L 10 R 3634/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 3 R 785/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 3634/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine Anrechnungszeit im Sinne einer unvermeidbaren Zwischenzeit liegt nicht vor, wenn die Ausbildungspause zwischen Schulabschluss und Beginn der Ausbildung zwar allein auf Ausbildungsorganisatorischen Maßnahmen beruht, der Zeitraum jedoch weit über vier Monate beträgt (im konkreten Fall: mehr als acht Monate).
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 7. Juli 2005 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Anerkennung versicherungsrechtlicher Zeiten.

Die am 1947 geborene Klägerin schloss am 20. Juli 1965 die Mittelschule ab. Vom 30. August 1965 bis 25. Februar 1966 absolvierte sie ein Pflegepraktikum im Krankenhaus L./D., vom 1. April 1966 bis 27. März 1968 (Abschlussprüfung) eine Ausbildung zur medizinisch-technische Assistentin (MTA) an der städtischen Lehranstalt für medizinisch-technische Assistentinnen K. (A.). Das Pflegepraktikum war generell Voraussetzung für diese Ausbildung und die Vollendung des 18. Lebensjahres speziell für die Ausbildung an dieser Schule, weil diese für eine Ausbildung jüngerer Schüler nicht die entsprechende Sondergenehmigung nach § 22 Abs. 2 der Röntgenverordnung besaß.

Auf Antrag der Klägerin vom 5. September 2003 stellte die Beklagte mit Bescheiden vom 6. Oktober und 6. November 2003 sowie Widerspruchsbescheid vom 3. März 2004 die versicherungsrechtlichen Zeiten bis 31. Dezember 1996 fest und hob dabei den - nicht mehr vorliegenden - Bescheid vom 21. Februar 1991 über die Feststellung dieser Zeiten auf, soweit er nicht dem geltenden Recht entsprach. Dabei anerkannte die Beklagte (u.a.) die Zeit vom 6. November 1964 bis 20. Juli 1965 als Anrechnungszeit wegen Schulausbildung und die Zeit vom 19. April 1966 bis 27. März 1968 als Anrechnungszeit wegen Fachschulausbildung und lehnte die Anerkennung der Zeit vom 21. Juli 1965 bis 31. März 1966 ab. Wegen der Einzelheiten wird auf den Versicherungsverlauf auf Aktenseite 55 der Senatsakten Bezug genommen.

Die Klägerin hat am 15. März 2004 Klage bei dem Sozialgericht Ulm erhoben. Das Praktikum, so hat sie vorgetragen, sei Voraussetzung gewesen, um die Ausbildung als MTA aufnehmen zu können. Sie habe das Praktikum ohne ihr Verschulden nicht früher aufnehmen können. Auch der Beginn der Fachschulausbildung sei nicht früher, sondern jährlich nur zu einem bestimmten Termin möglich gewesen. Sie habe während der gesamten Zeit auch Halbwaisenrente wegen Fortdauer der Ausbildung erhalten. Durch ihren unentgeltlichen Einsatz in der Krankenversorgung während ihres Praktikums habe sie auch eine Leistung für die Solidargemeinschaft erbracht.

Mit Urteil vom 7. Juli 2005 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen, da im geltend gemachten Zeitraum keine Anrechnungszeit und auch sonst keine rentenrechtlich bedeutsamen Zeiten vorlägen.

Die Klägerin hat gegen das ihr am 19. August 2005 zugestellte Urteil am 11. August 2005 Berufung eingelegt. Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihre Angaben im Verwaltungs- und im Sozialgerichtsverfahren.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 7. Juli 2005 aufzuheben und die Bescheide vom 6. Oktober und 6. November 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. März 2004 dahingehend abzuändern, dass die Zeit vom 21. Juli 1965 bis 31. März 1966 als Anrechnungszeit anerkannt wird.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des Sozialgerichts und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung ist unbegründet.

