im März 2001 angezeigt, nachdem sich die Klägerin im Juni 1999 wegen eines Innenmeniskusrisses im rechten Knie in stationäre Krankenhausbehandlung hatte begeben müssen. Bemühungen, Unterlagen über die ärztliche Versorgung der Klägerin nach dem Unfall zu ermitteln, blieben erfolglos. Mit Bescheid vom 22. Januar 2003 lehnte es die Beklagte ab, das Ereignis vom 25. November 1974 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Zur Begründung führte sie aus, medizinische Unterlagen zu diesem Ereignis hätten nicht ermittelt werden können. Auch die Prüfung, ob der Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem diagnostizierten Körperschaden über so genannte Brückensymptome wahrscheinlich gemacht werden könne, sei erfolglos geblieben. Unterlagen, die für die Jahre 1974 bis 1985 auf Beschwerden oder Behandlungen der Klägerin am rechten Kniegelenk hinweisen würden, hätten nicht ermittelt werden können. Die anspruchsbegründenden Tatsachen hätten somit nicht bewiesen werden können. Dagegen legte die Klägerin am 20. Februar 2003 Widerspruch ein und reichte eine schriftliche Aussage des zum Unfallzeitpunkt in der Turnhalle anwesenden Sportlehrers D. K. vom 01. April 2003 zu den Akten der Beklagten. Dieser teilte mit, er habe die Klägerin zwei Tage nach dem Unfall zu deren Hausärztin Dr. A. gefahren. Diese habe der Klägerin einen Zinkleimverband am rechten Knie angelegt und ihm als Diagnose einen Kreuzbandriss im rechten Knie mitgeteilt. Mit Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 2003 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Ein Köperschaden der Klägerin am rechten Knie anlässlich des Ereignisses habe trotz umfangreicher Ermittlungen nicht im Sinne eines Vollbeweises nachgewiesen werden können. Dies gehe zu Lasten der Klägerin.
Die Klägerin hat am 15. Januar 2004 Klage beim Sozialgericht Stendal erhoben. Mit Beweisanordnung vom 21. September 2005 hat das Gericht den Facharzt für Orthopädie Dr. S. mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Dieser ist in seinem Gutachten vom 29. Oktober 2005 zu dem Ergebnis gekommen, es sei wahrscheinlich, dass die Klägerin am 25. November 1974 eine Ruptur des vorderen Kreuzbandes des rechten Kniegelenkes erlitten habe. Gehe man davon aus, so seien die gesundheitlichen Problem der Klägerin im rechten Knie ab dem Jahre 1998 Folge dieses Ereignisses.
Das Sozialgericht hat am 10. April 2006 eine öffentliche Sitzung durchgeführt. Nach einer Unterbrechung der mündlichen Verhandlung für 10 Minuten ist im Terminsprotokoll Folgendes ausgeführt: "Das Gericht hält eine weitere Anfrage beim A. S. hinsichtlich der gestellten Diagnose aus dem Jahr 1974 sowie die Zeugen- vernehmung von Herrn K. für erforderlich". Anschließend hat es den Rechtsstreit vertagt. Auf entsprechende Anfrage hat der A. S. mitgeteilt, dass im Kreisarchiv trotz intensivster Nachforschungen keine Behandlungsunterlagen gefunden werden konnten. Sodann hat das Sozialgericht den Beteiligten mit Schreiben vom 10. Mai 2006 mitgeteilt, es beabsichtige, den Rechtsstreit gemäß § 105 Absatz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Hinweise zum Sach- und Streitstand enthält das Schreiben nicht. Mit Schriftsatz vom 15. Mai 2006 haben die Prozessbevollmächtigten der Klägerin mitgeteilt, sie seien "mit einer Entscheidung gemäß § 105 Abs. 1 SGG nach vorheriger mündlicher Verhandlung einverstanden".
