L 10 RA 3521/01

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
10
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 5 RA 1804/00
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 RA 3521/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 RA 49/02 R
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Liegen für die Zeit vom 1. März 1957 bis 29. Februar 1960 sowohl freiwillige Beiträge als auch nach § 247 Abs. 2a SGB VI als entrichtet geltende Beitäage vor, sind beide Beiträge kumulativ bei der Ermittlung der Rentenhöhe heranzuziehen.
Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 20. Juli 2001 aufgehoben und die Bescheide der Beklagten vom 21. März 1999 (mit Widerspruchsbescheid vom 20. April 2000) und 6. November 2001 abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger höhere Rente unter zusätzlicher Berücksichtigung der Entgeltpunkte aus den nach § 247 Abs. 2a SGB VI für die Zeit vom 1. März 1957 bis 29. Februar 1960 als entrichtet geltenden Pflichtbeiträgen zu zahlen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Bewertung von Pflichtbeiträgen nach § 247 Abs. 2a Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) beim Zusammentreffen mit nachgezahlten freiwilligen Beiträgen.

Mit Bescheid vom 11. Juli 1977 stellte die Beklagte fest, der (am 11. September 1938 geborene) Kläger sei zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge zur Angestelltenversicherung für die Zeit von 1. August 1956 bis 31. Dezember 1958 berechtigt, worauf der Kläger insgesamt Beiträge in Höhe von 3.132,- DM nachzahlte.

Im März 1999 stellte der Kläger einen Antrag auf Kontenklärung. Er legte einen Lehrvertrag für Handwerkslehrlinge vom 1. März 1957 (Maurerlehre) sowie einen Lehrbrief vom 1. März 1960 und einen Gesellenbrief vom 14. Mai 1960 vor, worauf die Beklagte die Zeit vom 1. März 1957 bis 29. Februar 1960 als fiktive Pflichtbeitragszeit für berufliche Ausbildung nach Maßgabe des (zum 1. Januar 1992 in Kraft getretenen) § 247 Abs. 2a SGB VI berücksichtigte.

Am 17. Mai 1999 beantragte der Kläger Altersrente wegen Vollendung des 60. Lebensjahres für Versicherte, die berufsunfähig oder erwerbsunfähig sind, die die Beklagte mit Bescheid vom 21. Dezember 1999 (monatlicher Zahlbetrag ab 1. Februar 2000: 2.164,55 DM) bewilligte. Für die Zeit vom 1. März 1957 bis 31. Dezember 1958 legte sie lediglich die sich aus der Nachzahlung freiwilliger Beiträge ergebenden Entgeltpunkte zugrunde.

Den dagegen eingelegten Widerspruch des Klägers, mit dem er die additive Bewertung der Pflichtbeiträge nach § 247 Abs. 2a SGB VI und der nachgezahlten freiwilligen Beiträge geltend machte, wies die Widerspruchsstelle der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 20. April 2000 zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, eine (additive) Berücksichtigung der Entgeltpunkte für nachgezahlte freiwillige Beiträge und für fiktive Pflichtbeiträge wegen Berufsausbildung sei gesetzlich nicht vorgesehen.

Am 19. Mai 2000 erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht Karlsruhe. Er trug vor, die Beitrags- und Rechtsdezernenten der bayerischen LVA, der LVA Sachsen und der Beklagten hätten auf einer Sitzung im Jahr 1999 beschlossen, in Fällen der vorliegenden Art analog der Regelung über die Bewertung von mit anderen Beitragszeiten zusammentreffenden Kindererziehungszeiten zu verfahren. Die begehrte additive Bewertung sei auch deshalb geboten, weil es eine gesetzliche Regelung, wonach beim Zusammentreffen rentenrechtlicher Zeiten nur die höherwertige anzusetzen sei, nicht gebe. Die Beklagte trug vor, die bisherige Rechtsauffassung des Verbandes der Rentenversicherungsträger habe sich - entgegen dem Vorbringen des Klägers - nicht geändert.

Mit Gerichtsbescheid vom 20. Juli 2001 wies das Sozialgericht die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, die vom Kläger begehrte additive Berücksichtigung der Entgeltpunkte aus nachgezahlten freiwilligen Beiträgen und aus Pflichtbeitragszeiten nach § 247 Abs. 2a SGB VI sehe das Gesetz nicht vor. Die für die Bewertung von Kindererziehungszeiten geltende Regelung des § 70 Abs. 2 SGB VI sei mangels vergleichbarer Interessenlage nicht analog anwendbar. Diese Vorschrift enthalte auch kein allgemeines Prinzip des Rentenrechts, wie im Übrigen in den Regelungen des § 182 Abs. 2 SGB VI und des § 281 SGB VI verdeutlicht werde. Im Falle der Nachversicherung mit Pflichtbeiträgen zusammentreffende freiwillige Beiträge würden danach nicht additiv berücksichtigt; vielmehr sei der freiwillige Beitrag zu erstatten bzw. als Höherversicherungsbeitrag zu berücksichtigen. Schließlich spreche auch der Zweck des § 247 Abs. 2a SGB VI gegen die Rechtsauffassung des Klägers. Die Arbeitsgruppe des Fachausschusses für Versicherung und Rente im VDR habe sich (wohl anlässlich der vom Kläger angeführten Sitzung der Beitrags- und Rechtsdezernenten) mit der anstehenden Frage befasst und bekräftigt, dass beim Zusammentreffen von Pflichtbeitragszeiten nach § 247 Abs. 2a SGB VI mit freiwilligen Beitragszeiten nur der jeweils günstigere Wert anzusetzen sei, was die Beklagte hier fehlerfrei getan habe. Eigentumsrechtlich geschützte Rentenanwartschaften würden dadurch nicht verletzt. Der Gerichtsbescheid wurde dem Kläger am 31. Juli 2001 zugestellt.