Hinsichtlich der Zeit vom 26. Februar 1966 bis 18. April 1966 ist die Berufung schon deswegen unbegründet, weil die Ablehnung der Vormerkung dieser Zeit bestandskräftig (§ 77 SGG) geworden ist. Der Widerspruch der Klägerin erfasst die Ablehnung der Feststellung dieser Zeit - sie ist in den Versicherungsverläufen der angefochtenen Bescheide nicht enthalten - nicht, denn die Klägerin hat im Widerspruchsschreiben vom 27. Oktober 2003 nicht diesen Zeitraum, dafür ausdrücklich andere Zeiträume benannt. Dies entspricht der Klagebegründung (Schriftsatz vom 15. März 2004 und 27. Mai 2004). Erst mit Schriftsatz vom 22. März 2005 ist die Klage erweitert worden, bezogen auf den "Monat März 1966". Dies war jedoch lange nach Ablauf der einmonatigen Widerspruchsfrist und damit Eintritt der Bestandskraft.

Hat der Versicherungsträger das Versicherungskonto geklärt, stellt der Versicherungsträger die im Versicherungsverlauf enthaltenen und nicht bereits festgestellten Daten, die länger als sechs Kalenderjahre zurückliegen, durch Bescheid fest. Bei Änderung der dem Feststellungsbescheid zugrunde liegenden Vorschriften ist der Feststellungsbescheid durch einen neuen Feststellungsbescheid oder im Rentenbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben (§ 149 Abs. 5 Sätze 1 und 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VI]).

Gem. § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI sind Anrechnungszeiten solche Zeiten, in denen Versicherte nach dem vollendeten 17. Lebensjahr eine Schule, Fachschule oder Hochschule besucht oder an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme teilgenommen haben (Zeiten einer schulischen Ausbildung). Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen sind alle beruflichen Bildungsmaßnahmen, die auf die Aufnahme einer Berufsausbildung vorbereiten oder der beruflichen Eingliederung dienen (§ 58 Abs. 1 Satz 2 erster Teil SGB VI).

Die Zeit vom 30. August 1965 bis 25. Februar 1966, in der die Klägerin ein Praktikum im Krankenhaus L./D. absolviert hat, stellt keine solche Anrechnungszeit dar. Eine vierteljährige pflegerische Tätigkeit in einer Krankenanstalt vor Beginn des Lehrgangs ist zwar Voraussetzung der Ausbildung zur MTA (§ 9 Abs. 2 des Gesetzes über die Ausübung des Berufs der medizinisch-technischen Assistentin vom 7. Dezember 1958, BGBl I S. 981, § 9 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe c der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für medizinisch-technische Assistentinnen vom 7. Dezember 1960, BGBl I S. 874). Sie ist jedoch nicht in die Fachschulausbildung integriert und kann daher nicht als Teil einer Gesamtausbildung angesehen werden (vgl. BSG, Urteil vom 19. Juli 1963, 1 RA 282/61 in BSGE 19, 239; Urteil vom 30. März 1994, 4 RA 11/93).

Die Zeiten vom 21. Juli bis 29. August 1965 und vom 26. Februar bis 31. März 1966 können nicht als sogenannte unvermeidbare Zwischenzeiten nach der - durch die Rechtsprechung des BSG - erweiterten Auslegung des § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI anerkannt werden. Voraussetzung für die Anrechnung ist, dass die Zeit zwischen zwei rentenrechtlich erheblichen anrechenbaren Ausbildungszeiten liegt, generell unvermeidbar, organisationsbedingt typisch ist und dementsprechend häufig vorkommt, ferner, dass sie generell nicht länger als vier Monate andauert (BSG, Urteile vom 10. Februar 2005, B 4 RA 26/04 R, SozR 4-2600 § 58 Nr. 4, und B 4 RA 32/04 R). Die von der Klägerin geltend gemachten Zeiten liegen aber nicht zwischen zwei rentenrechtlich erheblichen anrechenbaren Ausbildungszeiten, da die Zeit des Praktikums im Krankenhaus L./D., wie ausgeführt, keine Anrechnungszeit darstellt. Die Zeit zwischen dem Ende der Schulausbildung und einem nicht versicherungspflichtigen Praktikum stellt keine unvermeidbare Zwischenzeit dar (BSG, Urteil vom 5. Dezember 1996, 4 RA 101/95).