Ohne den Zeugen K. vernommen zu haben, hat das Sozialgericht mit Gerichtsbe- scheid vom 01. August 2006 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Kammer sei nach Auswertung und Würdigung sämtlicher vorliegender medizinischer und nichtmedizinischer Erkenntnisquellen nicht davon überzeugt, dass das Ereignis vom 25. November 1974 die geltend gemachten Gesundheitsstörungen verur-
sacht habe. Sie habe nicht feststellen können, ob und welcher Gesundheitsschaden bei diesem Ereignis eingetreten sei. Ärztliche Unterlagen hätten nicht ermittelt werden können und auch Brückensymptome würden für einen Zeitraum von über zwanzig Jahren nach dem Unfall fehlen. Zwar habe der "Zeuge K." von der Diagnose eines Kreuzbandrisses erfahren haben wollen. Dann sei aber nicht erklärlich, warum in der Unfallmeldung nur von einer Verrenkung des Kniegelenkes die Rede sei.
Gegen den ihr am 16. August 2006 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 14. September 2006 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Sie ist unter anderem der Auffassung, bei der Entscheidung des Sozialgerichts handele es sich um eine Überraschungsentscheidung, weil das Sozialgericht in der mündlichen Verhandlung am 10. April 2006 die Vernehmung des Zeugen D. K. zwar ange- kündigt, dann aber nicht vorgenommen habe.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stendal vom 01. August 2006 sowie den Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 2003 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 17. Dezember 2003 aufzuheben und einen Riss des vorderen Kreuzbandes und des rechten Außenmeniskus am 25. November 1974 als Arbeitsunfall und die Arthrose des rechten Kniegelenks als Folge dieses Arbeitsunfalls anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stendal vom 01. August 2006 zurückzuweisen.
Sie hält das Begehren der Klägerin in der Sache für unbegründet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung des Senats.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stendal vom 01. August 2006 war aufzuheben und der Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Nach § 159 Absatz 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Ein Verfahrensmangel ist im Sinne des § 159 Absatz 1 Nr. 2 SGG gegeben, wenn ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift vorliegt. Wesentlich ist dieser Verfahrensmangel, wenn die Entscheidung des Sozialgerichts darauf beruhen kann (Meyer-Ladewig in ders./Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage, § 159, RdNrn 3, 3a, mit weiteren Nachweisen).
Die Entscheidung des Sozialgerichts leidet in zweierlei Hinsicht an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Zum einen hat das Gericht durch Gerichtsbescheid entschieden, obwohl die dafür vom Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt waren. Dadurch hat das Gericht der Klägerin ihre gesetzlichen Richter vorenthalten (nachfolgend 1.). Zum anderen handelt es sich bei der Entscheidung des Sozialgerichts für die Klägerin um eine Überraschungsentscheidung, so dass auch ein Verstoß gegen das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs vorliegt (nachfolgend 2.). Der Senat übt das ihm von § 159 Absatz 1 SGG eingeräumte Ermessen im Sinne einer Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht aus (nachfolgend 3.).
1. Das Sozialgericht hat zunächst gegen den das Gerichtsverfahren regelnden § 105 Absatz 1 SGG verstoßen, weil es durch Gerichtsbescheid entschieden hat, obwohl die dafür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen haben. Nach Satz 1 der zuletzt genannten Vorschrift ist der Erlass eines Gerichtsbescheides dann möglich, wenn die
Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Beide dieser Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Die Angelegenheit weist besondere Schwierigkeiten tatsächlicher Art auf, weil weder die Beklagte noch das Sozialgericht bisher aufklären konnten, ob die Klägerin anlässlich des Ereignisses vom 25. November 1974 tatsächlich einen Kreuzbandriss erlitten hat oder nicht. Vielmehr hat das Gericht dies als nicht erwiesen angesehen und zu Lasten der Klägerin bewertet, obwohl es sich angeboten hätte – wie dies offensichtlich auch die Kammer in der mündlichen Verhandlung am 10. April 2006 gesehen hat – insoweit den Zeugen K. zu vernehmen. Aus diesem Grunde hat auch die zweite Voraussetzung für den Erlass eines Gerichtsbescheides nicht vorgelegen, weil das Gericht nicht feststellen konnte, ob und welcher Gesundheitsschaden bei dem Ereignis vom 25. November 1974 tatsächlich eingetreten ist. Damit war auch der Sachverhalt nicht geklärt, und es hätte sich – wie bereits ausgeführt – dazu die Vernehmung des Zeugen K. angeboten.
Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass sich als weitere Mittel der Aufklärung des Sachverhalts eine (persönliche) Anhörung der die Klägerin damals behandelnden Ärztin Dr. A. und der nunmehr benannten Zeugin M. sowie ein Auskunftsersuchen an die A. AG als Rechtsnachfolgerin der S. V. der DDR anbieten.