Am 27. August 2001 hat der Kläger Berufung eingelegt. Er trägt vor, er habe die freiwilligen Beiträge etwa 20 Jahre nach seiner Lehrzeit nachgezahlt und § 247 Abs. 2a SGB VI sei weitere 20 Jahre später in Kraft getreten. Man könne deshalb die Regelungen über die Nachversicherung nicht gegen die verlangte additive Bewertung ins Feld führen. Folge man der Ansicht der Beklagten und des Sozialgerichts, werde er erheblich benachteiligt. Abgesehen von den Fragen, die Gegenstand des angefochtenen Gerichtsbescheids seien, erhebe er keine weiteren Einwendungen gegen die Rentenbewilligung.

Mit Bescheid vom 26. November 2001 hat die Beklagte die Rente des Klägers (nach Anhörung) neu festgestellt, weil sich die Bewertung der Beitragszeit vom 1. März bis 23. April 1960 geändert habe.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 20. Juli 2001 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 21. Dezember 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. April 2000 sowie des (Änderungs)bescheids vom 26. November 2001 zu verurteilen, die Entgeltpunkte aus den gemäß dem Bescheid vom 11. Juli 1977 nachgezahlten freiwilligen Beiträgen zusätzlich zu den Entgeltpunkten aus den nach Maßgabe des § 247 Abs. 2a SGB VI ermittelten Pflichtbeiträgen (additiv) zu berücksichtigen und ihm entsprechend höhere Rente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

die Berufung zurückzuweisen und die Klage gegen den Bescheid vom 26. November 2001 abzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des Sozialgerichts und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143, 144, 151 SGG zulässige Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG), ist ebenso wie die Klage gegen den (Änderungs)bescheid vom 26. November 2001, der gemäß §§ 153 Abs. 1, 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden ist, begründet. Die Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, neben den Entgeltpunkten aus den gemäß dem Bescheid vom 11. Juli 1977 nachgezahlten freiwilligen Beiträgen zusätzlich die Entgeltpunkte aus den nach Maßgabe des § 247 Abs. 2a SGB VI ermittelten Pflichtbeiträgen (additiv) zu berücksichtigen. Im Übrigen hat sie die dem Kläger zustehende Rente rechtsfehlerfrei festgesetzt, was zwischen den Beteiligten auch nicht streitig ist.

Nach § 63 Abs.1 SBG VI richtet sich die Höher einer Rente vor allem nach der Höhe der während des Versicherungslebens durch Beiträge versicherten Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen. Nach Abs.2 dieser Vorschrift wird das versicherte Entgelt in Entgeltpunkte umgerechnet. Damit sind also für die Höhe einer Rente nach dem SGB VI in erster Linie Beitragszeiten ausschlaggebend. Das sind nach § 55 Abs. 1 SGB VI Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind (Satz 1). Pflichtbeitragszeiten sind auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten. Damit liegen für den Zeitraum vom 01. März 1957 bis 29. Februar 1960 sowohl freiwillige Beiträge als auch Pflichtbeiträge nach § 247 Abs. 2a SGB VI vor.

Nach den oben zitierten Vorschriften sind grundsätzlich beide Beitragszeiten mit den daraus ermittelten Entgeltpunkten bei der Höhe der Rente zu berücksichtigen. Warum von diesem Grundsatz im vorliegenden Fall abgewichen werden soll, ist dem Senat nicht nachvollziehbar. Es gibt im geltenden Rentenversicherungsrecht keinen Grundsatz, dass bei doppelter Belegung von Zeiten nur die höheren Entgeltpunkte bei der Berechnung der Rente heranzuziehen sind, die niedrigeren dagegen unberücksichtigt bleiben sollen. Vielmehr sind, wenn für Pflichtbeitragszeiten nach § 247 Abs. 2a SGB VI bereits früher freiwillige Beiträge gezahlt worden sind, diese zusätzlich wie bei einer Mehrfachbeschäftigung zu berücksichtigen (so auch Niesel, Kasseler Kommentar, Bd.2, § 247 SGB VI, RdNr 16).