Nach diesen Kriterien kann aber auch nicht die gesamte von der Klägerin geltend gemachte Zeit vom 21. Juli 1965 bis 31. März 1966 als unvermeidbare Zwischenzeit anerkannt werden. Zwar ist nach der neueren Rechtsprechung des BSG (BSG, Urteile vom 10. Februar 2005, a. a. O.) eine längere - über vier Monate hinausgehende - Unterbrechung unschädlich, wenn der Ausbildungswillige durch staatliche Anordnung ("von hoher Hand") gehindert war, das Studium (hier: die Fachschulausbildung) zu einem früheren Zeitpunkt aufzunehmen. Anerkannt ist dabei der Fall, wenn die Ausbildungspause zwischen Schulabschluss und Beginn der Ausbildung auf abstrakten ausbildungsorganisatorischen Maßnahmen der Ausbildungsträger beruht und der Ausbildungswillige seine Ausbildung zum nächstmöglichen Termin aufnimmt, wobei in den entschiedenen Fällen die vier Monate nur um wenige Tage überschritten waren (BSG, a. a. O.). Selbst wenn man zu Gunsten der Klägerin unterstellt, dass es für sie - wegen des feststehenden Ausbildungsbeginns im Frühjahr einerseits und infolge ihres Alters und den Vorgaben der Röntgenverordnung andererseits - keinen früheren Ausbildungsbeginn gab, ist die zeitliche Lücke von mehr als acht Monaten zu weit von dem aus § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a Bundeskindergeldgesetz (BKGG) abgeleiteten Wert von vier Monaten entfernt, der nach der Rechtsprechung des BSG weiterhin "als Anhalt" (BSG, a. a. O.) für den Umfang des bei typisierender Betrachtungsweise auszugleichenden und von der Versichertengemeinschaft als Solidarleistung zu tragenden rentenversicherungsrechtlichen Nachteils dienen soll. Eine Differenzierung danach, ob das Praktikum als solches in einem Krankenhaus seinem Inhalt nach der Allgemeinheit (was mit der Solidargemeinschaft der Rentenversicherten nicht gleichzusetzen ist) dienlich war, sieht die Rechtsprechung des BSG nicht vor.

Das von der Klägerin vorgelegte Urteil des Bundesfinanzhofs vom 15. Juli 2003, VIII RR 77/00, veröffentlicht in BFHE 203, 98, ist zu einer gänzlich anderen rechtlichen Frage ergangen und daher auf den hier zu entscheidenden Fall nicht übertragbar. Dass die Klägerin nach ihrem Vortrag in dem von ihr geltend gemachten Zeitraum Halbwaisenrente bezogen hat und dies nach Vollendung des 18. Lebensjahres eine berufliche Ausbildung bzw. eine Zwischenzeit zwischen solchen Ausbildungen voraussetzt (heute: § 48 Abs. 4 SGB VI), legt höchstens die Frage nahe, ob der damalige Rentenbezug zu Recht erfolgte, präjudiziert aber die hier zu entscheidende Frage nicht.

Weitere Tatbestände, die zur Anrechnung der geltend gemachten Zeit als rentenrechtlich irrelevant berechtigen, kommen nicht in Betracht, die Übergangsvorschrift des § 247 Abs. 2a SGB VI schon wegen der zeitlichen Beschränkung bis 30. Juni 1965 nicht.

Dass die angefochtenen Bescheide hinsichtlich der streitigen Zeiträume der Klägerin günstige Feststellungen im Bescheid vom 21. Februar 1991 aufgehoben haben, was im Hinblick auf die Bestimmtheit des die Aufhebung vornehmenden Verfügungssatzes im Bescheid vom 6. Oktober 2003 nähere Prüfungen des Gerichts notwendig machen würde (vgl. BSG, Urteil vom 30. August 2001, B 4 RA 114/00 R, in SozR 3-2600 § 149 Nr. 6; Urteil vom 30. März 2004, B 4 RA 36/02 R in SozR 4-2600 § 149 Nr. 1), ist nicht vorgetragen und ist für den Senat - weil der Versicherungsverlauf zum Bescheid vom 21. Februar 1991 den Beteiligten nicht mehr vorliegt und von der Beklagten nicht mehr wiederhergestellt werden kann - auch sonst nicht erkennbar.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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