Das Sozialgericht hat damit verfahrensfehlerhaft durch den Kammervorsitzenden als Einzelrichter durch Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter entschieden, obwohl die Voraussetzungen des § 105 Absatz 1 Satz 1 SGG nicht vorgelegen haben. Dadurch hat es der Klägerin ihren gesetzlichen Richter im Sinne des Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz entzogen, nämlich der Kammer in voller Besetzung (vgl. auch: Bundessozialgericht, Urteil vom 16. März 2006 – B 4 RA 59/04 R –, NZS 2007, Seite 51). Dieser Mangel ist auch wesentlich, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Kammer in der gesetzlich vorgeschriebenen Besetzung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.
2. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts stellt für die Klägerin auch eine Überraschungsentscheidung dar und verstößt damit gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 62 SGG).
Als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips des Grundgesetzes ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren. Ein Verstoß gegen dieses Prinzip liegt unter anderem dann vor, wenn die Entscheidung des Gerichts sich für die Beteiligten als Überraschungsentscheidung darstellt (Keller in Meyer-Ladewig, a.a.O., § 62 RdNr 8d). So verhält es sich hier. Die Kammer hatte in ihrer Sitzung vom 10. April 2006 ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung nach einer Zwischenberatung die Absicht bekundet, nicht nur – wie geschehen – eine Auskunft des A. S. einholen zu wollen, sondern auch den Zeugen K. zu vernehmen. Dies ist dann vor der Entscheidung durch Gerichtsbescheid aber nicht geschehen, obwohl sich dies nicht nur wegen der gerichtlichen Ankündigung, sondern auch wegen dessen detaillierter schriftlicher Aussage im Verwaltungsverfahren aufgedrängt hätte. Deshalb stellt sich die ohne die Vernehmung des Zeugen getroffene Entscheidung des Sozialgerichts für die Klägerin, was sie auch zutreffend gerügt hat, als Überraschungsentscheidung dar.
Auch dieser Verfahrensmangel des gerichtlichen Verfahrens ist wesentlich im Sinne des § 159 abs. 1 Nr. 2 SGG, weil damit ein weiterer Vortrag der Klägerin zur Aussage des Zeugen K. unterbunden worden ist, der möglicherweise zu einer anderen Ent- scheidung der Kammer geführt hätte.
Die Klägerin hat mit ihrem Schriftsatz vom 15. Mai 2006 auch nicht auf die Erhebung dieser Rüge verzichtet. Denn sie hat ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid ausdrücklich von einer vorherigen mündlichen Verhandlung abhängig gemacht. Eine solche – weitere – mündliche Verhandlung hat das Sozialgericht aber nicht durchgeführt.
3. Im Rahmen seines nach § 159 SGG auszuübenden Ermessens hat der Senat das Interesse der Klägerin an einer möglichst zeitnahen Erledigung ihres Rechtsstreits einerseits mit den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz andererseits miteinander abgewogen. Angesichts der ganz erheblichen Mängel des sozialgerichtlichen Verfahrens und der Tatsache, dass das Berufungsverfahren erst seit gut vier Monaten beim Landessozialgericht anhängig ist, hat sich der Senat für eine Zurückverweisung entschieden. Vor dem Sozialgericht stehen der Klägerin alle prozessualen Rechte offen und letztlich wird der von Gesetzes wegen vorgesehene Spruchkörper entscheiden.
4. Da das Verfahren vor dem Sozialgericht noch nicht beendet ist, hat dieses endgültig über die Frage der Kostentragung zu entscheiden (Meyer-Ladewig, a.a.O., § 159 SGG RdNr 5d).
Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Absatz 2 SGG liegen nicht vor.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Sozialgericht vorbehalten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob Gesundheitsstörungen der Klägerin im rechten Kniegelenk Folgen eines am 25. November 1974 erlittenen Unfalls sind und dieser deshalb eine Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu zahlen ist.