Die gegen dieses Ergebnis vorgebrachten Einwendungen vermögen nicht zu überzeugen. Soweit das Sozialgericht und die Beklagte auf die Vorschriften der §§ 182 Abs. 2 und 281 SGB VI verwiesen haben, tragen sie ihre Auffassung nicht. Danach sind für einen Nachversicherungszeitraum bereits gezahlte freiwillige Beiträge zu erstatten (§ 182 Abs. 2 Satz 1) bzw. gelten für Zeiten vor dem 01. Januar 1992 als Beiträge zur Höherversicherung. Daraus folgern Sozialgericht und Beklagte, dass der Gesetzgeber in diesen Fällen keine additive Berücksichtigung vorgesehen hat. Das ist, wenn auch nur teilweise, richtig. Mit den Vorschriften ist aber auch klargestellt, dass Beitragszeiten bei Zusammentreffen mit anderen Zeiten nicht ersatzlos wegfallen sollen, wie es insbesondere die Beklagte mit ihrer Auffassung will. Vielmehr hat der Gesetzgeber auch für diese Fälle geregelt, dass Beitragszeiten zur Geltung kommen müssen, wenn auch dort nur in der Form der Erstattung oder Höherversicherung. Der Gesetzgeber wollte aber nicht, dass bestimmte Zeiten ganz wegfallen. Deswegen stützen diese Vorschriften nicht die Auffassung der Beklagten. Das Gegenteil ist der Fall. Der Gesetzgeber will auch die dort genannten freiwilligen Beiträge nicht unberücksichtigt lassen. Er hat lediglich eine Form gewählt, die im vorliegenden Fall ohne gesetzliche Regelung nicht gangbar ist, so dass es bei der Grundregel bleiben muss, sämtliche Beitragszeiten nach Umwandlung in Entgeltpunkte bei der Ermittlung der Höhe einer Rente heranzuziehen.

Gegen die hier vertretene Auffassung sprechen nicht Sinn und Zweck der Vorschrift oder sonstige Überlegungen zum Schutzzweck der Norm. Aus den Materialien zum § 247 Abs. 2a SGB VI ergibt sich, dass diese Vorschrift im ursprünglichen Gesetzesentwurf nicht enthalten war, sondern erst durch den zuständigen Ausschuss in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht wurde und ausweislich der Begründung hierzu die Problematik einer eventuellen Doppelbelegung der Lehrzeit nicht gesehen oder nicht als Problem angesehen wurde. Keinesfalls ergibt sich hieraus, dass eventuell schon vorhandene freiwillige Beiträge wegfallen oder die neuen Pflichtbeitragszeiten nur bedingt für den Fall der Nichtbelegung gelten sollten (vgl. BT-Drucksache 12/5017 s. 10, 48 f). Der Senat kann in seiner Auffassung auch keine ungerechtfertigte Bevorzugung des Klägers gegenüber Versicherten erkennen, die die vorhandene Lücke im Versicherungsverlauf nicht schon früher durch freiwillige Beiträge geschlossen haben. Er bekommt schließlich nur das, was andere auch bekommen, nämlich fiktive Pflichtbeitragszeiten und das, wofür er aus eigenem Einkommen oder Vermögen Beiträge gezahlt hat. Folgte man der Auffassung der Beklagten und des Sozialgerichts so würde der Versicherte bestraft, der sich schon frühzeitig darum gekümmert hat, unter Einsatz ausschließlich eigener finanzieller Mittel vorhandene Lücken im Versicherungsverlauf zu schließen. Das kann nicht Sinn und Zweck der Regelung des § 247 Abs. 2a SGB VI sein.

Der Senat hält sich mit seiner Rechtsauffassung auch im Rahmen desjenigen, was der Gesetzgeber als mögliche Lösungsmöglichkeiten für doppelt belegte Zeiten geregelt hat. Die Berücksichtigung von fiktiven Beitragszeiten zusätzlich zu bereits vorhandenen Beitragszeiten hat der Gesetzgeber in § 70 Abs. 2 SGB VI in der ab 01. Juli 1998 geltenden Fassung (Gesetz vom 16. Dezember 1997, BGBl I, S. 2998) vorgesehen. Insoweit bedarf es keiner analogen Anwendung dieser Vorschrift. Vielmehr wendet der Senat lediglich den Grundsatz an, dass sämtliche Beitragszeiten bei der Höhe einer Rente zu berücksichtigen sind, was im vorliegenden Fall in einer Form geschieht, die der Gesetzgeber kennt und bereits andernorts verwendet hat.

Das Sozialgericht hat die Klage danach zu Unrecht abgewiesen, weshalb die Berufung des Klägers erfolgreich sein muss. Das Urteil des Sozialgerichts ist aufzuheben und die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind antragsgemäß abzuändern. Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Der Senat hat die Revision zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG erfüllt sind. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung.
Rechtskraft
Aus
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