Die am 1960 geborene Klägerin erlitt am 25. November 1974 während des Schulsports einen Unfall. Nach der Unfallschaden-Anzeige für die Staatliche Versicherung der DDR vom 29. November 1974 kam die Klägerin bei einer Hocke über das Pferd zunächst sicher zum Stand. Beim Bewegen der Knie habe es dann im rechten Knie gekracht und sie habe Schmerzen im Knie gespürt. Es sei zu "Verrenkungen im rechten Kniegelenk" gekommen. Die Klägerin habe sich am 28. November 1974 bei Frau Dr. A. in K. in ärztliche Behandlung begeben.
Dieser Vorfall wurde der Beklagten im März 2001 angezeigt, nachdem sich die Klägerin im Juni 1999 wegen eines Innenmeniskusrisses im rechten Knie in stationäre Krankenhausbehandlung hatte begeben müssen. Bemühungen, Unterlagen über die ärztliche Versorgung der Klägerin nach dem Unfall zu ermitteln, blieben erfolglos. Mit Bescheid vom 22. Januar 2003 lehnte es die Beklagte ab, das Ereignis vom 25. November 1974 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Zur Begründung führte sie aus, medizinische Unterlagen zu diesem Ereignis hätten nicht ermittelt werden können. Auch die Prüfung, ob der Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem diagnostizierten Körperschaden über so genannte Brückensymptome wahrscheinlich gemacht werden könne, sei erfolglos geblieben. Unterlagen, die für die Jahre 1974 bis 1985 auf Beschwerden oder Behandlungen der Klägerin am rechten Kniegelenk hinweisen würden, hätten nicht ermittelt werden können. Die anspruchsbegründenden Tatsachen hätten somit nicht bewiesen werden können. Dagegen legte die Klägerin am 20. Februar 2003 Widerspruch ein und reichte eine schriftliche Aussage des zum Unfallzeitpunkt in der Turnhalle anwesenden Sportlehrers D. K. vom 01. April 2003 zu den Akten der Beklagten. Dieser teilte mit, er habe die Klägerin zwei Tage nach dem Unfall zu deren Hausärztin Dr. A. gefahren. Diese habe der Klägerin einen Zinkleimverband am rechten Knie angelegt und ihm als Diagnose einen Kreuzbandriss im rechten Knie mitgeteilt. Mit Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 2003 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Ein Köperschaden der Klägerin am rechten Knie anlässlich des Ereignisses habe trotz umfangreicher Ermittlungen nicht im Sinne eines Vollbeweises nachgewiesen werden können. Dies gehe zu Lasten der Klägerin.
Die Klägerin hat am 15. Januar 2004 Klage beim Sozialgericht Stendal erhoben. Mit Beweisanordnung vom 21. September 2005 hat das Gericht den Facharzt für Orthopädie Dr. S. mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Dieser ist in seinem Gutachten vom 29. Oktober 2005 zu dem Ergebnis gekommen, es sei wahrscheinlich, dass die Klägerin am 25. November 1974 eine Ruptur des vorderen Kreuzbandes des rechten Kniegelenkes erlitten habe. Gehe man davon aus, so seien die gesundheitlichen Problem der Klägerin im rechten Knie ab dem Jahre 1998 Folge dieses Ereignisses.
Das Sozialgericht hat am 10. April 2006 eine öffentliche Sitzung durchgeführt. Nach einer Unterbrechung der mündlichen Verhandlung für 10 Minuten ist im Terminsprotokoll Folgendes ausgeführt: "Das Gericht hält eine weitere Anfrage beim A. S. hinsichtlich der gestellten Diagnose aus dem Jahr 1974 sowie die Zeugen- vernehmung von Herrn K. für erforderlich". Anschließend hat es den Rechtsstreit vertagt. Auf entsprechende Anfrage hat der A. S. mitgeteilt, dass im Kreisarchiv trotz intensivster Nachforschungen keine Behandlungsunterlagen gefunden werden konnten. Sodann hat das Sozialgericht den Beteiligten mit Schreiben vom 10. Mai 2006 mitgeteilt, es beabsichtige, den Rechtsstreit gemäß § 105 Absatz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Hinweise zum Sach- und Streitstand enthält das Schreiben nicht. Mit Schriftsatz vom 15. Mai 2006 haben die Prozessbevollmächtigten der Klägerin mitgeteilt, sie seien "mit einer Entscheidung gemäß § 105 Abs. 1 SGG nach vorheriger mündlicher Verhandlung einverstanden".
Ohne den Zeugen K. vernommen zu haben, hat das Sozialgericht mit Gerichtsbe- scheid vom 01. August 2006 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Kammer sei nach Auswertung und Würdigung sämtlicher vorliegender medizinischer und nichtmedizinischer Erkenntnisquellen nicht davon überzeugt, dass das Ereignis vom 25. November 1974 die geltend gemachten Gesundheitsstörungen verur-
sacht habe. Sie habe nicht feststellen können, ob und welcher Gesundheitsschaden bei diesem Ereignis eingetreten sei. Ärztliche Unterlagen hätten nicht ermittelt werden können und auch Brückensymptome würden für einen Zeitraum von über zwanzig Jahren nach dem Unfall fehlen. Zwar habe der "Zeuge K." von der Diagnose eines Kreuzbandrisses erfahren haben wollen. Dann sei aber nicht erklärlich, warum in der Unfallmeldung nur von einer Verrenkung des Kniegelenkes die Rede sei.
Gegen den ihr am 16. August 2006 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 14. September 2006 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Sie ist unter anderem der Auffassung, bei der Entscheidung des Sozialgerichts handele es sich um eine Überraschungsentscheidung, weil das Sozialgericht in der mündlichen Verhandlung am 10. April 2006 die Vernehmung des Zeugen D. K. zwar ange- kündigt, dann aber nicht vorgenommen habe.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stendal vom 01. August 2006 sowie den Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 2003 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 17. Dezember 2003 aufzuheben und einen Riss des vorderen Kreuzbandes und des rechten Außenmeniskus am 25. November 1974 als Arbeitsunfall und die Arthrose des rechten Kniegelenks als Folge dieses Arbeitsunfalls anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stendal vom 01. August 2006 zurückzuweisen.
Sie hält das Begehren der Klägerin in der Sache für unbegründet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung des Senats.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stendal vom 01. August 2006 war aufzuheben und der Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Nach § 159 Absatz 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Ein Verfahrensmangel ist im Sinne des § 159 Absatz 1 Nr. 2 SGG gegeben, wenn ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift vorliegt. Wesentlich ist dieser Verfahrensmangel, wenn die Entscheidung des Sozialgerichts darauf beruhen kann (Meyer-Ladewig in ders./Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage, § 159, RdNrn 3, 3a, mit weiteren Nachweisen).
Die Entscheidung des Sozialgerichts leidet in zweierlei Hinsicht an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Zum einen hat das Gericht durch Gerichtsbescheid entschieden, obwohl die dafür vom Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt waren. Dadurch hat das Gericht der Klägerin ihre gesetzlichen Richter vorenthalten (nachfolgend 1.). Zum anderen handelt es sich bei der Entscheidung des Sozialgerichts für die Klägerin um eine Überraschungsentscheidung, so dass auch ein Verstoß gegen das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs vorliegt (nachfolgend 2.). Der Senat übt das ihm von § 159 Absatz 1 SGG eingeräumte Ermessen im Sinne einer Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht aus (nachfolgend 3.).
1. Das Sozialgericht hat zunächst gegen den das Gerichtsverfahren regelnden § 105 Absatz 1 SGG verstoßen, weil es durch Gerichtsbescheid entschieden hat, obwohl die dafür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen haben. Nach Satz 1 der zuletzt genannten Vorschrift ist der Erlass eines Gerichtsbescheides dann möglich, wenn die
Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Beide dieser Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Die Angelegenheit weist besondere Schwierigkeiten tatsächlicher Art auf, weil weder die Beklagte noch das Sozialgericht bisher aufklären konnten, ob die Klägerin anlässlich des Ereignisses vom 25. November 1974 tatsächlich einen Kreuzbandriss erlitten hat oder nicht. Vielmehr hat das Gericht dies als nicht erwiesen angesehen und zu Lasten der Klägerin bewertet, obwohl es sich angeboten hätte – wie dies offensichtlich auch die Kammer in der mündlichen Verhandlung am 10. April 2006 gesehen hat – insoweit den Zeugen K. zu vernehmen. Aus diesem Grunde hat auch die zweite Voraussetzung für den Erlass eines Gerichtsbescheides nicht vorgelegen, weil das Gericht nicht feststellen konnte, ob und welcher Gesundheitsschaden bei dem Ereignis vom 25. November 1974 tatsächlich eingetreten ist. Damit war auch der Sachverhalt nicht geklärt, und es hätte sich – wie bereits ausgeführt – dazu die Vernehmung des Zeugen K. angeboten.
Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass sich als weitere Mittel der Aufklärung des Sachverhalts eine (persönliche) Anhörung der die Klägerin damals behandelnden Ärztin Dr. A. und der nunmehr benannten Zeugin M. sowie ein Auskunftsersuchen an die A. AG als Rechtsnachfolgerin der S. V. der DDR anbieten.
Das Sozialgericht hat damit verfahrensfehlerhaft durch den Kammervorsitzenden als Einzelrichter durch Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter entschieden, obwohl die Voraussetzungen des § 105 Absatz 1 Satz 1 SGG nicht vorgelegen haben. Dadurch hat es der Klägerin ihren gesetzlichen Richter im Sinne des Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz entzogen, nämlich der Kammer in voller Besetzung (vgl. auch: Bundessozialgericht, Urteil vom 16. März 2006 – B 4 RA 59/04 R –, NZS 2007, Seite 51). Dieser Mangel ist auch wesentlich, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Kammer in der gesetzlich vorgeschriebenen Besetzung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.
2. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts stellt für die Klägerin auch eine Überraschungsentscheidung dar und verstößt damit gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 62 SGG).
Als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips des Grundgesetzes ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren. Ein Verstoß gegen dieses Prinzip liegt unter anderem dann vor, wenn die Entscheidung des Gerichts sich für die Beteiligten als Überraschungsentscheidung darstellt (Keller in Meyer-Ladewig, a.a.O., § 62 RdNr 8d). So verhält es sich hier. Die Kammer hatte in ihrer Sitzung vom 10. April 2006 ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung nach einer Zwischenberatung die Absicht bekundet, nicht nur – wie geschehen – eine Auskunft des A. S. einholen zu wollen, sondern auch den Zeugen K. zu vernehmen. Dies ist dann vor der Entscheidung durch Gerichtsbescheid aber nicht geschehen, obwohl sich dies nicht nur wegen der gerichtlichen Ankündigung, sondern auch wegen dessen detaillierter schriftlicher Aussage im Verwaltungsverfahren aufgedrängt hätte. Deshalb stellt sich die ohne die Vernehmung des Zeugen getroffene Entscheidung des Sozialgerichts für die Klägerin, was sie auch zutreffend gerügt hat, als Überraschungsentscheidung dar.
Auch dieser Verfahrensmangel des gerichtlichen Verfahrens ist wesentlich im Sinne des § 159 abs. 1 Nr. 2 SGG, weil damit ein weiterer Vortrag der Klägerin zur Aussage des Zeugen K. unterbunden worden ist, der möglicherweise zu einer anderen Ent- scheidung der Kammer geführt hätte.
Die Klägerin hat mit ihrem Schriftsatz vom 15. Mai 2006 auch nicht auf die Erhebung dieser Rüge verzichtet. Denn sie hat ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid ausdrücklich von einer vorherigen mündlichen Verhandlung abhängig gemacht. Eine solche – weitere – mündliche Verhandlung hat das Sozialgericht aber nicht durchgeführt.
3. Im Rahmen seines nach § 159 SGG auszuübenden Ermessens hat der Senat das Interesse der Klägerin an einer möglichst zeitnahen Erledigung ihres Rechtsstreits einerseits mit den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz andererseits miteinander abgewogen. Angesichts der ganz erheblichen Mängel des sozialgerichtlichen Verfahrens und der Tatsache, dass das Berufungsverfahren erst seit gut vier Monaten beim Landessozialgericht anhängig ist, hat sich der Senat für eine Zurückverweisung entschieden. Vor dem Sozialgericht stehen der Klägerin alle prozessualen Rechte offen und letztlich wird der von Gesetzes wegen vorgesehene Spruchkörper entscheiden.
4. Da das Verfahren vor dem Sozialgericht noch nicht beendet ist, hat dieses endgültig über die Frage der Kostentragung zu entscheiden (Meyer-Ladewig, a.a.O., § 159 SGG RdNr 5d).
Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Absatz 2 SGG liegen nicht vor.
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